Hilberts drittes Problem

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Hilberts drittes Problem
Christoph Reich
Die Hilbertschen Probleme - Historisch
Die Hilbertschen Probleme wurden 1900 von David Hilbert in seinem Vortrag anlässlich
des zweiten internationalen Mathematikerkongresses formuliert. Er wollte damit einen Ausblick
auf die Entwicklung der Mathematik für das kommende Jahrhundert bieten. Tatsächlich haben die
durch ihn bekannt gemachten Probleme viele Mathematiker beschäftigt und, obwohl nicht alle bereits gelöst oder überhaupt lösbar sind, die Mathematik des 20. und 21. Jahrhunderts maßgeblich
beeinflusst.
Grundbegriffe
Kurze Definitionen grundlegender Begriffe:
P
P
• Konvexkombination: conv{A} := {a = N
n=1 λn = 1; λn ≥ 0; xn ∈ A}
n=1 λn xn :
• Polytop: Konvexe Hülle einer Punktemenge im Rn
• kongruent: lassen sich durch eine längenerhaltende, affine Abbildung ineinander überführen
Das Problem
Man gebe ”zwei Tetraeder mit gleicher Grundfläche und gleicher Höhe” an, die nicht
zerlegungsgleich oder ergänzungsgleich sind.
• Polytope P, Q ”zerlegungsgleich” ⇐⇒ ∃ Zerlegungen P1 , ..., Pn und Q1 , ..., Qn für P bzw Q,
sodass Pi kongruent zu Qi ∀ 1 ≤ i ≤ n
• Polytope P, Q ”ergänzungsgleich” ⇐⇒ ∃ zerlegungsgleiche P̃ = P100 ∪ ... ∪ Pn00 und Q̃ =
Q001 ∪ ... ∪ Q00n mit Zerlegungen P̃ = P ∪ P10 ∪ ... ∪ Pn0 und Q̃ = Q ∪ Q01 ∪ ... ∪ Q0n sodass Pi0
kongruent zu Q0i ∀ 1 ≤ i ≤ n
Das Perlen-Lemma
”Wenn P und Q zerlegungsgleich sind, dann kann man die Kantenabschnitte in den
Zerlegungen P = P1 ∪ ... ∪ Pn und Q = Q1 ∪ ... ∪ Qn so mit jeweils einer positiven Anzahl von
Perlen belegen (also mit positiven ganzen Zahlen bezeichnen), dass jede Kante eines Bruchstücks
Pk dieselbe Anzahl von Perlen erhält wie die entsprechende Kante von Qk .”
• Kantenabschnitt: Kante eines Bruchstücks in einer Zerlegung wird durch Schnitt- bzw.
Berührungspunkte mit anderen Kanten unterteilt.
• Beweisidee: Weise jedem Kantenabschnitt in der Zerlegung von P bzw Q einen Wert xi bzw
yP
homogene lineare Gleichungen (mit ganzzahligen Koeffizienten) der Form
j zu. Es entstehen
P
0
i:si ⊆e xi =
j:s0 ⊆e0 yj , wobei Kante e ⊂ Pk in Kantenabschnitte si und entsprechend e ⊂
j
Qk in Abschnitte s0j unterteilt ist. Offensichtlich gibt es mit der Länge eines Kantenabschnitts
positive reelle Werte, die die Bedingungen erfüllen - verwende Kegel-Lemma, um zu schließen,
dass es auch positive ganzzahlige Werte gibt.
Das Kegel-Lemma
”Wenn ein System von homogenen linearen Gleichungen mit ganzzahligen Koeffizienten eine positive reelle Lösung hat, dann hat es auch eine positive ganzzahlige Lösung.”
• Beweis: Zeige, dass C := {x ∈ RN : Ax = 0; x > 0} mit ganzzahliger Matrix A, wenn C
nicht leer ist, auch ganzzahlige Punkte enthält. Offenbar reicht es, zu zeigen, dass C ⊇ C̄ :=
{x ∈ RN : Ax = 0; x ≥ 1} mindestens einen rationalen Punkt enthält. (1 sei hier Vektor,
der in allen Koordinaten gleich 1 ist)
• Mit ”Fourier-Motzkin-Elimination”: ∃ lexikographisch kleinste Lösung x0 von Ax = 0; x ≥ 1,
die rational ist für ganzzahlige A. Da x0 ∈ C̄, x0 ∈ C.
• Mit der Aussage dieses Lemmas folgt die Gültigkeit des Perlen-Lemmas.
Die Bricardsche Bedingung
”Wenn zwei 3-dimensionale Polyeder P und Q mit Diederwinkeln α1 , ..., αr bzw
β1 , ..., βs zerlegungsgleich sind, dann gibt es positive ganze Zahlen mi , nj und eine ganze Zahl
k mit: m1 α1 + ... + mr αr = n1 β1 + ... + ns βs + kπ. Dasselbe gilt auch, wenn P und Q nur
ergänzungsgleich sind.”
