BRIA erreicht OP-Patienten mit psychosozialen Behandlungsangeboten Depression, Ängste und Suchterkrankungen sind häufig auch bei Patienten zu finden, denen eine Operation bevorsteht. In Kombination mit psychischen Störungen sind Komplikationen während und nach der Operation, Morbidität und Mortalität erhöht und es sind deutlich schlechtere OP-Ergebnisse zu er warten. Hier setzt das Therapieprogramm BRIA – die Brückenintervention in der Anästhesiologie – an und nutzt den Krankenhausaufenthalt, um Menschen, die unbehandelte psychische Störungen haben, vor einer OP ein niederschwelliges Behandlungsangebot zu machen und für die Teilnahme an weiterführenden psychosozialen Maßnahmen zu motivieren. 1 E in operativer Eingriff ist mit hohem emotionalem Stress verbunden und bedeutet für viele Menschen eine starke psychische Belastung. Um solchen Patienten eine Behandlungsmöglichkeit anzubieten, entwickelten die Autoren im Jahr 2009 an der Klinik für Anästhesiologie mit Schwerpunkt operative Intensivmedizin, Charité – Universitätsmedizin Berlin, das BRIA-Projekt. 2 Die Ergebnisse der aktuellen Studie, an der 1.157 operative Patienten teilgenommen haben, zeigten, dass ihre psychischen Beschwerden oftmals keine vorübergehenden Sorgen hinsichtlich der bevorstehenden Operation sind, sondern häufig Hinweise auf klinisch bedeutsame und behandlungsbedürftige psychische Störungen darstellen. 3 In dieser Untersuchung wurde zunächst er- Léonie F. Kerper, Claudia D. Spies und Henning Krampe fasst, wie viele Patienten mit einer bevorstehenden Operation an psychotherapeutischen Gesprächen interessiert waren und inwieweit dieses Interesse mit einer erhöhten psychischen Belastung vor der Operation in Zusammenhang stand. Schließlich wurde untersucht, ob es im Verlauf von sechs Monaten nach dem chirurgischen Eingriff zu Veränderungen der psychischen Beschwerden kam. Die Studie zeigt, wie beharrlich Depressivität, Ängste, allgemeine psychische Beschwerden und Suchtprobleme nach einem halben Jahr bei den Patienten mit Interesse an Psychotherapie erhöht bleiben. Umgekehrt sind ihre Lebensqualität und ihr subjektives Gesundheitserleben dauerhaft niedrig. Abbildung 1 veranschaulicht dies an ausgewählten Ergebnissen. Die Stabilität der Belastung in den verschiedensten Bereichen psychischer Störungen legt die Schlussfolgerung nahe, dass es sich dabei nicht um vorübergehende Sorgen und Stress wegen der Operation, sondern um chronische psychische Beschwerden handelt. So leiden bis zu 38 % der OPPatienten unter klinisch bedeutsamer Depressivität, klinisch relevanten Ängsten oder Suchterkrankungen. Und diese unbehandelten psychischen Störungen erfordern nicht nur aus psychotherapeutischer, sondern auch aus medizinischer Sicht psychotherapeutische Behandlung. So konnte in weiteren Untersuchungen gezeigt werden, dass psychische Störungen zu operativen Komplikationen sowie zu einer schlechteren Genesung nach der Operation beitragen. Sie befördern so insgesamt einen ungünstigeren Verlauf der organmedizinischen Krankheit bis hin zu erhöhter Mortalität. Damit tragen sie zu deutlich schlechteren operativen Ergebnissen, längerer Krankenhausverweildauer und somit höheren Gesundheitskosten bei. 4 110 | Die BKK 03/2013 wissenschaft & f o rschung Erster Kontakt in der Anästhesieambulanz BRIA beginnt in den Anästhesieambulanzen, da es dort möglich ist, eine große Anzahl von Patienten, die zu der Zielgruppe gehören, aus verschiedenen chirurgischen Fachrichtungen zu erreichen. Vor dem Gespräch mit dem Anästhesisten wird eine freiwillige kurze computergestützte FragebogenUntersuchung mit einer sofortigen Rückmeldung über die 1.157 befragte OP-Patienten (667 Frauen und 490 Männer) T1 Messung vor der Operation Interesse T26-Monats-Nachbefragung Kein Interesse 5.0 Alkoholprobleme (AUDIT) 1.0 0.8 0.6 0.4 0.2 0.0 T1 75 4.0 3.5 3.0 T1 T2 T1 T2 18 70 65 60 55 50 45 4.5 