Dietrich Klose Führung Knochenhaueramtshaus – Erläuterungen zum Wiederaufbau aus: Achim Hubel (Hrsg.): Arbeitskreis Theorie und Lehre der Denkmalpflege e.V. Dokumentation der Jahrestagung 1989 in Hildesheim. Thema: Denkmalpflege zwischen Konservieren und Rekonstruieren. Bamberg 1993, S. 74–78 KLOSE: Die Rekonstruktion des Hildesheimer Marktplatzes begann mit der Südseite. Die Stadtsparkasse wollte die Fassade des Wedekindhauses aus Kostengründen nicht rekonstruieren; die Bürger – alles sehr honorige Leute – bildeten eine Bürgerinitiative und spendeten der Stadtsparkasse innerhalb von 6 Wochen 600.000.– DM. Das begann mit einer einzelnen Mark – es wurde in Schulen gesammelt – und ging bis zu Spenden von 100.000.– DM von der Industrie. Ich sage das nur stichwortartig: Insgesamt haben die Hildesheimer Bürger für die Rekonstruktion zwei Millionen DM gespendet. Wir stehen hier vor dem Knochenhaueramtshaus und dem Bäckeramtshaus. Das Bäckeramtshaus hat so, wie es jetzt steht, in der Geschichte nie ausgesehen. Nach der Errichtung – es handelte sich um einen spätbarocken / frühklassizistischen Bau – wurde es farbig übermalt mit Steinstruktur. Später legte man das Fachwerk frei. Dann entfernte man aber diese sehr schönen Holzarkaden. Wir haben uns nun auf eine Phase festgelegt, indem wir die Holzarkaden und das Gebäude so in seinem Skelett rekonstruierten, wie es ursprünglich gebaut worden war, einschließlich der Fenster unten. Wir werden es jedoch nicht farbig überfassen, sondern in der Fachwerkstruktur an das Knochenhaueramtshaus anpassen. Das Bäckeramtshaus soll sich eigentlich nur freundlich zu seinem Nachbarn verhalten. Das Knochenhaueramtshaus ist bis zum First 29.00 m hoch, die einzelnen Geschosse kragen 2.50 m von der Vorderkante des Portals bis zur Vorderkante des Dachfirstes aus. Die Fassade wurde mit Hilfe der Photogrammetrie rekonstruiert. Sie lieferte aber nur die Basis, auf der dann die Fassade entwickelt wurde. Letztendlich wurde im Maßstab 1:1 rekonstruiert, denn das Holz aus dem Sägewerk – das gleiche Stück! – ist auf dem Abbundplatz schon wieder anders und nochmals anders auf der Baustelle, und es ist wieder anders, wenn es eingebaut wird. Holz ist eben, wie wir sagen, ein lebendiger Baustoff. Und so gingen wir schließlich vor wie unsere Vorfahren auch. Es wurde von Geschoß zu Geschoß ein neues Aufmaß gemacht und auf dem Abbundboden dann wieder neu 1:1 aufgetragen; das bedeutete eine sehr intensive Zusammenarbeit zwischen Handwerker und Architekt. Die Schnitzarbeiten wurden auf der Basis von Photographien rekonstruiert. Nach den Photographien wurden Tonmodelle hergestellt und nach den Tonmodellen wurde geschnitzt. Das sehr wertvolle Engelskonzert, das Sie unten sehen, ist zweimal geschnitzt worden. Wir haben die Teile ausgebaut und noch einmal schnitzen lassen. In der Literatur ist immer die Rede von dem Meister des Knochenhaueramtshauses. Wenn Sie sehr genau hinsehen, werden Sie feststellen, daß es den Meister nicht gegeben hat, sondern es waren viele Meister. Sie hatten sehr unterschiedliche Handschriften. Nun gehen wir hinein. Sie betreten jetzt ein Gebäude, das nach unseren Normen ein Hochhaus ist, das erste Hochhaus in reiner Holzkonstruktion, das seit 1529 gebaut wurde. Insgesamt sind hier 400 cbm Eichenholz verbaut. Alle Verbindungen sind traditionelle Zimmermannsverbindungen; die Statik dafür errechnete die Arbeitsgemeinschaft der Kollegen DenkmalDebatten – Was ist ein Denkmal? Und wie geht man mit ihm um? Grundlagentexte auf www.denkmaldebatten.denkmalschutz.de Dietrich Klose: Führung Knochenhaueramtshaus – Erläuterungen zum Wiederaufbau aus: Arbeitskreis Theorie und Lehre der Denkmalpflege e.V. Dokumentation der Jahrestagung 1989 in Hildesheim. Thema: Denkmalpflege zwischen Konservieren und