Emergenz – lebendig oder nicht lebendig

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Emergenz – lebendig
nicht lebendig …
oder
In seinen Notizen beim Emergenz-Netzwerk
befasst sich der Physiker und Autor Dr.
Günter Dedié zum zweiten Mal mit dem
Zwischenbereich zwischen lebendig und
nicht lebendig. Wenn es dabei CopyrightVorschriften gegeben hätte, wäre die
Evolution verhindert worden, sagt er
folgerichtig (Bild: Dedié, 23.10.).
Lebendig oder nicht lebendig …
… das ist hier ein zweites Mal die Frage.
Sie können heute in der Fortsetzung der Notiz vom 28.8.15 mit
weiteren Beispielen von dissipativen autokatalytischen
Prozessen die Grenze zwischen nicht lebendig zu lebendig
überschreiten, und dabei wichtige Eigenschaften dieser
Prozesse kennen lernen. Die dissipativen autokatalytischen
Prozesse haben, wie in der ersten Notiz dazu dargestellt,
folgende essenziellen Eigenschaften:
Sie verbrauchen Energie oder/und Materie (sog. Edukte)
aus ihrer Umwelt und erzeugen damit Ordnung, Struktur
sowie emergente Fähigkeiten. Sie erhalten sich auf diese
Weise selbst, solange die Edukte reichen. Was beim
Prozess übrig bleibt (sog. Produkte), wird an die Umwelt
abgegeben.
Sie funktionieren nur weit entfernt vom thermischen
Gleichgewicht.
Sie enthalten mindestens einen autokatalytischen (Teil)Prozess.
Die Strukturen und Eigenschaften der emergent entstandenen
Systeme werden häufig unter dem Begriff Komplexität
zusammengefasst.
Als Beispiele dafür wurde in der ersten Notiz kurz die BénardKonvektion behandelt.(Ausführlicher war sie schon das Thema
der Notiz vom 18.10.15 und vom 18.8.14). Beim Bénard-Prozess
geht es um den Transport von Wärmeenergie durch eine
Flüssigkeit oder ein Gas, Energie hier also Edukt und als
Produkt. Dabei werden – abhängig vor der zu transportierenden
Wärmemenge – von selbst in mehreren Stufen stabile geometrisch
angeordnete Konvektionszellen gebildet, die den Wärmetransport
stufenweise verbessern. Es wird also Energie in Form von Wärme
aufgenommen, in eine mehr oder weniger komplexe Strukturen des
Wärme leitenden Mediums umgewandelt und wieder abgegeben.
Materie gerät dabei zwar in Bewegung, wird aber sonst nicht
verändert. Es ist ein Prozess, der sich von selbst bildet,
erneuert und damit erhält, solange Wärme zu- und abgeführt
wird. Da sowohl die physikalischen Gleichungen für die
Wärmeleitung als auch die für Strömungen von Flüssigkeiten
oder Gasen nichtlinear sind, ergibt sich daraus unmittelbar
der nichtlineare Charakter des Bénard-Prozesses.
Die Belousov-Zhabotinsky-Reaktion wurde in der Notiz vom
28.8.15 ausführlich behandelt. Sie führt zu einem
autopoietischen Prozess, der sich von selbst ausbildet,
erneuert und erhält, solange seine Edukte, die Bromate, zur
Verfügung stehen. Die BZR-Prozesskette „weiß“, was sie zu
importieren und zu exportieren hat und welche interne Struktur
sie in dem von ihr gebildeten System erzeugt. Sie ist autonom
und enthält implizit die Information für ihre individuelle
(„ontogenetische“) Entwicklung. Sie wird aber auch von ihrer
Umwelt beeinflusst, z.B. im Hinblick auf die Formen ihrer
Strukturen. Die BZR kann sich aber nicht „vermehren“; auf den
Grund dafür komme ich gleich zurück. Der einzelne BZR-Prozess
befindet sich in einer Art von Ko-Evolution mit seiner Umwelt.
Autokatalytische chemische Prozesse wie die BZR sind unbelebte
Hyperzyklen: Ein Zyklus katalytischer Reaktionen wirkt
insgesamt als Autokatalysator, und ein katalytischer Zyklus,
der einen oder mehrere Autokatalysatoren enthält, wirkt
insgesamt als Hyperzyklus. Das ursprüngliche Beispiel für
einen Hyperzyklus ist der selbstreproduzierende katalytische
Nukleinsäure–Protein-Hyperzyklus (M. Eigen): Nukleinsäuren
(RNS oder DNS) wirken als Katalysator für die Entstehung
solcher Proteine, die wieder als Katalysator für die
Entstehung der Nukleinsäuren geeignet sind. Dieser Hyperzyklus
wird im folgenden Bild veranschaulicht:
Bild: Beispiel für einen Nukleinsäure-Protein-Hyperzyklus
(vereinfacht)
Erläuterungen:
Die
kreisförmigen
Schleifen
stellen
die
autokatalytische Reproduktion der Nukleinsäuren dar, die roten
Punkte die Proteine. Die Nukleinsäure N1 synthetisiert Protein
P1, Protein P1 katalysiert Nukleinsäure N2 usw. Ein
Hyperzyklus verstärkt und reproduziert sich als Ganzes
autokatalytisch, wenn er geschlossen ist, also in sich
rückgekoppelt: Im Bild katalysiert das Protein P5 wieder
Nukleinsäure N1. Er hat, wenn
Geschwindigkeitsvorteil bei der
geschlossen, einen
Selektion zwischen
unterschiedlichen Hyperzyklen und verkraftet Fehler bei der
Reproduktion besser.