• Diederwinkel: Winkel zwischen zwei benachbarten Seitenflächen.
• Beweis: zunächst für P und Q zerlegungsgleich, mit Zerlegungen wie in der Definition
– Weise jedem Kantenabschnitt eine ganze Anzahl (Perlen) zu, wie im Perlen-Lemma
vorgesehen.
– Wir bezeichnen als Σ1 die Summe aller Diederwinkel an Perlen auf Kanten von Bruchstücken
in der Zerlegung von P. Liegt die Perle auf einer Kante von P, so ergibt sich an dieser
Perle der innere Diederwinkel αj an der Kante, liegt sie auf dem Rand von P, aber nicht
auf der Kante, ergibt sich an dieser Perle eine Summe von π. Für eine Perle im inneren
von P ergibt sich eine Winkelsumme von π oder 2π. Analog bilden wir dies für Σ2 , Q
und Diederwinkel βj .
– Wir erhalten Σ1 = m1 α1 +...+mr αr +k1 π bzw Σ2 = n1 β1 +...+ns βs +k2 π mit positiven,
ganzzahligen mi , nj ; 1 ≤ i ≤ r bzw 1 ≤ j ≤ s und nichtnegativen, ganzzahligen k1 , k2 .
– Σ1 und Σ2 sind allerdings auch über Summierung der einzelnen Beiträge von den Bruchstücken
Pi bzw Qi zu erhalten. Mit der Kongruenz von Pi mit Qi erhalten wir dieselben Diederwinkel an den entsprechenden Kanten, und das Perlen-Lemma garantiert die gleiche
Anzahl von Perlen an entsprechenden Kanten. Wir erhalten: Σ1 = Σ2 . Damit gilt die
Bricardsche Bedingung mit k = k1 − k2 .
• Nun für P und Q ergänzungsgleich mit Zerlegungen wie in der Definition
– Belege wie zuvor für alle Zerlegungen mithilfe des Perlen-Lemmas die Kantenabschnitte
mit Perlen, wobei zusätzlich jede Kante von P̃ bzw Q̃ in beiden Zerlegungen die gleiche
Anzahl Perlen erhält. Wiederum bilden wir Winkelsummen zu den Zerlegungen und
bezeichnen diese mit Σ01 , Σ001 bzw Σ02 , Σ002 .
– Mit dem gleichen Argument wie zuvor erhalten wir Σ001 = Σ002 . Da auf den unterschiedlichen Zerlegungen des gleichen Polyeders die gleiche Anzahl Perlen auf den Kanten
liegt, erhalten wir außerdem Σ01 = Σ001 + l1 π sowie Σ02 = Σ002 + l2 π, wobei l1 , l2 ∈ Z.
– Somit erhalten wir Σ02 = Σ01 + lπ, wobei Z 3 l = l2 − l1 . Durch beidseitiges Abziehen der
Beiträge von Pi0 bzw Q0i erhalten wir, dass sich die Beiträge zu den Winkelsummen von
P und Q nur um lπ unterscheiden, also gilt die Bricardsche Bedingung.
Ein Beispiel
Die Bricardsche Bedingung dient uns nun als einfaches Kriterium, ob zwei Polyeder
gleichen Volumens ergänzungsgleich bzw zerlegungsgleich sind. Ein Vergleich der Diederwinkelsummen genügt. Folgendes Beispiel ist mit Skizzen im Buch zu finden:
• Sei T1 ein Tetraeder, das durch drei aufeinander senkrechte Kanten AB, AC, AD der Läge u
aufgespannt wird. Dieses Tetraeder hat drei rechte Winkel als Diederwinkel, und drei weitere
Diederwinkel der Größe arccos √13 .
• Sei außerdem T2 ein Tetraeder mit drei Kanten AB, BC und CD, die jeweils im rechten
Winkel zueinander stehen und dieselbe Länge u haben. Die Diederwinkel in diesem Tetraeder
betragen π2 (drei), π4 (zwei) sowie π6 (einer).
• Unter Benutzung dieser Ergebnisse erhalten wir für T2 ein rationales Vielfaches von π als
Diederwinkelsumme (insbesondere ist sie, teilt man sie durch π, rational!) während auf der
Seite von T1 arccos √13 durch π geteilt irrational ist. Die Bricardsche Bedingung würde aber
verlangen, dass der Unterschied eine ganze Zahl ist. Somit sind T1 und T2 nicht zerlegungsoder ergänzungsgleich, besitzen aber gleiche Grundfläche und Höhe, und Hilberts drittes
Problem ist vollständig gelöst.
• Die Bricardsche Bedingung kann leicht benutzt werden, um auch für nicht nur tetraedrische
Polyeder solche Beispiele zu finden!
Literatur
AZ10 M.Aigner und G.M.Ziegler: ”Das Buch der Beweise”, 3. Auflage, Springer-Verlag 2010 (Kapitel 9)
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