Fünfhundert Namen für einen Sunnewirbel Liebe Liese Fünfhundert deutsche Namen soll er tragen, der Löwenzahn. In meinem Umkreis nennen wir ihn Chrottebösche, Söiblueme und Buggele. Der wissenschaftliche Name Taraxacum geht – je nach Quelle – aufs Griechische oder Arabische zurück. Im ersten Fall bedeutet taraxis = „Augenentzündung“ und akeomai = „ich heile“. Entsprechende deutsche Namen lauten „Augenmilch“ und „Augenwurz“. Im zweiten Fall bedeutet tarakshaquem = „bitteres Kraut“ und weist auf die verschiedenen Bitterstoffe hin, welche der Löwenzahn enthält. Im deutschen Name dagegen sind die gezahnten Blätter, die wie Löwenzähne anmuten, veranschaulicht. Vielfältig wird der Löwenzahn von Menschen wie Tieren genutzt. Die Blüten als Bienenweide, die Blätter als Futterpflanze für Raupen verschiedener Falterarten, die Wurzel für die Engerlinge des Maikäfers. Wir Menschen erfreuen uns des Löwenzahns als Augenweide, Delikatesse, Heilkraut seit alters her und als vielseitiges Spielzeug für unsere Kinder. Lass uns also diese Pflanze von der Blüte bis zur Wurzel genauer anschauen. Der Einfachheit halber, werde ich dir alle schweizerdeutschen Namen kursiv notieren. 1 Vielseitige Blüten Die Blüten leuchten von April bis Mai goldgelb auf satten Frühlingswiesen. Sie locken mit reichlich Nektar und Blütenpollen Insekten, vor allem Bienen an. Vereinzelt blüht die Märzeblueme bereits im zeitigen Frühjahr, vereinzelt bis spät in den November hinein. Die Blüten wurden früher zum Färben der Butter verwendet, daraus die Namen Anke- und Schmalzblueme. Blütenknospen können in einem Auflauf mitgekocht oder wie Kapern verwendet werden: 1dl Wasser mit 1 dl Weissweinessig und 2 Tl Salz aufkochen, eine Handvoll gut gewaschener Knospen darin blanchieren und in Gläschen füllen; mit dem Sud bedecken. Der Löwenzahn gehört zu den Korbblütengewächsen. Jede Blüte besteht botanisch gesehen aus einem Körbchen mit bis zu 400 einzelnen Zungenblütchen. Das Körbchen seinerseits ist von Hüllblättern umgeben und geschützt. Das ganze erscheint wie eine einzige grosse Blüte, man sagt dann auch, es sei eine Scheinblüte. Die einzelnen Blütchen öffnen sich ringförmig, von aussen nach innen. Ob die Blume deswegen im Baselbiet liebevoll mit der Sonne – Sunnewirbel – verglichen wird? Die Scheinblüte schliesst sich in der Nacht, bei Regen, Trockenheit und beim Verblühen. Dann aber brechen die Hüllblätter erneut auf und geben den mit Früchtchen besetzten Kopf preis; die „Pusteblume“. Die einzelnen Samen, die wie Fallschirmchen aussehen, fliegen bei Windstille bis zu 30 Meter weit, bei günstigen Windverhältnissen gar bis zu zehn Kilometern. Die Samen besitzen winzige Widerhäkchen und bleiben so an Bodenunebenheiten haften. Es kann Jahre dauern, bevor sie keimen. Finken, Stiglitze und Spatzen lieben den milchigen Samen. Dazu zerrupfen sie die Samenstände, kurz bevor sie aufgehen und die Früchtchen in alle Winde geblasen werden! Kann ein Kind widerstehen, in die Pusteblumen hineinzublasen? Das Liechtli auszublasen? Über das seidige Fell der „Schäfchenblume“ zu 2 streichen? Das Himmelsblüemli als Orakel zu befragen? Wenn es gelingt, alle Fallschirmchen wegzupusten, ist einem ein Wunsch frei, taucht gar ein schwarzer Punkt auf dem nackten Kopf auf, dann ist