2.5 T2 Wohlbefinden (WHO-5) Psychische Beschwerden (BSI) Genau dort setzt das neue interdisziplinäre Therapieprogramm BRIA an, das von den Autoren in den Anästhesieambulanzen der Universitätsklinik für Anästhesiologie mit Schwerpunkt operative Intensivmedizin, Campus VirchowKlinikum (CVK) und Campus Charité Mitte (CCM), Charité – Universitätsmedizin Berlin, entwickelt wurde. BRIA nutzt den „teachable moment“ Krankenhausaufenthalt, um OPPatienten mit unbehandelten Depressionen, Ängsten und Suchterkrankungen zur Teilnahme an psychosozialen Behandlungsangeboten zu motivieren. Abbildung 1: Chronische psychische Beschwerden bei OP-Patienten im 6-Monats-Verlauf * Subjektive Gesundheit (0 – 100) „Teachable moments“ Trotz dieser Erkenntnisse werden psychische Probleme und Störungen bei Krankenhauspatienten oft nicht erfasst oder erkannt. 5 Dementsprechend wird Patienten, die sich einer Operation unterziehen, meist kein adäquates psychotherapeutisches Behandlungsangebot gemacht, obwohl gerade die unmittelbare Zeit vor und nach einer Operation einen sogenannten „teachable moment“ darstellt. „Teachable moments“ sind gesundheitsbezogene Lebensereignisse, die Patienten dazu motivieren, sich mit ihrem Gesundheitsverhalten auseinanderzusetzen, so dass sie eher bereit sind, gesundheitsschädliches Verhalten zu ändern und Hilfen zur Änderung ihres Lebensstils anzunehmen. 6 T1 T2 16 14 12 10 * Ergebnisse einer 2-faktoriellen Kovarianzanalyse mit Messwiederholung: Allgemeine psychische Beschwerden (Fragebogen BSI, vor allem Depressivität und Ängste) und Alkoholprobleme (Fragebogen AUDIT) bleiben bei den 193 Patienten mit Psychotherapieinteresse (graue Kästchen) im Vergleich zu den 964 Patienten ohne Therapieinteresse (gelbe Kästchen) signifikant erhöht. Umgekehrt sind ihr subjektives Gesundheitserleben und ihr Wohlbefinden (Fragebogen WHO-5) dauerhaft zu niedrig. 03/2013 Die BKK | 111 Ergebnisse der Befragung durchgeführt. Direkt nachdem ein Patient alle Fragen beantwortet hat, erhält er eine automatisch erzeugte, schriftliche Rückmeldung über seine individuellen Fragebogenwerte, die auch Empfehlungen für Lebensstiländerungen, Therapiemöglichkeiten und andere psychosoziale Hilfsangebote enthält. Diese schriftliche Rückmeldung ist allgemein verständlich formuliert und orientiert sich an den Wünschen und Bedürfnissen der Patienten. Therapeutische Begleitung auch schon vor der OP Gibt ein Patient, dessen Fragebogenwerte psychische Belastung anzeigen, Interesse an therapeutischen Gesprächen an, dann wird er am Tag nach seiner Operation von einem Mitglied des Therapeutenteams auf der Station besucht. Die BRIA-Therapiekontakte finden während des stationären Aufenthalts und danach bei Bedarf bis zu drei Monate nach Entlassung ambulant statt. Bei akuten Problemen und sehr dringendem Gesprächsbedarf, z. B. bei äußerst starker Angst vor der Narkose, bekommen die Patienten einen Gesprächstermin, der noch vor der Operation stattfindet. Während der ersten BRIA-Gespräche wird in einer ausführlichen psychologischen Anamnese und einem strukturierten Interview zunächst abgeklärt, ob beziehungsweise welche psychischen Störungen vorliegen und ob nach den BRIAKontakten eine weiter gehende psychosoziale Versorgung nötig ist. Die Patienten haben so die Möglichkeit, noch wäh- Abbildung 2: Praktischer Ablauf von BRIA Computergestützte psychologische Fragebogen-Untersuchung Sofortige Rückmeldung der Untersuchungsergebnisse Alle Patienten erhalten eine schriftliche Rückmeldung, belastete Patienten bekommen ein Angebot für Beratungs- beziehungs­weise Therapiegespräche, Patienten mit akuten Problemen erhalten auf Wunsch ein sofortiges Gesprächsangebot Diagnostik, Interview, Fragebogenerhebung Psychotherapeutische Kontakte 1. Individuellen Behandlungsbedarf abklären 2.Therapiemöglichkeiten besprechen 3.Erste Bewältigungsschritte 4.Bei Bedarf Vermittlung