(2013) BRIA erreicht OP-Patienten mit psychosozialen

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BRIA erreicht OP-Patienten mit
psychosozialen Behandlungsangeboten
Depression, Ängste und Suchterkrankungen sind häufig auch bei Patienten zu finden, denen eine Operation bevorsteht. In Kombination mit psychischen Störungen sind Komplikationen während und nach der Operation, Morbidität und Mortalität erhöht und es sind
deutlich schlechtere OP-Ergebnisse zu er warten. Hier setzt das Therapieprogramm BRIA
– die Brückenintervention in der Anästhesiologie – an und nutzt den Krankenhausaufenthalt, um Menschen, die unbehandelte psychische Störungen haben, vor einer OP ein
niederschwelliges Behandlungsangebot zu machen und für die Teilnahme an weiterführenden psychosozialen Maßnahmen zu motivieren. 1 E
in operativer Eingriff ist mit hohem emotionalem Stress
verbunden und bedeutet für viele Menschen eine starke psychische Belastung. Um solchen Patienten eine Behandlungsmöglichkeit anzubieten, entwickelten die Autoren
im Jahr 2009 an der Klinik für Anästhesiologie mit Schwerpunkt operative Intensivmedizin, Charité – Universitätsmedizin Berlin, das BRIA-Projekt. 2 Die Ergebnisse der aktuellen Studie, an der 1.157 operative Patienten teilgenommen
haben, zeigten, dass ihre psychischen Beschwerden oftmals
keine vorübergehenden Sorgen hinsichtlich der bevorstehenden Operation sind, sondern häufig Hinweise auf klinisch
bedeutsame und behandlungsbedürftige psychische Störungen darstellen. 3 In dieser Untersuchung wurde zunächst er-
Léonie F. Kerper, Claudia D. Spies und Henning Krampe
fasst, wie viele Patienten mit einer bevorstehenden Operation an psychotherapeutischen Gesprächen interessiert
waren und inwieweit dieses Interesse mit einer erhöhten
psychischen Belastung vor der Operation in Zusammenhang
stand. Schließlich wurde untersucht, ob es im Verlauf von
sechs Monaten nach dem chirurgischen Eingriff zu Veränderungen der psychischen Beschwerden kam. Die Studie zeigt,
wie beharrlich Depressivität, Ängste, allgemeine psychische
Beschwerden und Suchtprobleme nach einem halben Jahr
bei den Patienten mit Interesse an Psychotherapie erhöht
bleiben. Umgekehrt sind ihre Lebensqualität und ihr subjektives Gesundheitserleben dauerhaft niedrig. Abbildung 1 veranschaulicht dies an ausgewählten Ergebnissen.
Die Stabilität der Belastung in den verschiedensten Bereichen psychischer Störungen legt die Schlussfolgerung nahe, dass es sich dabei nicht um vorübergehende Sorgen und
Stress wegen der Operation, sondern um chronische psychische Beschwerden handelt. So leiden bis zu 38 % der OPPatienten unter klinisch bedeutsamer Depressivität, klinisch
relevanten Ängsten oder Suchterkrankungen. Und diese unbehandelten psychischen Störungen erfordern nicht nur aus
psychotherapeutischer, sondern auch aus medizinischer
Sicht psychotherapeutische Behandlung. So konnte in weiteren Untersuchungen gezeigt werden, dass psychische
Störungen zu operativen Komplikationen sowie zu einer
schlechteren Genesung nach der Operation beitragen. Sie
befördern so insgesamt einen ungünstigeren Verlauf der organmedizinischen Krankheit bis hin zu erhöhter Mortalität.
Damit tragen sie zu deutlich schlechteren operativen Ergebnissen, längerer Krankenhausverweildauer und somit höheren Gesundheitskosten bei. 4
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wissenschaft & f o rschung
Erster Kontakt in der Anästhesieambulanz
BRIA beginnt in den Anästhesieambulanzen, da es dort möglich ist, eine große Anzahl von Patienten, die zu der Zielgruppe gehören, aus verschiedenen chirurgischen Fachrichtungen zu erreichen. Vor dem Gespräch mit dem Anästhesisten
wird eine freiwillige kurze computergestützte FragebogenUntersuchung mit einer sofortigen Rückmeldung über die
1.157 befragte OP-Patienten (667 Frauen und 490 Männer)
T1 Messung vor der Operation
Interesse
T26-Monats-Nachbefragung
Kein Interesse
5.0
Alkoholprobleme (AUDIT)
1.0
0.8
0.6
0.4
0.2
0.0
T1
75
4.0
3.5
3.0
T1
T2
T1
T2
18
70
65
60
55
50
45
4.5
2.5
T2
Wohlbefinden (WHO-5)
Psychische Beschwerden (BSI)
Genau dort setzt das neue interdisziplinäre Therapieprogramm BRIA an, das von den Autoren in den Anästhesieambulanzen der Universitätsklinik für Anästhesiologie mit
Schwerpunkt operative Intensivmedizin, Campus VirchowKlinikum (CVK) und Campus Charité Mitte (CCM), Charité –
Universitätsmedizin Berlin, entwickelt wurde. BRIA nutzt
den „teachable moment“ Krankenhausaufenthalt, um OPPatienten mit unbehandelten Depressionen, Ängsten und
Suchterkrankungen zur Teilnahme an psychosozialen Behandlungsangeboten zu motivieren.