Rekonstruieren. Bamberg 1993, S. 74–78 Prof. Kessel, Dr. Hinkes und Dr. Speich; Dr. Hinkes steht hier. Die Grundlagenuntersuchungen wurden in der Fachhochschule gemacht. Hier wurde im Labor für Holztechnik experimentell nachgewiesen, daß erstens das Eichenholz viel mehr trägt als unsere DIN zuläßt, und daß zweitens die Verbindungen mit Holznägeln so viel tragen, wie eine Verbindung mit Eisenblechen und Metalldübeln. Allerdings sind die Feuerwiderstandseigenschaften bei Eichenholz natürlich hervorragend und wir hätten das Knochenhaueramtshaus in Metall- / Holzverbindungen nicht rekonstruieren können. Herr Hinkes wird dazu auch noch kurz etwas sagen. Insgesamt ist von dieser Rekonstruktion eine Innovation ausgegangen und ich glaube nicht zu übertreiben, Herr Hinkes, wenn ich sage, die Holzstatik nach dem Knochenhaueramtshaus sieht anders aus als vorher, stimmt das? HINKES: Wir müssen nur neue Möglichkeiten bekommen, so etwas zu verwirklichen. KLOSE: Wie Sie sehen, ist das Knochenhaueramtshaus in der Endphase des Aufbaus: Betreten auf eigene Gefahr! Es wurde rekonstruiert oder wiederaufgebaut auf dem entdeckten ursprünglichen Grundriß. Bei dem zweimaligen Umbau durch die Stadt (1853 und 1910) ist es im Inneren völlig verändert worden. Das können Sie dann vor allem oben sehen. Es wurde hier eine Durchfahrt eingebaut; die ursprünglich vorhandene große Halle ist beseitigt worden. Sie war die ursprüngliche Durchfahrt, jetzt aufgenommen (und angedeutet) durch die Galerie. Diese Portale an den Ost- und Westseiten sind Ergebnisse der Umbauarbeiten des 19. Jahrhunderts. Wir rekonstruieren also 19. Jahrhundert und 1529. Wir errichten die Idee des Knochenhaueramtshauses, damit wir aus dieser ganzen Denkmaldiskussion herauskommen, sie interessiert uns überhaupt nicht! Wir haben die Scharreneinteilung wieder aufgenommen und die Ständerkonstruktion errichtet. Die Wiederaufnahme des ursprünglichen Prinzips der Scharrenkonstruktion mit Queraussteifung und großen Ständern und der Hallenkonzeption, die sich in den einzelnen Geschossen dann in Form von Dielen fortsetzt, ermöglichte es, ein eindeutiges statisches System zu entwickeln. Nur auf dieser Basis, d. h. also durch die Statik, ist im Grunde wieder die Konzeption bestätigt worden. Jetzt gehen wir nach oben. Ich wollte Ihnen hier kurz die Entwicklung skizzieren, die zur Rekonstruktion oder zur Wiederherstellung, zum Wiederaufbau oder zum Nachbau, wie Sie das auch immer nennen wollen, von Bäckeramtshaus und Knochenhaueramtshaus geführt hat. HUBEL: Wie nennen Sie es denn? KLOSE: Das ist uns völlig gleich, wie Sie das nennen. Wir sagen es einmal so: Wenn wir Leute haben, die aus dem ganzen Ostblockbereich kommen, sagen wir Rekonstruktion. HUBEL: Ja, aber die jeweiligen Begriffe sind doch in ihrer Bedeutung definiert! Seite 2 DenkmalDebatten – Was ist ein Denkmal? Und wie geht man mit ihm um? Grundlagentexte auf www.denkmaldebatten.denkmalschutz.de Dietrich Klose: Führung Knochenhaueramtshaus – Erläuterungen zum Wiederaufbau aus: Arbeitskreis Theorie und Lehre der Denkmalpflege e.V. Dokumentation der Jahrestagung 1989 in Hildesheim. Thema: Denkmalpflege zwischen Konservieren und Rekonstruieren. Bamberg 1993, S. 74–78 KLOSE: Darauf werde ich noch eingehen; es ist uns trotzdem völlig egal, wie Sie das nennen. HUBEL: Der Unterschied ist einfach der, daß man von Rekonstruktion sprechen kann, wenn der verlorene Bau gut dokumentiert ist. Wiederaufbau bedeutet jedoch eine Interpretation bei einer nicht verläßlichen Quellenlage. KLOSE: Sie können einen Holzbau nie so rekonstruieren, daß er aussieht wie ein Passat und der zweite Passat. Ich habe vorhin dargelegt, wie sehr sich Holz ständig verändert und insofern gibt es in dem Sinn überhaupt gar keine Rekonstruktion. Wir können immer nur die Idee eines