«Früher hat man gepaukt und gebüffelt»

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lehrabschluss 2013
Eine Beilage der | Freitag, 19. Juli 2013
«Früher hat man gepaukt und gebüffelt»
Glaubt man den Vorwürfen
der SVP, geht es in der Volks­
schule drunter und drüber:
Mathematik und Deutsch
würden vernachlässigt,
Fremdsprachen zu früh ein­
geführt, es herrschten Chaos
und Lärm. Was sagt unser
Bildungsminister dazu?
Schulzimmer haben. Wenn man behauptet, die Schule bereite nicht mehr auf
das Leben vor, ist das eine ­inakzeptable
Diskreditierung der Lehrer, die sie
nicht verdient haben, weil sie schlicht
und einfach nicht zutrifft.
Intensiver Grundlärm, sagen Sie,
ein Sprachsummen …
Amsler: Ja, emsiges Arbeiten löst
einen gewissen Grundlärm aus, das ist
wie bei den Bienen; als Wildbienenfreund bin ich damit bestens vertraut
(lacht).
VON Ulrich Schweizer
Der Lehrplan 21 ist in der Vernehm­
lassung, doch schon im Vorfeld wurde
seitens der Schweizerischen Volkspar­
tei der Vorwurf laut, die Volksschule
bereite zu wenig auf die Berufswelt
vor. Christian Amsler, was sagen Sie
als Vorsteher des Schaffhauser Erzie­
hungsdepartements und als Präsident
der deutschschweizerischen Erzie­
hungsdirektorenkonferenz dazu?
Christian Amsler: Etwas Grundsätzliches vorweg: Ich finde es äusserst positiv, dass eine grosse Schweizer Partei
mit politischer Führungsverantwortung
sich überhaupt mit Bildungsfragen – der
Volksschule, aber insbesondere auch
der Berufsbildung – auseinandersetzt.
Das ist lobenswert, und das vermisse
ich zum Teil vonseiten der anderen
grossen Parteien, unter anderem auch
von meiner eigenen Partei. Bildung ist
ein eminent wichtiges Gut, entscheidend für den Fortbestand des Erfolgsmodells Schweiz, und da finde ich es
ganz wichtig, dass die grossen politischen Gruppierungen sich prominent,
neben vielen andern Themen, ganz fokussiert auch mit der Bildung unserer
«Emsiges Arbeiten löst
einen gewissen Grundlärm
aus, das ist wie bei den
Bienen»
«Ich bin froh, dass sich unsere Schule entwickelt hat und weiterentwickeln kann»,
­bekennt der Schaffhauser Erziehungsdirektor Christian Amsler.
Bild Ulrich Schweizer
unterricht wird aus meiner Sicht genug Platz eingeräumt, aber gegenüber
früher wird wohl etwas weniger Wert
gelegt auf Diktate, Auswendiglernen
und schöne Schrift. Ich will unsere Jugend hier aber verteidigen, ich finde,
die Jugendlichen von heute kommunizieren viel mehr, als wir es früher taten. Wir haben miteinander gespielt,
im Wald und am Bach, aber heute kommunizieren die Jungen praktisch rund
um die Uhr, auch schriftlich – das sehe
ich auch bei meinen drei Jungen daheim – zugegebenermassen in einer
­etwas anderen Sprache und nicht völlig
fehlerfrei.
Jugendlichen und Kinder auseinandersetzen. Zum politischen Programm der
SVP gehört aber auch, dass die Sachen
etwas holzschnittartig und schwarzweiss abgebildet werden – da habe ich
auch gar nichts dagegen, das hat auch
mit Marketing zu tun, und die Erfolgsstory der SVP zeigt ja, dass sie damit
durchaus auch ihre Wählerschichten
abholen konnte. Ich glaube aber, und
das ist eine ganz persönliche Meinung
aus tiefstem Herzen, dass die Bildung
und insbesondere die Arbeit mit unseren Jugendlichen, gerade auch der Übergang von der Volksschule in die Berufswelt, mehr verdient hat als reines
Schwarz-Weiss-Denken. Nicht nur die
SVP, auch andere Parteien missbrauchen das Thema Bildung ja gerne für
ihre politischen Programme und ihren
politischen Erfolg … da ist genaueres
Hinsehen notwendig, Oberflächlichkeit
haben unsere Kinder nicht verdient.