Abbildung 1: Chronische psychische Beschwerden bei
OP-Patienten im 6-Monats-Verlauf *
Subjektive Gesundheit (0 – 100)
„Teachable moments“
Trotz dieser Erkenntnisse werden psychische Probleme und
Störungen bei Krankenhauspatienten oft nicht erfasst oder
erkannt. 5 Dementsprechend wird Patienten, die sich einer
Operation unterziehen, meist kein adäquates psychotherapeutisches Behandlungsangebot gemacht, obwohl gerade
die unmittelbare Zeit vor und nach einer Operation einen sogenannten „teachable moment“ darstellt. „Teachable moments“ sind gesundheitsbezogene Lebensereignisse, die
Patienten dazu motivieren, sich mit ihrem Gesundheitsverhalten auseinanderzusetzen, so dass sie eher bereit sind,
gesundheitsschädliches Verhalten zu ändern und Hilfen zur
Änderung ihres Lebensstils anzunehmen. 6
T1
T2
16
14
12
10
* Ergebnisse einer 2-faktoriellen Kovarianzanalyse mit Messwiederholung: Allgemeine psychische Beschwerden (Fragebogen BSI, vor allem
Depressivität und Ängste) und Alkoholprobleme (Fragebogen AUDIT)
bleiben bei den 193 Patienten mit Psychotherapieinteresse (graue Kästchen) im Vergleich zu den 964 Patienten ohne Therapieinteresse (gelbe
Kästchen) signifikant erhöht. Umgekehrt sind ihr subjektives Gesundheitserleben und ihr Wohlbefinden (Fragebogen WHO-5) dauerhaft zu niedrig.
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Ergebnisse der Befragung durchgeführt. Direkt nachdem ein
Patient alle Fragen beantwortet hat, erhält er eine automatisch erzeugte, schriftliche Rückmeldung über seine individuellen Fragebogenwerte, die auch Empfehlungen für Lebensstiländerungen, Therapiemöglichkeiten und andere
psychosoziale Hilfsangebote enthält. Diese schriftliche Rückmeldung ist allgemein verständlich formuliert und orientiert
sich an den Wünschen und Bedürfnissen der Patienten.
Therapeutische Begleitung auch schon vor der OP
Gibt ein Patient, dessen Fragebogenwerte psychische Belastung anzeigen, Interesse an therapeutischen Gesprächen
an, dann wird er am Tag nach seiner Operation von einem
Mitglied des Therapeutenteams auf der Station besucht. Die
BRIA-Therapiekontakte finden während des stationären Aufenthalts und danach bei Bedarf bis zu drei Monate nach Entlassung ambulant statt. Bei akuten Problemen und sehr dringendem Gesprächsbedarf, z. B. bei äußerst starker Angst
vor der Narkose, bekommen die Patienten einen Gesprächstermin, der noch vor der Operation stattfindet.
Während der ersten BRIA-Gespräche wird in einer ausführlichen psychologischen Anamnese und einem strukturierten
Interview zunächst abgeklärt, ob beziehungsweise welche
psychischen Störungen vorliegen und ob nach den BRIAKontakten eine weiter gehende psychosoziale Versorgung
nötig ist. Die Patienten haben so die Möglichkeit, noch wäh-
Abbildung 2: Praktischer Ablauf von BRIA
Computergestützte psychologische Fragebogen-Untersuchung
Sofortige Rückmeldung der Untersuchungsergebnisse
Alle Patienten erhalten eine schriftliche Rückmeldung, belastete
Patienten bekommen ein Angebot für Beratungs- beziehungs­weise
Therapiegespräche, Patienten mit akuten Problemen erhalten
auf Wunsch ein sofortiges Gesprächsangebot
Diagnostik, Interview, Fragebogenerhebung
Psychotherapeutische Kontakte
1. Individuellen Behandlungsbedarf abklären
2.Therapiemöglichkeiten besprechen
3.Erste Bewältigungsschritte
4.Bei Bedarf Vermittlung geeigneter Therapieangebote
6-Monats-Nachbefragung
Inanspruchnahme von psychosozialen Therapieangeboten,
psychisches Befinden, Auffrisch-Sitzungen
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rend des Krankenhausaufenthalts motivierende psychotherapeutische Gespräche, eine ausführliche psychologische Diagnostik und unterstützende Therapiekontakte zu erhalten.