geeigneter Therapieangebote 6-Monats-Nachbefragung Inanspruchnahme von psychosozialen Therapieangeboten, psychisches Befinden, Auffrisch-Sitzungen 112 | Die BKK 03/2013 rend des Krankenhausaufenthalts motivierende psychotherapeutische Gespräche, eine ausführliche psychologische Diagnostik und unterstützende Therapiekontakte zu erhalten. Schließlich bekommen Patienten mit diagnostizierten psychischen Störungen und Therapieinteresse individuell ausgerichtete psychotherapeutische Brückengespräche, die ihnen dabei helfen, möglichst schnell und effektiv Zugang zu langfristigen Therapieangeboten der psychosozialen Regelversorgung zu finden. Hierzu zählen vor allem ambulante Psychotherapie, Suchttherapie, psychosoziale Beratung, Selbsthilfe, Programme zur beruflichen Reintegration, soziotherapeutische Angebote, betreutes Wohnen oder betreute Wohngemeinschaften. Patienten, die bereits erfolgreich ein psychosoziales Versorgungsangebot in Anspruch nehmen, werden darin bestärkt, ihre aktuelle Behandlung fortzusetzen. Patienten, die in der Befragung oder der Eingangsuntersuchung schwere psychische Störungen oder akute Suizidalität aufweisen, werden direkt in die psychiatrische oder psychosomatische Regelversorgung der Charité vermittelt. Die konkreten Schritte im praktischen Ablauf von BRIA zeigt Abbildung 2, wesentliche Therapieelemente der Brückengespräche sind in der Tabelle zusammengefasst. BRIA stellt somit einen sogenannten Stepped-Care-Ansatz 7 dar. Dies ist ein auf die jeweiligen aktuellen Bedürfnisse des Patienten angepasstes gestuftes Vorgehen, mit dem eine nachhaltige Verbindung zwischen der medizinisch orientierten Tabelle: Wesentliche Therapieelemente von BRIA • Ausführliche psychologische Diagnostik, strukturiertes klinisches Interview zur Abklärung, inwieweit eine psychische Störung vorliegt; • Aufbau einer therapeutischen Arbeitsbeziehung und Förderung der Stärken des Patienten; • Förderung von Änderungs- und Therapiemotivation; • Abklärung des Bedarfs an Psychotherapie; • Beratung hinsichtlich psycho- und suchttherapeutischer sowie anderer psychosozialer Behandlungsmöglichkeiten; • Erlernen konkreter Fertigkeiten zur erfolgreichen Inanspruchnahme bestehender Therapieangebote; • emotionale Entlastung und auf individuelle Themen ausgerichtete Krisengespräche; • Üben von Entspannungstechniken und Stressbewältigung; • Kennenlernen/Erleben von Zusammenhängen zwischen Verhalten, Denken, Stimmung, Gefühlen und organmedizinischen Problemen sowie • Erlernen und Üben erster, einfach einzusetzender Fertigkeiten zur Problemlösung und Bewältigung der Störung. wissenschaft & f o rschung Krankenhausbehandlung von OP-Patienten und vielfältigen psychosozialen Therapieangeboten hergestellt werden soll. Resümee Langfristig trägt dieser Ansatz zur Steigerung der gesamten Lebensqualität und zu einer verbesserten Genesung der organmedizinischen Krankheiten der Patienten bei. Dass sich das gestufte Vorgehen von BRIA erfolgreich in den Kontext der anästhesiologischen und chirurgischen Krankenhausversorgung integrieren lässt, konnte schon in einer klinischen Studie gezeigt werden. 8 12 % der belasteten Patienten sind an den BRIA-Gesprächen interessiert. Dabei gibt es keine Unterschiede im Interesse von Patienten aus den verschiedenen chirurgischen Fachbereichen. Auch der allgemeine körperliche Gesundheitszustand der Patienten ist unabhängig vom Therapiewunsch. Dieser fehlende Einfluss des Fachgebiets und der körperlichen Gesundheit unterstützt den Ansatz, das BRIA-Angebot allen operativen Patienten zu bieten. Auf die Wirksamkeit der BRIA-Gespräche weist eine Vermittlungsrate in weiterführende psychosoziale Therapieprogramme von über 30 % hin. Auf diesen positiven Ergebnissen der ersten Studie aufbauend überprüft eine aktuell laufende randomisierte klinische Studie diese Hinweise auf die Wirksamkeit von BRIA. Ein leicht zugängliches, auf das Ausmaß der individuellen Problematik zugeschnittenes Therapieangebot kann den Patienten und ihren Familien viel Leid ersparen. Auch die Krankheitskosten durch psychische Störungen würden nachhaltig und langfristig gesenkt. Denn der volkswirtschaftliche Schaden durch unbehandelte psychische Erkrankungen übertrifft bei Weitem die Kosten für die erforderliche Psychotherapie. 