Die SMS-Kürzel deuten darauf hin,
dass die Sprache sich in einem grösse­
ren Umbruch befindet, was Grammatik
und Rechtschreibung betrifft. Ein
­gestandener Lehrmeister kennt sie
vielleicht schlicht nicht …
Amsler: Wir Erwachsenen müssen
aufpassen, dass wir unsere Jungen
nicht dauernd in alte Bilder pressen
und die gute alte Zeit heraufbeschwören wollen. Den Jungen von heute sind
vielleicht andere Inhalte wichtig. Wir
müssen uns in der Bildung nicht hundertprozentig darauf einstellen, aber
wir müssen zumindest mit der Zeit
­gehen und herausfinden, wie wir uns
dazu stellen. Nehmen wir zum Beispiel
den neuen Duden, der gerade herausgekommen ist: Da sind ganz viele neue
Wörter aufgenommen worden, und das
zeigt doch, dass Sprache etwas Lebendiges ist, in stetem Wandel begriffen.
Sprache bedeutet Kommunikation, und
entscheidend ist doch, dass wir kommunizieren können, dass man sich versteht. Das soll aber nicht heissen, dass
ich einer Laisser-faire-Haltung das
Wort rede. Ich lege Wert darauf, dass
auch die Jungen sich gut und präzise
ausdrücken können.
Schauen wir doch genauer hin: Da
wird der Vorwurf erhoben, es bestünden
Defizite in der Muttersprache Deutsch
und in Mathematik …
Amsler: Das sind die klassischen
Hauptfächer, da kann ich nur sagen,
dass unsere Lehrerinnen und Lehrer,
die Schule insgesamt, diese beiden
­Fächer mit den Kinder ganz intensiv
behandeln, da gibt es keine Änderung
gegenüber früher. Aber die Sprache
selbst ändert sich natürlich laufend,
das kann jeder beobachten: Die Jungen
sind, gerade was die Muttersprache
­betrifft, sehr vielen Einflüssen ausgesetzt, die auf sie einprasseln – die Sprache neuer Medien wie SMS und Facebook lässt grüssen. Viele Kinder in
unserem Land sind aber auch konfrontiert mit diversen anderen Sprachen,
nicht nur Französisch und Englisch –
denken Sie an Kinder mit Migrationshintergrund, die andere Muttersprachen
haben. Dem Sprach- und Mathematik-
Die Jungen in alte Bilder pressen,
­sagen Sie – tatsächlich kamen mir
beim Lesen der Kritik am heutigen
Schulsystem Bilder eines längst ver­
gangenen Schulalltags vor Augen, wie
von Albert Anker gemalt … Will man
bei der SVP die ganze Welt einschliess­
lich der Berufswelt dem Bild einer
­heilen Schulwelt anpassen?
Amsler: Das ist ein ganz entscheidender Punkt: Die Berufswelt entwickelt
sich ja auch, heute wird viel schneller
und unter grossem Zeitdruck agiert.
Das verlangt von den jungen Menschen, die in die Berufswelt hineinwachsen, ein sehr hohes Mass an Flexibilität, schnellem Reaktionsvermögen
und Auftrittskompetenz. Sie dürfen
sich, bildlich gesprochen, in dem rauen
Wind nicht einfach umblasen lassen.
Gerade in dieser Hinsicht hat die
Schule extrem reagiert in den letzten
Jahrzehnten. Früher hat man gepaukt
und gebüffelt, eine Prüfung geschrie-
ben – und dann «aus den Augen, aus
dem Sinn»! Bei den diversen von mir
besuchten Schulen habe ich gesehen:
Die stehen da, diese Leute, die haben
eine Auftritts- und Sozialkompetenz,
die schon von früh an in der Volksschule gefördert und geübt wird, durch
Vorträge und Präsentationen vor der
ganzen Klasse. Solche Sachen sind
­entscheidend für das Bestehen in der
heutigen Berufswelt.
Wie wird diese Sozial- und Auftritts­
kompetenz in der Schule vermittelt?
Amsler: Gegenwärtig stehen sich zwei
Modelle gegenüber: Hier der Frontalunterricht, der durch die Studie «Visible Learning» des neuseeländischen
Bildungsforschers John Hattie rehabilitiert wurde – da der sogenannte Lerncoach, der Lernbegleiter, der still im
Hintergrund wirkt und die Schüler
selbstverantwortlich lernen lässt. Das
sind zwei Extrembilder, die aber beide
unbedingt Platz haben müssen in der
Schule, ich bin völlig überzeugt, dass
beides im Unterricht sein Gutes hat.
Unsere Lehrerinnen und Lehrer wechseln die Methoden virtuos, in einem
­guten Unterricht gibt es einmal in einer
Lektion Frontalunterricht, dann aber
auch wieder Gruppenarbeiten und
selbst gesteuertes Lernen, es braucht
diesen Mix. Der Lehrplan 21 greift überhaupt nicht ein in diesen Mix, die
­Methoden- und Unterrichtsfreiheit der
Lehrerinnen und Lehrer ist gewährleistet. Sie sind die Fachleute des Lernens,
es wäre verheerend, wenn von aussen,
von welcher Seite auch immer, ob von
Parteien, der Berufs- und Wirtschaftswelt oder dem Erziehungsdirektor, den
Lehrern dreingeredet würde, wie sie
zu unterrichten haben.