Schließlich bekommen Patienten mit diagnostizierten psychischen Störungen und Therapieinteresse individuell ausgerichtete psychotherapeutische Brückengespräche, die ihnen dabei helfen, möglichst schnell und effektiv Zugang zu
langfristigen Therapieangeboten der psychosozialen Regelversorgung zu finden. Hierzu zählen vor allem ambulante
Psychotherapie, Suchttherapie, psychosoziale Beratung,
Selbsthilfe, Programme zur beruflichen Reintegration, soziotherapeutische Angebote, betreutes Wohnen oder betreute
Wohngemeinschaften. Patienten, die bereits erfolgreich ein
psychosoziales Versorgungsangebot in Anspruch nehmen,
werden darin bestärkt, ihre aktuelle Behandlung fortzusetzen. Patienten, die in der Befragung oder der Eingangsuntersuchung schwere psychische Störungen oder akute Suizidalität aufweisen, werden direkt in die psychiatrische oder
psychosomatische Regelversorgung der Charité vermittelt.
Die konkreten Schritte im praktischen Ablauf von BRIA zeigt
Abbildung 2, wesentliche Therapieelemente der Brückengespräche sind in der Tabelle zusammengefasst.
BRIA stellt somit einen sogenannten Stepped-Care-Ansatz 7
dar. Dies ist ein auf die jeweiligen aktuellen Bedürfnisse des
Patienten angepasstes gestuftes Vorgehen, mit dem eine
nachhaltige Verbindung zwischen der medizinisch orientierten
Tabelle: Wesentliche Therapieelemente von BRIA
• Ausführliche psychologische Diagnostik, strukturiertes
klinisches Interview zur Abklärung, inwieweit eine psychische Störung vorliegt;
• Aufbau einer therapeutischen Arbeitsbeziehung und Förderung der Stärken des Patienten;
• Förderung von Änderungs- und Therapiemotivation;
• Abklärung des Bedarfs an Psychotherapie;
• Beratung hinsichtlich psycho- und suchttherapeutischer
sowie anderer psychosozialer Behandlungsmöglichkeiten;
• Erlernen konkreter Fertigkeiten zur erfolgreichen Inanspruchnahme bestehender Therapieangebote;
• emotionale Entlastung und auf individuelle Themen ausgerichtete Krisengespräche;
• Üben von Entspannungstechniken und Stressbewältigung;
• Kennenlernen/Erleben von Zusammenhängen zwischen
Verhalten, Denken, Stimmung, Gefühlen und organmedizinischen Problemen sowie
• Erlernen und Üben erster, einfach einzusetzender Fertigkeiten zur Problemlösung und Bewältigung der Störung.
wissenschaft & f o rschung
Krankenhausbehandlung von OP-Patienten und vielfältigen
psychosozialen Therapieangeboten hergestellt werden soll.
Resümee
Langfristig trägt dieser Ansatz zur Steigerung der gesamten
Lebensqualität und zu einer verbesserten Genesung der organmedizinischen Krankheiten der Patienten bei. Dass sich
das gestufte Vorgehen von BRIA erfolgreich in den Kontext
der anästhesiologischen und chirurgischen Krankenhausversorgung integrieren lässt, konnte schon in einer klinischen
Studie gezeigt werden. 8 12 % der belasteten Patienten sind
an den BRIA-Gesprächen interessiert. Dabei gibt es keine
Unterschiede im Interesse von Patienten aus den verschiedenen chirurgischen Fachbereichen. Auch der allgemeine
körperliche Gesundheitszustand der Patienten ist unabhängig vom Therapiewunsch. Dieser fehlende Einfluss des Fachgebiets und der körperlichen Gesundheit unterstützt den Ansatz, das BRIA-Angebot allen operativen Patienten zu bieten.
Auf die Wirksamkeit der BRIA-Gespräche weist eine Vermittlungsrate in weiterführende psychosoziale Therapieprogramme von über 30 % hin. Auf diesen positiven Ergebnissen der
ersten Studie aufbauend überprüft eine aktuell laufende randomisierte klinische Studie diese Hinweise auf die Wirksamkeit von BRIA.
