2. Bayrische - Autismustage Bildungswerk Irsee 19. bis 21.07.2013 Autismus und geistige Behinderung Sebastian Schlaich Die St. Lukas Klinik ist eine Fachklinik für Menschen mit Behinderung. Ihrem speziellen Auftrag folgend arbeiten wir mit Patienten, die neben sensorischen und motorischen Beeinträchtigungen auch unter kognitiven Einschränkungen leiden. Ein Schwerpunkt unserer Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie ist die Arbeit mit autistischen Kindern und Jugendlichen. Häufig sind Krisen mit schweren expansiven und zwanghaften Verhaltensweisen oder auch massivem Rückzug und Autoaggression die Indikation für eine stationäre Behandlung. In diesem Zusammenhang will ich heute über unsere Erfahrungen mit kognitiv behinderten und autistischen Kindern und Jugendlichen berichten. Eine geistige Behinderung (g.B.) zeichnet sich durch eine verzögerte und unvollständige aber, in ihrem reinen Bild als weitestgehend harmonische Entwicklung aus. Die Meilensteine werden verzögert aber im Vergleich zu nicht behinderten Kindern in analogem Ablauf erreicht. Wie weit die Entwicklung voranschreitet hängt primär vom Ausmaß der kognitiven Einschränkungen ab. Nach dem ICD 10 wird die g.B. als Zustand verzögerter oder unvollständiger Entwicklung der geistigen Fähigkeiten definiert und in verschiedene Schweregrade mit und ohne zusätzliche Verhaltensauffälligkeiten eingeteilt. Eine Intelligenzstörung kann allein oder zusammen mit jeder anderen psychischen oder körperlichen Störung auftreten. Eine autistische Störung (ASS) ist nach ICD 10 eine tiefgreifende Entwicklungsstörung und zeichnet sich durch qualitative Abweichungen in den wechselseitigen sozialen Interaktionen und Kommunikationsmustern und durch ein eingeschränktes, stereotypes, sich wiederholendes Repertoire von Interessen und Aktivitäten aus. Bei betroffenen Kindern findet sich im Vergleich zu gesunden wie auch g.B. Kindern und Jugendlichen häufig eine dysharmonische, heterogene Entwicklung. Nach Boelte ist eine klare Differenzierung zwischen autistischen Störungen und Verhaltensauffälligkeiten, die sich im Rahmen einer kognitiven Einschränkung entwickeln, möglich. Dazu werden u.a. qualitative und quantitative Unterschiede in Bezug auf Kommunikationsverständnis, Sprach- und Spielentwicklung, Stereotypien, Störungen der sozialen Perzeption und der Empathie, Sonderinteressen u.a. herangezogen. Dosen betont neben der kognitiven Entwicklung insbesondere den emotionalen Entwicklungsstand als wichtiges Merkmal für die Zuordnung einer Störung. Hier findet sich bei autistischen Kinder und Jugendlichen, ebenso wie in ihrer kognitiven Entwicklung, ein deutlich inhomogenes Entwicklungsprofil. Aus vorgenannten Gründen entwickeln sich also autistische Kinder mit einer geistigen Behinderung anders und meist auffälliger als Kinder mit einer geistigen Behinderung ohne ASS-Komorbidität. Die Unterscheidung zwischen den Verhaltensmerkmalen der einen von der anderen Störung und nicht nur die Formulierung „geistige Behinderung mit Verhaltensstörung“ ist aus unserer Sicht aber elementar,: ein Kind mit einer rein geistigen Behinderung profitiert von einem vielfältigen Förderangebot z.B. in Form einer intensiven Begleitung, sonder- und heilpädagogischer Förderung sowie vielfältigen sozial angemessenen Begegnungen für eine möglichst große Entfaltung seiner Fähigkeiten. Dem gegenüber benötigt ein autistisches Kind mit einer geistigen Behinderung einen speziell im Umgang mit seinen autistischen Merkmalen (Rückzugsbedürfnis, Stereotypien, Tic’s, körperliche Nähe usw.) entwickeltes Fördern und Begleiten. Sofern die autistische Verhaltenssymptomatik abgegrenzt und beachtet und ihr im Alltag spezifisch begegnet wird, können die kognitiven Möglichkeiten oftmals genutzt werden und sich weiterentwickeln. Daher ist die Differenzierung eine grundlegende Voraussetzung für eine entsprechende Förderung und Entwicklung. Die Kinder, die in unserer Ambulanz vorgestellt werden, haben in der Regel eine kognitive Störung (F 7x.x) und zeigen Verhaltensauffälligkeiten. Diese haben häufig einen zwanghaften, expansiven und hyperkinetischen Charakter, etwas seltener kommen aber auch ausgeprägtes Rückzugsverhalten, Mutismus, Katatonie und selbstverletzendes Verhalten vor. Zusätzlich vordiagnostiziert sind häufig Diagnosen von (idealerweise) ASS über