Es geht um etwas, was auf den ersten
Blick paradox klingt – nämlich das
Festhalten an der Flexibilität …
Amsler: Genau. Innerhalb einer Lektion macht eine Lehrerin, ein Lehrer ja
meistens einen Mix aus verschiedenen
Unterrichtsformen. Im Fremdsprachenunterricht sind das Arbeiten, Lesen
und Reden in Zweiergruppen ganz entscheidend: Frage-Antwort-Spiel – so
kommen alle gleichzeitig zum Zuge,
können üben und sich gegenseitig korrigieren, das ist Intensität des Sprechens, effizientes Lernen. Natürlich geht
das nicht ohne einen gewissen Grundlärm des Lernens. Wenn SVP-Präsident
Toni Brunner von der Pamir-Schule
spricht, will er damit antönen, dass zu
viel Unruhe und Hektik herrscht. Bei
meinen vielen Schulbesuchen sehe ich
das Gegenteil: konzentriertes und
­gutes Schaffen, bei Partnerarbeiten
herrscht ein intensiver Grundlärm,
aber überhaupt kein Chaos. Wer das
angreift, desavouiert damit die Arbeit
unserer Lehrerinnen und Lehrer, die
durchaus Ordnung und Struktur im
Der Lehrplan 21 wurde aber nicht nur
für Bienenvölker zusammengestellt …
Amsler: Der Lehrplan 21 legt grossen
Wert auf Leistung. Es geht aber nicht
um blosses Bunkern von Wissen, sondern um das Vermitteln von Kompetenzen im Anwenden des Wissens und im
Auftreten. Die 21 Kantone mit deutschsprachiger Bevölkerung haben sich
­zusammengefunden, um miteinander
diesen Lehrplan aufzustellen, die Bildungsinhalte der Volksschule zu ko­
ordinieren. Zugrunde liegt ihm der
­sogenannte Bildungsartikel (Bundesverfassung § 62), der vom Schweizer
Stimmvolk 2006 mit einer überragenden Mehrheit von 86 Prozent Ja-Stimmen angenommen wurde. Die Koordination der Bildungsinhalte erleichtert
Familien mit Kindern im schulpflich­
tigen Alter den Umzug von einem Kanton in den anderen, und damit stellt
sich die Schule auf die Realität in der
Berufswelt ein. Das Erarbeiten gemeinsamer Lehrmittel sowie Aus- und Weiterbildung der Lehrerinnen und Lehrer
sind weitere Ziele des Lehrplans 21. Er
ist ein Füllgefäss, das zu 80 Prozent
verbindlich sein soll, aber die Hoheit
verbleibt bei den Kantonen.
Und was ist mit dem letzten Fünftel?
Amsler: 20 Prozent sind frei und können von jedem Kanton ganz individuell
bestimmt werden. Im Kanton Obwalden, sagt mein Kollege Franz Enderlin,
werden zum Beispiel das Leben und
Wirken von Niklaus von Flüe und das
Weisse Buch von Sarnen mit einbezogen, bei uns im Kanton Schaffhausen
kann ich mir vorstellen, dass im Bereich Natur, Mensch und Gesellschaft
der Rhein und der Rheinfall einen
Schwerpunkt bilden. Was die Stundentafel betrifft, liegt der Kanton Schaffhausen ziemlich genau im Mittelfeld
zwischen dem stundenintensivsten
Kanton Wallis und dem Kanton Luzern,
da haben wir praktisch Idealmasse. Die
ILZ, die Interkantonale Lehrmittelzen­
trale mit Sitz in Rapperswil, wird per
Anfang 2014 ganz neu aufgestellt sein.
Da habe ich sehr positive Signale erhalten, alle Kantone der Deutschschweiz
werden mit dabei sein, wohl auch die
noch fehlenden Schwyz, Nidwalden
und Obwalden. Gerade für kleinere
Kantone wäre die Produktion eigener
Lehrmittel ja wegen zu kleiner Auf­
lagen wirtschaftlich ein Unding, und
für umziehende Familien ist es ärgerlich, wenn ein Kind in der 4. Klasse in
Englisch je nach Lehrmittel ganz woanders steht.