Gebäudes wiedererrichten – und das ist ja bei der Michaeliskirche klargeworden; darum geht es ja eigentlich. Am Anfang stand ein gutachterlicher Wettbewerb, an dem Architekten wie G. Böhm, H. Deilmann u.a. teilgenommen haben. Fast alle Teilnehmer an diesem städtebaulichen Gutachterverfahren schlugen vor, die Rekonstruktion des Knochenhaueramtshauses zumindestens zu erwägen; manche sagten sogar, sie sei unabdingbar! Auf dieser Schautafel sehen Sie die Lösung von Gottfried Böhm. Er schlug vor, die Fassade des Knochenhaueramtshauses in vereinfachter Form vor das Hotel Rose zu setzen. Dies erscheint uns aus unserer heutigen Sicht nicht mehr so ganz verständlich, aber es war ein entscheidender Schritt dazu zu sagen: Wenn schon so, dann lieber ganz richtig. Hier sehen sie den Wettbewerbsbeitrag von Harald Deilmann; er sagte: "Stellt doch Rohrgerüste vor die bestehenden Fassaden, und dann soll der Bürger entscheiden, wo die höhere bauliche und städtebauliche Qualität liegt. Wenn er zu dem Ergebnis kommt, daß die alten Fassaden und der alte Marktplatz die höhere Qualität haben, dann sollen sie rekonstruiert oder wieder aufgebaut oder nachgebaut werden". Eigentlich hat das Modell gereicht. Hier unten auf dieser Tafel ist der Weg dargestellt, den die Polen konsequent gegangen sind, von dem wir meinen, daß er richtig war; das hat etwas zu tun mit der nationalen Identifikation, mit ihrer Kultur usw.; aber alle diese Gesichtspunkte gelten hier ja auch. Deshalb haben wir diesen Weg beschritten. Ich sagte schon, daß das Knochenhaueramtshaus vor der Zerstörung völlig anders aussah als es jetzt rekonstruiert oder wiederaufgebaut worden ist. Die Umbaumaßnahmen hatten seinerzeit dazu geführt, daß eine Passage im Zentrum entstanden war, eine verhältnismäßig schmale Durchfahrt, und daß wir in dem linken Teil freistehende Stützen hatten, große Säulen durch zwei Geschosse hindurch mit einer Galerie. Das Zwischengeschoß war in diesem Bereich herausgenommen und im Dachgeschoß eine große Binderkonstruktion eingefügt worden, die dann die Lasten von oben abfing; damit konnte man dann im 1. Obergeschoß den großen Gildesaal quer gegen die Konstruktion einrichten. An alten Dokumenten gab es vor allem den Plan von Schäfer aus den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts, er hat nur gezeichnet und nichts geschrieben. Dieser Plan zeigt, daß das Knochenhaueramtshaus ursprünglich im Zentrum eine Halle hatte. Für die Halle spricht natürlich die Ständerkonstruktion. Diese ist entwickelt worden, um die Halle bauen zu können; das Zwischengeschoß wurde in diese Halle geschoben. Über diesen Punkt entspann sich Seite 3 DenkmalDebatten – Was ist ein Denkmal? Und wie geht man mit ihm um? Grundlagentexte auf www.denkmaldebatten.denkmalschutz.de Dietrich Klose: Führung Knochenhaueramtshaus – Erläuterungen zum Wiederaufbau aus: Arbeitskreis Theorie und Lehre der Denkmalpflege e.V. Dokumentation der Jahrestagung 1989 in Hildesheim. Thema: Denkmalpflege zwischen Konservieren und Rekonstruieren. Bamberg 1993, S. 74–78 dann die Diskussion mit der Denkmalpflege. Das Knochenhaueramtshaus hatte immer mit der Denkmalpflege zu tun. Die Denkmalpfleger sagten – d. h. man muß hier differenzieren: Einige Denkmalpfleger sagten, daß das, was Herr Schäfer gezeichnet hat, nur eine Rekonstruktionsidee sei. Aber es gab noch eine zweite ausgewiesene Rekonstruktionsidee von Lachner. Er geht davon aus, daß im Zentrum des Hauses tatsächlich diese Durchfahrt vorhanden war und die Scharren an ihr angeordnet waren. Hier sehen Sie nun eine Gegenüberstellung aller zu Beginn der Arbeit aufgetriebener Pläne; wir stellten fest, daß sie alle in den Querachsen übereinstimmen, ob das nun der Schäfer'sche Plan ist oder der Zeller'sche Plan oder ein Aufmaß der Stadt Hildesheim – alle