F 7x.1, ADHS, Störung des Sozialverhaltens, Angst- und Zwangsstörung und affektive Störungen. In einer stationären Behandlung im Kontext der sozialen Umgebung der Station zeigen sich oft Merkmale, die eindeutig auf eine ASS hinweisen. Insbesondere das Kontaktverhalten zu den Mitpatienten und den Angestellten führt dazu, differentialdiagnostisch unser Augenmerk auf weitere Auffälligkeiten aus dem ASS zu richten. Zehenspitzengang, motorische und verbale Stereotypien, fehlende Modulation der Sprachmelodie und – lautstärke, weniger spielerischer als funktionaler Umgang mit Spielzeug und anderen Materialien sind regelmäßig zu erkennende Besonderheiten, die in Summe mit der auffälligen sozialen Interaktion differentialdiagnostisch eine ASS wahrscheinlich machen. Ergänzend können in diesem Stadium der Diagnostik ergänzend eine symptombezogene Erhebung der Anamnese, ein ADI-R, ein ADOS sowie andere spezielle Testverfahren durchgeführt werden. Wenn sich die Eindrücke verdichten und eine ASS sicher diagnostiziert werden kann, stellt sich das akademische Dilemma der korrekten Differentialdiagnose innerhalb der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen: F 84.0, F 84.1, F 84.4 oder gar sehr spezifisch F 84.2 oder F84.3. Diese ASS gehen in der Regel mit einer kognitiven Störung einher. Für alle diese Kategorien sind redundante, kognitive und kommunikative Störungen vorausgesetzt. Ob sich eine Störung typisch oder atypisch darstellt, ob die hyperkinetische Komponente dominant im Vordergrund steht - diese Differenzierungen sind sehr unscharf voneinander abzutrennen. Darüber hinaus sehen wir auch nicht selten Kinder oder Jugendliche mit einer ASS die bezüglich ihrer kognitiven Fähigkeiten ebenfalls nicht eindeutig (F 7x.x) diagnostiziert werden können, sei es, weil sie ein zu heterogenes Testprofil und ebenso vielschichtiges Handlungsrepertoire aufweisen, sei es , weil sie einer standardisierten Testdurchführung gar nicht zugänglich sind. Viele unserer Patienten mit kognitiver Einschränkung und ASS haben ein zugrundeliegendes Syndrom oder lassen ein solches vermuten. Hier könnte man von einem syndromalen oder auch syndromassoziierten Autismus sprechen. Spezifische Syndrome, die mit autistischen Wesensmerkmalen und einer kognitiven Störung einhergehen sind z.B. das Rett-Syndrom (F 84.2) oder die Desintegrative Störung des Kindesalters (F 84.3). Mittlerweile kennen wir verschiedenste Syndrome mit einer gehäuften Komorbidität von ASS und g.B. Häufige Syndrome die in unserer Abteilung regelmäßig vorgestellt werden sind: Down Syndrom, Tuberöse Sklerose, Prader Willy-Syndrom, Smith Magenis Syndrom, Fragiles-XSyndrom , Cornelia-de-Lange Syndrom, Turner Syndrom, Klinefelter Syndrom aber auch seltene Syndrome (Noonan Syndrom, …) die ebenfalls typische Merkmale einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung, einer kognitiven Störung und darüber hinaus auch häufig weitere (syndrom-) assoziierte Komorbiditäten (Sinnesbehinderungen, Epilepsie, ICP , Hydrocephalus, u.a.) aufweisen. Von dieser syndromassoziierten Subgruppe sind zwei weitere Gruppen differentialdiagnostisch von Bedeutung und abzugrenzen: Kinder mit prä-, peri.- und postnatalen Schädigungen (FAS, Frühgeburtlichkeit, intrauterine oder prä-, peri-, postnatale Infektionen, Geburtstraumata mit häufig hypoxischer Hirnschädigung, Ikterus neonatorum, u.a.) sowie Kinder mit sekundärer ZNS-Schädigung (Unfälle, Intoxikationen, Stoffwechselstörungen, u.a.). Eine weitere Gruppe, die letztendlich nur phänotypisch dazu zu zählen ist, sind aus meiner Sicht Kinder mit sogenanntem sekundärem ASS, Kinder die aufgrund schwerster Deprivation, vermutlich in Verbindung mit einer g.B., zu der Symptomkonstellation einer ASS (qualitative Abweichungen in den wechselseitigen sozialen Interaktionen und Kommunikationsmustern und ein eingeschränktes, stereotypes, sich wiederholendes Repertoire von Interessen und Aktivitäten) gekommen sind. Hier handelt es sich um eine maximale Ausprägung einer schweren Bindungsstörung (Kaspar-Hauser Syndrom), die wie eine frühkindlich autistische Symptomatik imponiert. Auch diese Kinder haben ein schwer einzuschätzendes kognitives Profil. Allerdings sind sie, je nach Ausmaß ihrer Bindungsstörung, in der Lage, durch Wechsel des Milieus in eine positive kognitive und soziale Entwicklung zu