9 PD Dipl.-Psych. Dr. Henning Krampe, Dipl-Psych. Dr. Léonie F. Kerper, Prof. Dr. med. Claudia D. Spies Universitätsklinik für Anästhesiologie mit Schwerpunkt operative Intensivmedizin, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Kontakt: [email protected] Gesundheitspolitischer Hintergrund Unbehandelte psychische Erkrankungen zählen mit zu den Hauptgründen für längere Arbeitsunfähigkeitszeiten, Inanspruchnahme von Haus- und Facharztbesuchen sowie Frühberentungen. 10 Aktuelle Daten des BKK Bundesverbandes zeigen, dass bei den BKK Versicherten die Anzahl der Krankheitstage wegen psychischer Erkrankungen von 2004 bis 2011 um das 18-Fache gestiegen ist. 11 Dass psychische Erkrankungen zu den Kostentreibern im Gesundheitswesen zählen, lässt sich auch durch eine zusammenfassende Zahl ausdrücken: 28,7 Mrd. € betrugen in Deutschland im Jahr 2008 die Krankheitskosten durch psychische Erkrankungen und Verhaltensstörungen – 5,3 Mrd. € mehr als bei der ersten Berechnung im Jahr 2002. 12 3 Kerper, L. F. et al., Persistence of psychological distress in surgical patients with interest in psychotherapy: Results of a 6-month follow-up. PLOS ONE 2012; 7(12):e51167. doi:51110.51371/journal.pone.0051167. 4 Lange, L. F. et al., a. a. O. 5 Hansen, M. et al., Mental disorders among internal medical inpatients: Prevalence, detection, and treatment status, in: J Psychosom Res, (2001) 50, S. 199 – 204. 6 McBride, C. M., K. M. Emmons, I. M. Lipkus, Understanding the potential of teachable moments: the case of smoking cessation, in: Health Educ Res, (2003) 18, S. 156 – 170. 7 Bower, P., S. Gilbody, Stepped care in psychological therapies: Access, effectiveness and efficiency – narrative literature review, in: Br J Psychiatry, (2005) 186, S. 11 – 17. 8 Siehe Lange, L. F. et al., a. a. O. 9 Margraf, J., Kosten und Nutzen der Psychotherapie: Eine kritische Literaturauswertung, Springer Verlag, Berlin 2008. 10 Jacobi, F., M. Klose, H. U. Wittchen, Mental disorders in the community: healthcare utilization and disability days [Psychische Störungen in der deutschen Allgemeinbevölkerung: Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen und Ausfalltage], in: Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, (2004) 47, S. 736 – 744. 11 Siehe Pressemitteilung des BKK Bundesverbandes vom 11. Dezember 2012: „Mehr Krankentage – psychische Leiden mit hoher Dynamik – Burn-out-Syndrom stieg in nur sieben Jahren um das Zwanzigfache“, online unter: www.bkk.de/presse-politik/ presse/bkk-pressemitteilungen. 12 Statistisches Bundesamt, Herz-Kreislauf-Erkrankungen verursachen die höchsten Krankheitskosten, 2012, siehe unter: https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Gesundheit/Krankheitskosten/Krankheitskosten.html Anmerkungen 1 Die Autoren danken dem Team der Anästhesieambulanzen der Universitätsklinik für Anästhesiologie mit Schwerpunkt operative Intensivmedizin, Campus Virchow-Klinikum (CVK) und Campus Charité Mitte (CCM), Charité – Universitätsmedizin Berlin, sowie dem BRIA-Team für die hervorragende Hilfe bei der Datenerhebung und -analyse, der Patientenbetreuung und dem Gestalten von Abbildungen. Dieses Projekt wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG (GZ KR 3836/3-1) unterstützt. 2 Lange, L. F. et al., Bridging Intervention in Anaesthesiology: First results on treatment need, demand and utilization of an innovative psychotherapy program for surgical patients, in: Clin Health Promot, (2011) 1, S.41 – 49. 03/2013 Die BKK | 113