stimmen sie in der Querachse überein – nur Lachners Plan nicht. Dies war dann der Anlaß zu sagen: Stellen wir also den Lachner in Frage. Die Rekonstruktion ging dann so vor sich, daß wir den Grundriß neu entwickeln mußten. Es fiel mir auf: Wenn ich die große Richtung verbinde, das Ostertor und den InnersteÜbergang, dann liegt diese Gerade – das ist eine theoretische Linie – als Tangente an den Schrägen von Bäckeramtshaus und Knochenhaueramtshaus. Wenn ich diese Linie übertrage, sehen Sie, daß diese Linie mit dem später angelegten Marktplatz eigentlich nichts zu tun hat; folglich sind die Grundstücke älter als der Marktplatz. Da sich die mittelalterlichen Häuser aus und auf ihren Grundstücken neu entwickelten, gingen wir davon aus, daß wir einen alten, d. h. den ersten Katasterplan, der noch eine einigermaßen ungestörte Situation zeigt, zugrunde legen müssen, um dann daraus den Grundriß des Knochenhaueramtshaus zu entwickeln. Und wenn ich die alten Baufluchten verlängere, dann ergeben sich daraus die Hallenwände, und wenn ich diese wieder in Beziehung zu dieser großen Richtung setze, dann stimmt alles überein. Das war dann der Punkt, der uns veranlaßte, den Grundriß, den wir zuerst nach dem Schäfer'schen Plan entwickelt hatten, noch einmal zu korrigieren. Danach war plötzlich die Zeichnung von Domenico Quaglio, die sich im Römermuseum befindet, interpretierbar. Sie war immer als unrichtig dargestellt worden. Sie zeigt nämlich den Hoken und ein Gebäude im Hintergrund mit einer großen Halle, die sich zum Hoken hin öffnet, und man sieht auch, daß die Fassaden der Hokenbebauung direkt übergehen in die Wände der Halle. Also war unsere Rekonstruktions- oder Wiederaufbauidee richtig. Später, als wir schon im Bau waren, hat Frau Dr. Stein im Londoner Viktoria und Albert-Museum diese Zeichnung von A.W.N. Pugin entdeckt, die genau die Zeichnung von Quaglio bestätigt. Es gibt aber noch ein anderes Dokument, ein Gutachten des Landbauinspektors Wilhelm Mey aus dem Jahre 1853, das besagt, daß das Gebäude doch gut nutzbar sei; es hat im Zentrum eine große Halle und eine Höhe von soundsoviel Hannover'schen Fuß; das entspricht umgerechnet genau der Höhe in Metern, die wir dann photogrammetrisch ermittelt haben. Also war unser Ansatz richtig. Zu solchen Wiederaufbau- oder Nachbaumaßnahmen ist demnach zu sagen: Der Architekt muß die Idee des Gebäudes erfassen und aus der Idee des Gebäudes heraus muß er arbeiten, das unterscheidet ihn vom Kunsthistoriker. HUBEL: Sie müssen bitte erklären, was die Idee eines Gebäudes ist, weil eigentlich eine Sache keine Idee haben kann. Sie können höchstens von der Idee des Architekten des Gebäudes sprechen, dann wäre es wichtig, sich mit der Person dieses Architekten zu beschäftigen. Seite 4 DenkmalDebatten – Was ist ein Denkmal? Und wie geht man mit ihm um? Grundlagentexte auf www.denkmaldebatten.denkmalschutz.de Dietrich Klose: Führung Knochenhaueramtshaus – Erläuterungen zum Wiederaufbau aus: Arbeitskreis Theorie und Lehre der Denkmalpflege e.V. Dokumentation der Jahrestagung 1989 in Hildesheim. Thema: Denkmalpflege zwischen Konservieren und Rekonstruieren. Bamberg 1993, S. 74–78 KLOSE: Das ist der Punkt, über den wir uns nie verständigen werden. Für den Architekten folgt das Gebäude einer Idee. HUBEL: Ja, aber wessen Idee? KLOSE: Von den Leuten, die es gebaut haben, und vor allen Dingen aus der langen Entwicklung, die vor dem Bau dieses Hauses gelegen hat, als nämlich der Ständerbau, der Hallenbau, sich in Jahrhunderten, vielleicht Jahrtausenden, entwickelten. Und damit schälte sich die Idee heraus, und wir erfassen diese Idee; für uns Architekten hat ein Gebäude immer eine Grundidee, mit der wir arbeiten. Nun können Sie auch sagen, das Ganze muß einer Philosophie – wie man heute sagt – folgen. Ich