kommen, die sie zum Teil ganz, zum Teil nur in bestimmten Kompetenzen aus ihrer „autistischen Isolation“ herausführt. In einigen Fällen führt eine Mischung verschiedener Problematiken (z.B. FAS, Bindungsstörung, PTBS, und neurologisch, hirnorganischen Ursachen wie Epilepsie oder Z.n. Battered Child) zu einer nicht durchdringbaren Agglomeration möglicher Ursachen für die Auffälligkeiten. Festzustellen ist, dass sich bei schwerer Hirnschädigung wie auch bei schwerer Deprivation letztendlich eine gemeinsame phänotypisch „autistische Endstrecke“ im Verhalten entwickelt. Vermutlich liegt für viele Formen der ASS eine bislang unklare genetische Prädisposition vor. Hierfür spricht die Häufung an ASS in manchen Familien, im klinischen Alltag phänotypisch erkennbare Subgruppen von Kindern mit ASS mit spezieller Facies und spezifischen Verhaltensmustern, aber auch der bisher fehlende Nachweis für viele Kinder mit ASS einer anderen erkennbaren Ursache. Aufgrund der vorgenannten heterogenen Ursachen einer ASS sind auch viele verschiedene Behandlungsmöglichkeiten gegeben und sinnvoll. Während bei Kindern mit einer tuberösen Sklerose die Optimierung einer antikonvulsiven Therapie mehr bewirken kann als sämtliche spezielle heilpädagogische Förderung, kann bei einem Kind mit einem Down-Syndrom umgekehrt die heilpädagogische Förderung und Psychoedukation der Bezugspersonen genau die richtige Hilfe sein. Ein Kind mit sekundärem Autismus benötigt ein grenzsetzendes, fürsorgliches und empathisches Umfeld. Ein Kind mit idiopathischem oder anders ausgedrückt genetisch bedingtem frühkindlichem Autismus profitiert eher von einem reizabschirmenden, vor Überforderung in sozialen Belangen schützenden Entwicklungskonzept mit speziell aufeinander abgestimmten Therapien (Physio-, Logo-, Ergotherapie, SKT, ABA, u.a.). Die oft herausragenden Leistungsinseln verführen gerade bei Kindern mit der Mischung aus ASS und g.B. dazu, diese über Gebühr zu fördern (Überforderung auch als Vorbedingung für schwere sekundäre Komorbiditäten wie Psychosen und paranoides Denken). Dies kann zu schwierigen Interaktionsstörungen führen. Hier sollte die Förderung der kognitiven Fähigkeiten immer in Abstimmung auf die sozialen und emotionalen Kompetenzen des autistischen und kognitiv beeinträchtigten Kindes oder Jugendlichen ausgerichtet sein. Grundsätzlich ist jedoch immer von einem mehr oder weniger ausgeprägten Defizit an sozialer Anpassungsleistung bei dem betroffenen Kind oder Jugendlichen auszugehen und von daher muss neben der Behandlung des Verhaltens des Betroffenen selbst, insbesondere durch eine Anpassung der Umgebungsvariablen an das Kind eine Veränderung hervorgerufen werden, um bezüglich herausfordernder Verhaltensweisen Veränderungen zu erzielen. Die Therapie entsprechend der zugrundliegenden Störung, der Verhaltensmerkmale, der Komorbiditäten und der sozialen Möglichkeiten (Leben in einer Familie, einem heilpädagogischen Heim, einer Spezialeinrichtung, …). Neben den sogenannten verhaltens- und milieutherapeutischen Einflussmöglichkeiten können je nach auffälligem Verhalten oder Störungsbild auch sozial und kommunikationsunterstützende Methoden (TEACCH, PECs, Individualbegleitung u.a.), pharmakologische Behandlung, aber auch mechanische Hilfsmittel wie Schutzhelm oder Schutzhandschuhe bei (auto-)aggressivem Verhalten hilfreich sein. Häufig aufgrund des Schweregrades der Störung Kombinationstherapie. Es wird also deutlich, dass es weder eine ätiologische, diagnostische, noch eine therapeutische Einheit von Kindern mit ASS und einer kognitiven Störung gibt. Je nach Alter (wir behandeln ambulant und stationär Kinder ab ihrem ersten Lebensjahr bis zum Eintritt in das Berufsleben) können wir auch präventiv zum Verhindern sekundär auftretender (neurotischer) Störungen durch frühzeitige Diagnose und spezifische Psychoedukation, Interaktionsanleitung und Empathieentwicklung der Bezugspersonen einen idealerweise selbstbewussten und umfassenden Begleitungsprozess anstoßen. Die häufigsten schwierigen Verhaltensauffälligkeiten: Autoaggression, Fremdaggression, Zwanghaftigkeit, Schreien, Distanzlosigkeit, Redundanz, Schlafund Essstörungen, sexuell auffälliges Verhalten, Enkopresis, Enuresis, Störungen des Tagesrhythmus u.a. Homepage der St. Lukas-Klinik: www.st.lukas-klinik.de www.stiftung-liebenau.de