Selbstreproduktive Hyperzyklen derartiger Makromoleküle,
obwohl noch unbelebt, haben zwei neue Fähigkeiten, die schon
entscheidende Voraussetzungen für die Entwicklung des Lebens
sind:
1. Die Nukleinsäuren enthalten einen Bauplan (die
Reihenfolge der Nukleinbasen) mit der Information für
ihre Reproduktion; sie können sich deshalb durch
kopieren vermehren (sog. Phylogenese). (Bei der BZR ist
keine Vermehrung möglich; „sie lebt nur einmal“, denn
sie enthält keine Information für ihre Reproduktion.)
2. D i e s e r B a u p l a n i s t s o g e s t a l t e t , d a s s b e i d e r
Reproduktion (kopieren) mit einer bestimmten, nicht zu
großen Wahrscheinlichkeit Fehler auftreten und dadurch
eine Weiterentwicklung des Bauplans möglich ist. Es wird
also nicht nur Materie weitergegeben, sondern auch
Information für die Organisation von Materie vererbt.
Bei der Entwicklung diesen Hyperzyklen wird zwar noch kein
Leben erzeugt, aber im Laufe der Zeit zunehmend komplexere
Nukleinsäuren und die zugehörigen Proteine.
NB. Wenn es damals schon Copyright-Vorschriften gegeben hätte,
wäre die Evolution verhindert worden.
Dieser dissipative autokatalytische Prozess der zyklischen
Selbstreproduktion findet unter Verbrauch von Energie und
komplexeren Molekülen wie Phosphorsäure, Zucker und
Aminosäuren statt; einfachere Moleküle werden dabei
freigesetzt. Man kann den Prozess auch als Ko-Evolution von
Nukleinsäuren und Proteinen betrachten, als erste Form einer
Symbiose: Die beiden Molekül-"Arten" fördern sich gegenseitig.
Diese „Phylogenese“ von Molekülen ermöglicht die Entwicklung
höherer Komplexität. Das ist in der „Ontogenese“ materieller
dissipativer Systeme wie der BZR nicht möglich.
Nukleinsäure-Protein-Hyperzyklen unterliegen einer Evolution:
Hyperzyklen mit einer hohen Geschwindigkeit der Reproduktion
haben einen evolutionären Vorteil im Vergleich zu den
Hyperzyklen mit einer niedrigeren Geschwindigkeit, weil sie
sich schneller "vermehren". Da sie infolge der wechselseitigen
Autokatalyse prinzipiell zu einer sehr schnellen Vermehrung in
der Lage sind, ist ein zügiger Nachschub der Edukte wichtig
(Stoffwechsel). Dafür gibt es im Prinzip drei Möglichkeiten:
Mit den Edukten auskommen, die in der Umgebung verfügbar sind,
den Nachschub der Edukte „selbst organisieren“ oder anderswo
die Edukte schmarotzen:
Mit den verfügbaren Edukten (komplexe Makromoleküle,
s.o.) auskommen bedeutete eine Beschränkung der
Vermehrung der selbstreproduktiven Hyperzyklen.
„Selbst organisieren“, d.h. aus einfacheren Molekülen
die Edukte aufbauen, ergibt die Chance besserer
Versorgung
mit
Edukten
und
damit
höherer
Reproduktionsgeschwindigkeit. Dieser Weg hat evolutionär
zu den Zellen mit einer Hülle und vielen Hilfsprozessen
für den Stoffwechsel geführt. Beispiele sind Bakterien,
moderne Zellen und vielzellige Lebewesen.
Mit der Existenz der Zellen war auch die Möglichkeit für
„pure“ Nukleinsäure (Viren) gegeben, vom Stoffwechsel
der Zellen als Schmarotzer oder Symbionten zu
profitieren, indem sie in eine Zelle eindringen und den
Stoffwechsel zu ihren Gunsten umgestalten. Viren kennen
die Biochemie ihrer Wirtszelle sehr genau. Sie stehen an
der Grenze von nicht lebendig zu lebendig: Außerhalb
ihrer Wirtszellen sind „nur“ unbelebte Makromoleküle,
innerhalb aber lebendige Viren.