Ganz am Schluss sollte ein Kind sich
auf Englisch verständigen können,
­unabhängig vom Lehrmittel. Generell
ist der Fremdsprachenunterricht aber
seit der Einführung von Frühenglisch
doch ein heisses Eisen …
Amsler: Da haben wir ein typisches
Abbild unseres mehrsprachigen Landes
und seines Föderalismus – die Romandie, die Deutschschweiz, der Kanton
Graubünden mit dem Rätoromanisch
und das Tessin. 2004 kam die EDK in
der sogenannten Sprachenstrategie
zur Erkenntnis, dass frühes Erlernen
einer Fremdsprache für Kinder absolut
förderlich ist. Unser heutiger Ständerat Hannes Germann, nota bene SVP,
machte damals im Kantonsrat eine Motion zur Einführung von Frühenglisch
in Schaffhausen, die überwiesen
wurde, sodass wir schon zu einem relativ frühen Zeitpunkt auf das Modell 3/5
kamen, das heisst: Beginn mit der ersten Fremdsprache in der 3. Primarklasse, eine zweite in der 5. Klasse. In
der Deutschschweiz fangen die meisten Kantone mit Englisch an. Dahinter
steckt die Überlegung, dass die Jungen
sehr gern Englisch sprechen, sehr
­motiviert sind und schnell lernen und
dass, wenn man einmal eine gute Basis
in Englisch hat, auch das Französische
in der 5. Klasse gut gelingen wird. Abgesehen vom Kanton Graubünden und
vom Tessin haben wir drei Regionen in
der Schweiz: Die Romandie führt bis
2015 auch das Modell 3/5 ein, mit
Deutsch ab der 3. Klasse und Englisch
ab der 5. Klasse. Dann gibt es an der
Sprachgrenze die sechs sogenannten
Passepartout-Kantone, die in der
3. Klasse mit Französisch beginnen:
die zweisprachigen Kantone Wallis,
Bern und Fribourg sowie die Kantone
Solothurn, Basel-Stadt und Baselland,
die der Sprachgrenze sehr nahe sind.
Und in der Deutschschweiz? Wie sieht
es da aus?
Amsler: Die Deutschschweizer Kantone haben das Modell 3/5 mit Englisch
als erster und Französisch als zweiter
Fremdsprache, mit Ausnahme des Kantons Appenzell Innerrhoden, der das
Modell 3/7 hat, und des Kantons Zürich,
wo seit Buschors Zeiten das Modell 2/5,
mit Frühenglisch schon in der 2. Klasse,
in Kraft ist. Das HarmoS-Konkordat
fordert übrigens nicht zwingend das
Modell 3/5, sondern bloss, dass in der
Volksschule zwei Fremdsprachen gelernt werden, die eine spätestens ab
dem 5., die zweite spätestens ab dem
7. Schuljahr. Das will die Erziehungsdirektorenkonferenz aber nicht, weil wir
uns jetzt für das Modell 3/5 entschieden haben und für dessen Einführung
einen Riesenaufwand betrieben haben.
«Ich fände es falsch,
wenn man den Jungen
das Sprachenlernen
vorenthielte»
Auch unsere Schaffhauser Lehrerschaft
wurde intensiv darauf vorbereitet, mit
Sprachaufenthalten und sprachdidaktischen Kursen, bei uns läuft das schon.
Wir hatten bereits eine Evaluation
unseres Frühenglisch und bekamen
von der Fachhochschule Nordwestschweiz, die das untersuchte, hervor­
ragende Noten. Das hat mich sehr
­gefreut, und es zeigt, dass wir auf
einem guten Weg sind. Wir müssen
­andererseits aber auch die Zeichen aus
der Lehrerschaft ernst nehmen, wenn
sie sagen, gewisse Kinder seien mit
dem Modell 3/5 überfordert, die Schule
sei zu sprachlastig.
… auf Kosten der Mathematik und der
Naturwissenschaften …
Amsler: Mit der MINT-Initiative wollen der Bund und die Kantone jetzt
­Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik fördern. Das
­ergibt einen Zielkonflikt, eine Konkurrenz hinsichtlich der Schwerpunkte in
der Schulstube. Aber ich bin überzeugt,
dass wir das gerade erst aufgegleiste
System nicht sofort wieder kippen
­dürfen, bloss weil es da und dort Probleme gibt. Das ist ja genau das, was der
Schule von der SVP und einigen Lehrern gegenwärtig vorgeworfen wird:
Reformitis – sie handle zu schnell, hektisch und unüberlegt. Das wäre verheerend in der jetzigen Situation. Dass
man später, aufgrund einer gewissen
Erfahrung, sauber evaluiert und Anpassungen vornimmt, damit habe ich
keine Probleme – aber sicher nicht im
jetzigen Moment; dauernd an den
Fremdsprachen herumrütteln zu wollen, finde ich fahrlässig. Sprachen sind
etwas Essenzielles und wichtig für die
Jugend in der heutigen Welt, wo sehr
viel Austausch stattfindet. Ich fände
es falsch, wenn man den Jungen das
Sprachenlernen vorenthielte. Das käme
einem Lernverbot gleich.
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