einem das Glück hold. Einen Löwenzahnkranz bastelt man, indem die Stängel hinter der Blüte eingeritzt und jeweils da hindurch eine neue Blüte eingefädelt wird. Chettiblueme, Chettenestuude oder Chettene sprechen diesen Gebrauch an. Löwenzahnblütenhonig: Zweimal zwei Handvoll Blüten werden in einem Liter kaltem Wasser langsam zum Sieden gebracht. Einmal aufwallen und über Nacht stehen lassen. Am nächsten Tag ein Kilogramm Zucker einrühren sowie eine halbe, in Scheiben geschnittene Zitrone beifügen. Langsam aufkochen lassen. Falls der Blütensirup zu wenig dick ist – er muss zähflüssig sein - erkalten lassen und nochmals langsam erwärmen. In saubere Gläser abfüllen. Stängel – vielseitiges Spielzeug Die Blütenstandstiele entspringen den Blattachseln und tragen je ein Blütenkörbchen. Auf ungestörten Standorten sind die Stängel 30 bis 50 Zentimeter lang, auf viel begangen Wegen und häufig gemähten Wiesen sind sie oft nur wenige Millimeter hoch. Das ermöglicht dem Löwenzahn Kuhtritte wie auch Rasenmäher zu überleben. Die Stängel sind blattlos, leicht befilzt und hohl, sie enthalten weisslichen, leicht kautschukhaltigen Milchsaft. Dieser klebt gut und hinterlässt braune Gummiflecken, die sich jedoch mit Milch oder Hautcreme leicht abwischen lassen. Milchstock, Milchig und Milchere deuten auf den milchigen Saft in Stängeln, Wurzeln und Blättern hin. Als Kinder klebten wir uns mit diesem natürlichen Leim Gänseblümchen an Finger und Ohrläppchen. Die Freude über die Schmuckstücke endete beim Abschrubben der Flecken mit Bürste und Seife am Abend abrupt. Die hohlen Stängel eignen sich hervorragend für den Bau von Wasserleitungen. Kinder benutzen sie bereits im Sandhaufen. Wer höher hinaus will, legt sich ein ganzes Wasserleitungssystem auf mehreren Stufen an. Als Zwischenstücke und Wasserreservoire nehmen die Kinder alte, mit einer Ahle vorgelochte Büchsen. Werden die Stängel längs eingerissen oder eingeschnitten, so„rugelen“ sich die 3 Stängelabschnitte zurück, sodass lustige Figuren entstehen (vgl. Foto). Legt man die Stängelstücke ins Wasser, so wird das Zurückrollen beschleunigt. Ob der Löwenzahn deshalb auch Ringele, Ringliblueme oder Söiringli heisst? Mit etwas Geschick können Löwenzahnstängel als „Flöten“ benutzt werden: Verschieden lange Stängelstücke abschneiden, an je einer Seite flachdrücken, den dabei austretenden Milchsaft abwischen und ins flache Stängelstück hinein blasen. Unterschiedliche Längen ergeben unterschiedliche Tonhöhen. Blätter - Franzosensalat Die Blätter des Löwenzahns wachsen unmittelbar über dem Boden als Blattrosette. Sie können hoch aufgerichtet und gross werden, oder aber flach am Boden aufliegen, das kommt auf die Umgebung an. Die Namen Ramschfädere, Weiefäcke und Löuezaa nehmen Bezug auf die Blattform. (Auf den Foto: Löwenzahn zwischen Pflastersteinen) Der Löwenzahn ist mit dem Kopfsalat und der Endivie eng verwandt. Junge Löwenzahnblätter können denn auch als Salat oder wie Spinat zubereitet werden. Falls nötig, legt man die Blätter eine Stunde ins Wasser, um die Bitterkeit der Blätter zu verringern. 