würde dies aber nicht so sehen, sondern hier doch eher von der Idee sprechen und davon, daß man das Wesen eines Gebäudes wiedererrichten muß. Das verstehen die Handwerker, das verstehen die Bildhauer, das verstehen ZenMeister; Schwierigkeiten haben Wissenschaftler, das weiß ich. Es ist vielleicht in diesem Zusammenhang interessant, daß ich mit den Holzbildhauern nie Verständigungsschwierigkeiten hatte, vielleicht auch, weil der Koordinator in der Tat ein Zen-Anhänger ist, kein Japaner, ein Deutscher. Wir haben, nachdem zunächst behauptet wurde, es gebe keine Pläne des Knochenhaueramtshauses, aufgrund der Unterlagen darauf geschlossen, daß es doch Pläne bei der Stadt geben müsse, zumindest aus der Umbauphase von 1910. Als ich damals zwischen Weihnachten und Neujahr in das Hochbauamt ging und alles umdrehte, kamen einen Tag nach Weihnachten dicke Mappen zum Vorschein, die uns die Umbaupläne des Knochenhaueramtshauses aus dem Jahre 1910 zeigten. Wir stellten fest, daß diese Umbaupläne alle nicht stimmten, was die Gesamtheit des Grundrisses anbelangte. Das Knochenhaueramtshaus war ja eingebaut, und man konnte wahrscheinlich mit den damaligen Methoden ein ordentliches Bauaufmaß nicht herstellen. Es gibt im Knochenhaueramtshaus keinen rechten Winkel. Die Folge davon ist, daß alle Maßketten nicht stimmten. Wir haben dann improvisiert und das Beste aus diesem Aufmaß gemacht, und es ist dann dieser Grundriß entstanden. Sie sehen, daß er der Realität sehr nahe kam. Die letzte Korrektur hat uns dann die Analyse der städtebaulichen Situation gebracht. In dem Augenblick, als wir sie hatten, waren auch die Maßketten aus dem Jahre 1910 wieder stimmig. Es gab natürlich noch eine Bestätigung, das war der Bau selbst: Als sich nämlich die Bagger in der ursprünglichen Situation über das Hotel Rose hinaus nach Norden vorarbeiteten, kam in der Tat die alte Kellermauer wieder zum Vorschein! Nun hatten wir einen ganz sicheren Anhaltspunkt, wir konnten von der Kellermauer aus noch einmal unsere Baupläne überprüfen und siehe da, wir brauchten sie nicht mehr zu korrigieren. Das ist wiederum ein Beleg dafür, daß man automatisch zu der richtigen Lösung kommt, wenn man die Idee eines Bauwerkes erfaßt. Ich kann Ihnen noch ein Beispiel nennen: Im Zwischengeschoß sehen Sie, daß eine Brücke quer herüberläuft. Diese Brücke hat mir sehr viel Kopfzerbrechen bereitet. Ich habe gedacht, eigentlich ist sie ja so nicht richtig. Seite 5 DenkmalDebatten – Was ist ein Denkmal? Und wie geht man mit ihm um? Grundlagentexte auf www.denkmaldebatten.denkmalschutz.de Dietrich Klose: Führung Knochenhaueramtshaus – Erläuterungen zum Wiederaufbau aus: Arbeitskreis Theorie und Lehre der Denkmalpflege e.V. Dokumentation der Jahrestagung 1989 in Hildesheim. Thema: Denkmalpflege zwischen Konservieren und Rekonstruieren. Bamberg 1993, S. 74–78 Sie paßt nicht ganz zum Typus, aber sie mußte dort sein, auch aus funktionellen Gründen. Deswegen haben wir die Konstruktion der Brücke mit der Galerie, die wir ja auch brauchten, um in der Innenarchitektur die beiden Portale wieder in Bezug zu setzen und nachvollziehbar zu machen, was das vorige Jahrhundert hier geschaffen hatte, so vorgenommen, daß sie wirklich nachträglich eingebaut erscheint. Wenn eine spätere Generation befindet, das sei nun doch nicht das Richtige, könnte man sie wieder wegnehmen. Als aber dann die Zeichnung von Pugin auftauchte, da konnten wir sehen, daß diese Brücke tatsächlich fast an der gleichen Stelle bestand, wie wir sie hier eingebaut haben. Um jetzt noch einmal auf das Problem "automatisch" einzugehen – Sie sehen, daß es mir sehr wesentlich ist – und Sie kennen den Spruch: Zeichne Bambus, zeichne so lange Bambus, bis du selbst Bambus wirst, und dann vergiß alles und zeichne Bambus. So ist es mir auch