KONSTRUIERTE GESCHICHTE E1/2 g Schaab Der deutsche Historiker Jochen Bleicken über die Überlieferung zur frühen römischen Geschichte (1992): 2 4 6 8 10 Die auf uns gekommenen Nachrichten zur Königszeit (8. bis 6. Jahrhundert v. Chr.) und zur frührepublikanischen Geschichte (5. und 4. Jahrhundert v. Chr.) entstammen zum weitaus größten Teil den Werken der annalistischen (von annales, weil die Ereignisse Jahr für Jahr berichtet wurden) Historiker aus der hohen und späten Republik (seit dem Ende des 3. Jahrhunderts, Schwerpunkt jedoch in der augusteischen Zeit)1. […] Die annalistische Tradition konnte sich jedoch für ihre Berichte auf so gut wie keine vertrauenswürdigen Quellen stützen: sie ist aus dem Bewusstsein einer Spätzeit konstruierte Geschichte und darum auch nur für die Spätzeit interessant. Dieser für die Rekonstruktion der älteren römischen Geschichte fundamentale Tatbestand ist erst im 19. Jahrhundert anerkannt worden, wird aber trotz grundsätzlicher Anerkennung in der modernen Forschung nicht immer angemessen berücksichtigt. […] 12 14 16 Da die annalistische Geschichtsschreibung für eine Rekonstruktion der älteren republikanischen Zeit so gut wie ganz ausfällt, müssen wir das Geschehen aus einer Summe von Einzelnachrichten der verschiedensten Quellengattungen rekonstruieren. Es kommen hier in Betracht: 1. Einzelne Dokumentarquellen (z.B. im direkten Wortlaut überlieferten Texte der XIITafeln2). 2. Archäologische Quellen (z.B. Grabungsberichte über die ältesten Tempel und die Mauer Roms). 3. Sprachgeschichte (z.B. Rückführung von Wörtern auf ältere Bedeutungszusammenhänge) und Namenskunde (besonders zu Orts- und Personennamen). 4. Rückschlüsse aus Institutionen und Rechtsgewohnheiten der späteren Zeit auf ältere Verhältnisse (z.B. aus dem Aufbau und der Begrifflichkeit der verschiedenen Typen von Volksversammlungen und aus dem Familien- und Erbrecht). 5. Nachrichten aus griechischen Quellen über die altitalische Geschichte (z.B. Berichte über die Westkolonisation der Griechen in Südfrankreich, Unteritalien und Sizilien vom 8. bis 6- Jahrhundert, über italische Verhältnisse im Zusammenhang zur Überlieferung der syrakusanischen3 Geschichte zur Zeit Dionysios I. oder zur Geschichte des Königs Pyrrhos4). 18 20 22 24 26 28 30 aus: Jochen Bleicken: Geschichte der römischen Republik. München 1992. Aufgaben: 1. Umschreibe mit eigenen Worten, worin nach Bleicken das grundsätzliche Dilemma für die Rekonstruktion der frühen römischen Geschichte besteht. 2. Welche Konsequenzen hat dies für die Beschäftigung mit der römischen Geschichte? Gemeint sind in erster Linie die antiken Historiker Livius, Dionysios von Halikarnassos, Diodor und Plutarch. Zwölftafelgesetz: Gesetzessammlung um 450 v. Chr. in Rom; erste schriftliche Fixierung der sonst nur mündlich tradierten Gesetze 3 Syrakus ist eine Stadt auf Sizilien 4 Pyrrhos (319-272 v. Chr.)war der König des Volksstamms der Molosser, einem Volk im Süd-Westen der Balkaninsel 1 2