1871 wurde die ganze französische, geschlagene Bourbaki – Armee mit 87'000 ausgehungerten Soldaten in die Schweiz gelassen. Das war die erste gross angelegte humanitäre Hilfe der damals noch jungen Schweiz. Das Bourbaki Panorama in Luzern erinnert noch heute an diese Geschehnisse sowie die Bezeichnung „Franzosensalat“ für Löwenzahn, eine altbekannte französische Delikatesse. Wurzel - Ziggorie Die Pfahlwurzel reicht in eine Tiefe von einem bis zwei Metern in den Boden hinein. Sie ist jener Teil der Pflanze, der als Nährstoffspeicher, mit 4 einem kurzen Erdspross überwintert. Für die Bodenökologie sind solch tief reichende Wurzeln wichtig: Sie lockern den Boden und entwässern verdichtete Böden. Die getrocknete und geröstete Wurzel wurde in der Nachkriegszeit als Ersatz des Ersatz-Kaffees (Wegwarte) gebraucht. Wegen ihres hohen Mineralstoff- und Vitamingehalts ist sie nach wie vor ein wertvoller Kaffeeersatz. Eine Pflanze der anderen Art Die meisten Lebewesen besitzen in ihren Zellkernen einen doppelten Chromosomensatz. So auch ein Teil des Löwenzahns (31%): Mit Insekten oder Windbestäubung wird der männliche Pollen auf die weibliche Narbe der Blüte gebracht. Pollen und Ei haben je einen Chromosomensatz, durch die Verschmelzung entsteht wiederum ein Individuum mit einem doppelten Chromosomensatz und auf diese Weise werden zugleich die Gene ausgetauscht. Soweit ist alles in Ordnung. Nun gibt es bei Löwenzahn Individuen, die einen dreifachen Chromosomensatz besitzen (ca. 68%). Diese Pflanzen können ohne den Umweg der Bestäubung Nachkommen produzieren, man nennt dies deshalb „Jungfernzeugung“. Und schliesslich gibt es Löwenzahn mit einem vierfachen Chromosomensatz (ca. 1%). Wenn der Pollen dieser Pflanzen auf die Narben von „normalem“ Löwenzahn gelangt, so entsteht Löwenzahn mit einem dreifachen Chromosomensatz. Es ist also ungemein schwierig, den Löwenzahn mit den sonst üblichen Methoden auf eine einzige Art festzunageln. Die Botaniker behelfen sich mit einer Sammelart (Taraxacum officinale) und weil dies wegen kaum möglicher Abgrenzungen zu anderen Sammelarten nicht genügt, mit einer Sektion (Ruderalia Gattung Taraxacum). Je nach Autor gehören zwischen einer bis mehreren tausend Arten in diese Sektion. (auf dem Bild eine „Dreifachblüte“ kurz vor der Fruchtreife: Mutation oder Art?) 5 Doch selbst wenn du eine Löwenzahnwurzel halbierst und sie vergräbst, so werden trotz absoluter Erbgleichheit zwei andersartige Pflanzen wachsen, die sich in Blattform, Blattgrösse, Stängelhöhe, Blütenzahl usw. unterscheiden können. Heilsames Unkraut In der Volksheilkunde wird der Löwenzahn vielfach verwendet. Wirkung: harntreibend, anregend auf Gallensaft-, Magensaft- und Bauchspeicheldrüsensekretion, tonisierend, stoffwechselanregend. Er enthält Bitterstoffe (Taraxacin), Vitamine B und C, Nicotinsäure („Anti-Pellagra-Vitamin“) und Mineralstoffe. Die harntreibende Wirkung hat sich in den Namen „Pissblume“, Bettseicherli, Saichblueme und französisch „Pissenlit“ niedergeschlagen. Liebe Liese. So selbstverständlich bereichert sie im Frühling unsere Wiesen, so ungeachtet säumt sie unsere Wege. Ich bin selber überrascht und berührt, welch ungeahnte Vielfalt sich hinter dieser Himmelsblueme und Tüfelsblueme verbirgt - eine Pflanze der ganz anderen Art! Verena Quellen: Sprachatlas der deutschen Schweiz, Karte 123; Maria Treben, Gesundheit aus der Apotheke Gottes; rb edition, Heilpflanzen und ihre Kräfte; Wikipedia. 6