Die Zellen sind infolge ihrer Autarkie und ihrer enormen
Leistungsfähigkeit zum mainstream der Evolution geworden. Es
sind unerhört komplexe dissipative Systeme. Erst die Zellen
sind belebt, weil sie alle Eigenschaften von Lebewesen haben:
Sie sind von ihrer Umwelt abgegrenzt, haben einen Zellkern und
einen Stoffwechsel, organisieren und regulieren sich selbst,
können sich fortpflanzen und reagieren auf äußere Reize. Die
modernen Zellen (sog. Eukaryoten) mit Zellkern und Organellen
haben die Entwicklung der Mehrzeller bis hin zum Menschen
möglich gemacht.
Bild Mitose (Quelle: Wikipedia*). Als Mitose bezeichnet man
den Vorgang der Zellkernteilung bei eukaryotischenZellen. Im
Anschluss an die Kernteilung erfolgt meistens auch die Teilung
der Zelle, sodass aus einer Zelle zwei Tochterzellen
entstehen. Die roten und blauen Stäbchen stellen die
Chromosomen dar.
Abschließend möchte ich Ihnen noch eine Hypothese eines
globalen dissipativen Gesamtsystems der irdischen Biosphäre
vorstellen (L. Margulis, J. Lovelock), das nach der
griechischen Erdgöttin Gaia genannt wird: Die irdische
Biosphäre ist ein nichtlineares autopoietisches System, das
sich dynamisch selbst organisiert und regelt, und auch externe
Störungen bisher gut verkraftet hat. Seine Edukte sind die
Strahlungsenergie von der Sonne und das Material der Erde,
primär das von der Erdoberfläche. Sein globales Produkt ist
Entropie, die es mit der nächtlichen Abstrahlung in den
Weltraum exportiert. Die Basis des Systems Gaia ist das
unerhört robuste und beständige Ökosystem der Bakterien, nicht
nur als Basis der Evolution und bei der Umwandlung der
Biosphäre, sondern auch beispielsweise in Symbiosen mit
höheren Lebewesen als Darmbakterien und – last but not least –
bei der globalen Entsorgung und dem Recycling der Überreste
von Pflanzen und Tieren.
Durch die Photosynthese der Cyanobakterien (Blaualgen) als
autokatalytische Elemente wurden zunächst in vielen hundert
Millionen Jahren „Kleinarbeit“ alle Mineralien
Erdoberfläche oxidiert und anschließend vor etwa
der
1,5
Mio.Jahren die Biosphäre massiv zur „Sauerstoff-Wirtschaft“
umgestaltet. Ein wichtiger Teil davon ist die Ozonschicht als
Schutzschild des höheren Lebens vor der UV-Strahlung, an der
Wasseroberfläche und auf der Erdoberfläche. Sie ist durch eine
Rückkopplung der Bildung von Ozon aus Sauerstoff mit der UVStrahlung entstanden und wird von ihr weiter stabilisiert.
Seit das Leben auf dem Land aktiv ist, hat sich die
Zusammensetzung der Atmosphäre nur unwesentlich verändert. Die
Gaia-Hypothese besagt, dass das System „Leben“ selbst die
Zusammensetzung stabil hält, in einer Art Ko-Evolution des
Lebens mit der Biosphäre. Man hat den Eindruck, dass die
Gesamtheit der Organismen auf der Erde einen weltweiten
symbiotischen Organismus bilden. Gaia sei „Symbiose aus dem
Weltraum betrachtet“ (L. Margulis). Gaia ist in der heutigen
Form seit ca. 1,5 Mrd. Jahren „in Betrieb“ und ist damit die
größte und dauerhafteste autopoietische Struktur der Erde. Mit
Gaia hat das Leben seine Umgebungsbedingungen zum größten Teil
selbst
geschaffen.
Auch
periodische
Schwankungen
astronomischer Parameter, Asteroiden-Einschläge und Änderungen
der Sonnenaktivität hat Gaia bisher gut verkraftet. Die
größten Störungen in der jüngeren Gaia-Geschichte waren die
wiederholten Eiszeiten. Was bei der Ko-Evolution von Gaia und
der Menschheit herauskommt, sollten wir sorgfältig und
naturwissenschaftlich-nüchtern beobachten und managen.
*)
Quelle:
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hauptereignisse_der_Mi
tose.svg#/media/File:Hauptereignisse_der_Mitose.svg
Link zum Originalartikel beim Emergenz-Netzwerk
Links zu Dediés wb-Artikeln
Links zu Dediés Buch
Die Kraft der Naturgesetze, Günter
Dedié, Verlag tredition, zweite Auflage 2015.
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