hier bei dieser Arbeit ergangen. Denken Sie Knochenhaueramtshaus, so lange, bis Sie selbst Knochenhaueramtshaus werden. HUBEL: Ich finde es bewundernswert, wie sicher Sie sind. Es ist vielleicht auch gar nicht so sehr dieses Problem, welches uns hier bewegt. Man muß nur bedenken, daß die Architekten, die nach 1945 etwa St. Michael wiederaufbauten, wohl genau so dachten, ottonische Architektur des 11. Jahrhunderts vollkommen im Kopf zu haben, und danach zu bauen. Wir wissen heute, daß vieles überhaupt nicht stimmte. Von daher stellt sich die Frage, wie weit der Versuch einer solchen Identifizierung je gelingen kann, und ob Sie mit Ihrem Bau hier unter allen Umständen diesen Automatismus überhaupt vertreten müssen, heute im Jahre 1989. Nur den Genius des Mittelalters zu zitieren, ist Unsinn, denn den gibt es nicht mehr. Man glaubte im 19. Jahrhundert, daß man die Vergangenheit heraufbeschwören könnte, mit Neubauten im Stil früherer Zeiten! Doch konnte man es damals nicht und kann es heute nicht. KLOSE: Wir wollten die Idee, darum geht es mir. Die Leute, die die Michaeliskirche wiederaufbauten, sagten mit Sicherheit, so war es nicht; aber die Leute, die die Michaeliskirche wiederaufbauten, handelten selbstverständlich genau so, wie wir hier auch gehandelt haben. Das verstehen wir. Deswegen sage ich auch, daß das, was wir hier wiedererstehen lassen wollten, die Idee dieses Gebäudes ist. Alles das kann ich natürlich analysieren. Ich kann sagen, was die Idee ist: Es ist die Halle, es ist der Ständerbau, es ist das Fortsetzen des Hallentypus, des Gelenk-Prinzips in allen Geschossen, was Sie jetzt hier auch im Dachgeschoß sehen. Es sind natürlich die Konstruktionstechnik, die Knotenpunkte, es ist tatsächlich auch die Dimension. Glücklicherweise wurde uns durch das Bauaufmaß der Stadt die Ständer- und Riegel-Dimension in etwa überliefert. Hier sind es also die Dimensionen, die ganz besonders wichtig sind und das Typische dieses Gebäudes ausmachen. Und wenn Sie sich an der Idee stoßen – ich versuche ja eine Verständigung – dann kann ich vielleicht auch sagen: der Typus. Und das ist etwas, glaube ich, was jeder Architekt und Städtebauer versteht, denn darüber reden wir eigentlich immer in der Stadt- oder Bauplanung. Das ist vielleicht der Nenner, auf den wir uns einigen können! Seite 6 DenkmalDebatten – Was ist ein Denkmal? Und wie geht man mit ihm um? Grundlagentexte auf www.denkmaldebatten.denkmalschutz.de Dietrich Klose: Führung Knochenhaueramtshaus – Erläuterungen zum Wiederaufbau aus: Arbeitskreis Theorie und Lehre der Denkmalpflege e.V. Dokumentation der Jahrestagung 1989 in Hildesheim. Thema: Denkmalpflege zwischen Konservieren und Rekonstruieren. Bamberg 1993, S. 74–78 Diese Photos hier geben einen Einblick in die Rekonstruktionsarbeit; so sehen Sie, wie wir bei den Schnitz- und Bildhauerwerken gearbeitet haben. Wir hatten auf der einen Seite das Photo und auf der anderen den Tonblock. Zuerst wurde im Tonblock die Form angelegt, wie Sie hier sehen. Nun können Sie natürlich fragen, wie kann ich von dem Photo zu dieser Form kommen? Die Maße der Kleidung der Figuren z. B., die hatten wir in etwa durch die Photogrammetrie. HUBEL: Wieso Photogrammetrie? Wurde das Photo photogrammetrisch vermessen? KLOSE: Ja, es wurde photogrammetrisch vermessen, und zwar im Institut für Photogrammetrie an der TH Braunschweig. Es gibt Photos vom Knochenhaueramtshaus, sie befinden sich im Zentralen Meßbildarchiv in Ostberlin, dem Archiv mit den Unterlagen der alten preußischen Meßbildstelle. Diese Photos wurden seinerzeit zum Zwecke einer späteren photogrammetrischen oder zeichnerischen Rekonstruktion von Gebäuden gemacht, die eventuell zerstört werden könnten. Die Frage, ab wann überhaupt von Experten eine Rekonstruktion in Frage gestellt