Ein leicht zugängliches, auf das Ausmaß der individuellen
Problematik zugeschnittenes Therapieangebot kann den Patienten und ihren Familien viel Leid ersparen. Auch die
Krankheitskosten durch psychische Störungen würden nachhaltig und langfristig gesenkt. Denn der volkswirtschaftliche
Schaden durch unbehandelte psychische Erkrankungen
übertrifft bei Weitem die Kosten für die erforderliche Psychotherapie. 9
PD Dipl.-Psych. Dr. Henning Krampe,
Dipl-Psych. Dr. Léonie F. Kerper,
Prof. Dr. med. Claudia D. Spies Universitätsklinik für Anästhesiologie mit Schwerpunkt operative Intensivmedizin, Charité – Universitätsmedizin Berlin,
Kontakt: [email protected]
Gesundheitspolitischer Hintergrund
Unbehandelte psychische Erkrankungen zählen mit zu
den Hauptgründen für längere Arbeitsunfähigkeitszeiten, Inanspruchnahme von Haus- und Facharztbesuchen sowie Frühberentungen. 10 Aktuelle Daten des
BKK Bundesverbandes zeigen, dass bei den BKK Versicherten die Anzahl der Krankheitstage wegen psychischer Erkrankungen von 2004 bis 2011 um das
18-Fache gestiegen ist. 11 Dass psychische Erkrankungen zu den Kostentreibern im Gesundheitswesen zählen, lässt sich auch durch eine zusammenfassende
Zahl ausdrücken: 28,7 Mrd. € betrugen in Deutschland
im Jahr 2008 die Krankheitskosten durch psychische
Erkrankungen und Verhaltensstörungen – 5,3 Mrd. €
mehr als bei der ersten Berechnung im Jahr 2002. 12
3 Kerper, L. F. et al., Persistence of psychological distress in surgical patients with
interest in psychotherapy: Results of a 6-month follow-up. PLOS ONE 2012;
7(12):e51167. doi:51110.51371/journal.pone.0051167.
4 Lange, L. F. et al., a. a. O.
5 Hansen, M. et al., Mental disorders among internal medical inpatients: Prevalence,
detection, and treatment status, in: J Psychosom Res, (2001) 50, S. 199 – 204.
6 McBride, C. M., K. M. Emmons, I. M. Lipkus, Understanding the potential of teachable
moments: the case of smoking cessation, in: Health Educ Res, (2003) 18, S. 156 – 170.
7 Bower, P., S. Gilbody, Stepped care in psychological therapies: Access, effectiveness
and efficiency – narrative literature review, in: Br J Psychiatry, (2005) 186, S. 11 – 17.
8 Siehe Lange, L. F. et al., a. a. O.
9 Margraf, J., Kosten und Nutzen der Psychotherapie: Eine kritische Literaturauswertung, Springer Verlag, Berlin 2008.
10 Jacobi, F., M. Klose, H. U. Wittchen, Mental disorders in the community: healthcare
utilization and disability days [Psychische Störungen in der deutschen Allgemeinbevölkerung: Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen und Ausfalltage],
in: Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, (2004) 47,
S. 736 – 744.
11 Siehe Pressemitteilung des BKK Bundesverbandes vom 11. Dezember 2012: „Mehr
Krankentage – psychische Leiden mit hoher Dynamik – Burn-out-Syndrom stieg in
nur sieben Jahren um das Zwanzigfache“, online unter: www.bkk.de/presse-politik/
presse/bkk-pressemitteilungen.
12 Statistisches Bundesamt, Herz-Kreislauf-Erkrankungen verursachen die höchsten
Krankheitskosten, 2012, siehe unter: https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Gesundheit/Krankheitskosten/Krankheitskosten.html
Anmerkungen
1 Die Autoren danken dem Team der Anästhesieambulanzen der Universitätsklinik für
Anästhesiologie mit Schwerpunkt operative Intensivmedizin, Campus Virchow-Klinikum (CVK) und Campus Charité Mitte (CCM), Charité – Universitätsmedizin Berlin,
sowie dem BRIA-Team für die hervorragende Hilfe bei der Datenerhebung und -analyse, der Patientenbetreuung und dem Gestalten von Abbildungen. Dieses Projekt
wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG (GZ KR 3836/3-1) unterstützt.
2 Lange, L. F. et al., Bridging Intervention in Anaesthesiology: First results on treatment need, demand and utilization of an innovative psychotherapy program for surgical patients, in: Clin Health Promot, (2011) 1, S.41 – 49.
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