wird und die Berechtigung dazu, wäre ein Thema für sich: Es gibt einen Schriftverkehr mit dem damaligen Provinzialkonservator, der 1944/45 sagte, daß man das Knochenhaueramtshaus nicht abzubauen und auszulagern bräuchte; wenn es zerstört würde, dann würde es im Original, so wie es 1529 war, wiederaufgebaut werden; denn es war ja im 19. Jahrhundert sehr stark entstellt worden. Diese Auffassung war einfach selbstverständlich. Die ganze Diskussion um den Wiederaufbau setzte ja erst später ein. Insofern hat mich das, was Herr Haager sagte, außerordentlich beeindruckt: nämlich, daß auch er eigentlich einmal davon ausging, daß das Knochenhaueramtshaus wiederentstehen sollte, was schließlich 1980 auch alle unsere Architektengrößen sagten, angefangen von Ungers über Böhm usw. Wenn die Hildesheimer Bürger also nun diesen Schritt getan haben, dann haben sie ihn in diesem Fall aufgrund der Empfehlungen eines Expertengremiums getan! Aber nun noch einmal zurück zur Photogrammetrie. Meydenbauer war der Begründer der Preußischen Meßbildanstalt. Er machte mit seiner großen Plattenkamera diese Aufnahmen, die wir jetzt zugrunde legen konnten, um die Fassade des Knochenhaueramtshauses photogrammetrisch wieder zu rekonstruieren. Mit Hilfe des Strahlensatzes konstruiert man die Brennweite und dann den Standort, so daß man eigentlich das Verfahren der Photogrammetrie umkehrt; normalerweise kenne ich den Standort und die Brennweite und stelle dann Zeichnungen, Kartographier usw. her. Im Zeitalter der Computertechnik ist das nun nicht mehr ganz so kompliziert wie früher, obwohl das Programm von zwei Hochschulen ausgearbeitet werden musste; auch Hannover hat mitgeholfen. Dennoch war das, was wir photogrammetrisch ermittelt haben, nur die Basis, denn es gab viele Punkte, die von der Photogrammetrie aufgrund von Verschattungen und ähnlichem nicht erfaßt werden konnten. Nun zurück zu den Schnitzarbeiten: In dem Augenblick, wo man zu modellieren beginnt, spürt man eine Gesetzmäßigkeit, nach der so etwas zu gestalten ist, und man kommt aufgrund dieser Gesetzmäßigkeit, die jeder Maler, Bildhauer oder Architekt spürt, zu der richtigen Lösung. Bei diesem Arbeitsprozeß – das sehen Sie hier auf dieser Photoserie – haben Seite 7 DenkmalDebatten – Was ist ein Denkmal? Und wie geht man mit ihm um? Grundlagentexte auf www.denkmaldebatten.denkmalschutz.de Dietrich Klose: Führung Knochenhaueramtshaus – Erläuterungen zum Wiederaufbau aus: Arbeitskreis Theorie und Lehre der Denkmalpflege e.V. Dokumentation der Jahrestagung 1989 in Hildesheim. Thema: Denkmalpflege zwischen Konservieren und Rekonstruieren. Bamberg 1993, S. 74–78 die Bildhauer lange Zeit überhaupt nicht mehr nach den Photos gesehen; nachher, als ich kam und die Grundkontrolle mit dem Stechzirkel vornahm, stellte ich fest, daß da, wo die Arbeit richtig und stimmig war, sie auch tatsächlich den Vorlagen entsprach. Modelliert haben im Wesentlichen die Holzbildhauer selbst. Wir versuchten es auch mit akademischen Bildhauern, das hat überhaupt nicht geklappt. Die Holzbildhauer haben in ihren Schulen die Grundlagen historischer Formen gelernt und sie wissen ganz genau, daß diese Putten Fettringe, ja Fettwülste, haben, wie die Zehen sitzen usw. Das war für mich eigentlich auch ein Erlebnis festzustellen, daß wir Schulen haben, die die Tradition weitertragen. Hier sind die Details: Sie sehen, daß sie alle räumlich gezeichnet worden sind. Alle Handzeichnungen stammen von mir. Diese Details entstanden natürlich in enger Korrespondenz mit den Statikern. Würden Sie, Herr Dr. Hinkes, jetzt etwas zu der Idee sagen? HINKES: Die Arbeitsgemeinschaft, gebildet von Prof. Kessel und der Ingenieurgemeinschaft Speich und Hinkes, ist im Grunde mit zwei Zielsetzungen hier angetreten, nämlich zum einen, die Querschnitte, die aus der Photogrammetrie bekannt waren, hier wieder bei der Bemessung einzuhalten, und zum anderen, bei allen Knoten möglichst zimmermannsmäßige Verbindungen herzustellen. Das waren also die Zielsetzungen. Wie Herr Klose schon sagte, war es erforderlich, Untersuchungen am Eichenholz vorzunehmen: In hochbeanspruchten Bereichen ist man wegen der Belastungen über die Spannungen, die in der DIN 52 angegeben sind, hinausgegangen. Die DIN 52 weist heute für Eichenholz im Grunde nur eine Güteklasse aus. Das war früher anders. Damals hat man drei Güteklassen gehabt und auch höhere Beanspruchungen zulassen können bei der Güteklasse 1, aber das fiel weg, wohl deshalb, weil keine geeigneten Gütekriterien da sind, die jetzt das gute Eichenholz heraussuchen helfen, und zum anderen, weil man das gute Holz natürlich auch in der Möbelindustrie verwendet hat. Hier ist es so gewesen, daß über die Durchschallung das Holz mit hoher O-Dichte herausgesucht wurde. Über vergleichende Untersuchungen wurde dann festgelegt, daß in diesem Fall die zulässige Spannung um 40 % erhöht werden konnte. Um das Ganze bewerkstelligen zu können, war eine räumliche Betrachtung dieses Bauwerks erforderlich. Das Hauptproblem war nicht etwa die Abtragung vertikaler Lasten. Hier sind 350 Kilopond je Quadratmeter angesetzt und man könnte ohne Schwierigkeiten ca. 6000 Leute in dieses Gebäude hineinstecken. Das Problem ist hier, die horizontale Aussteifung zu gewährleisten, vor allem, weil in der Giebelfront keine aussteifenden Elemente zur Verfügung stehen, auch nicht durch die Fußknaggen, denn die enden in der zweiten Etage, und darunter sind nur noch Stiele, und das nützt einem dann eigentlich sehr wenig. Eines der Hauptprobleme war also die horizontale Aussteifung unter minimaler Auflast, die ja zugrunde zu legen ist, bei gleichzeitiger hoher Windbelastung. Das Ganze konnte nur dadurch bewerkstelligt werden, daß die Scheibe als tragendes Element hier mit in Einsatz gebracht wurde, und zwar durch die einzelnen Deckenscheiben, die dann – elastisch gelagert – helfen, die Lasten in den Rückraum abzutragen. Seite 8 DenkmalDebatten – Was ist ein Denkmal? Und wie geht man mit ihm um? Grundlagentexte auf www.denkmaldebatten.denkmalschutz.de Dietrich Klose: Führung Knochenhaueramtshaus – Erläuterungen zum Wiederaufbau aus: Arbeitskreis Theorie und Lehre der Denkmalpflege e.V. Dokumentation der Jahrestagung 1989 in Hildesheim. Thema: Denkmalpflege zwischen Konservieren und Rekonstruieren. Bamberg 1993, S. 74–78 KLOSE: Das aber wiederum basiert auf historischen Konstruktionsprinzipien, die wir nachgewiesen haben, z. B. im Keller. Der Aufbau war auch bei den alten Fachwerkhäusern so: zuerst ein Bodenbelag, dann Lehmschlag, darauf dann Lagerhölzer und der Dielenbelag. Genau den gleichen Aufbau haben wir hier auch gewählt. HINKES: Ein weiteres Problem war, daß hier ein massives Treppenhaus eingebaut werden mußte. Wir haben es ja heute mit relativ frisch verbautem Holz zu tun – anderes ist in der Summe bzw. in der Menge ja nicht zu bekommen. Es ist also Holz, das noch schwinden wird. Bei diesem Bau gibt es jede Menge liegender Hölzer, und wenn man die Schwindverformung bis in das Dach hinein aufaddiert, kommen immerhin 18 cm heraus. Das erforderte einen vertikal verschieblichen Anschluß im Bereich des Treppenhauses. Die Konstruktion hier ist in sich hinreichend ausgesteift, nur im Bereich des Treppenhauses natürlich unterbrochen. Man konnte dort nicht umhin, horizontal anzuschließen; gleichzeitig mußte aber gewährleistet werden, daß die vertikale Verschieblichkeit eingehalten wird. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers Seite 9 DenkmalDebatten – Was ist ein Denkmal? Und wie geht man mit ihm um? Grundlagentexte auf www.denkmaldebatten.denkmalschutz.de