Der Ziegenfisch - VS

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Ingrid Kellner
Der Ziegenfisch
Freie Vorrede: Ich bin fasziniert von den Bildern der Astrologie, besonders vom Steinbock,
dort steht mein Aszendent. Was zum Kachelofen zu sagen wäre, steht auf dieser Tafel hier oder kennen und bewundern sie ihn seit längerem?
Das Sternbild des Steinbocks war in Mesopotamien der Ziegenfisch: vorne Ziege, hinten
Fisch. So wie auf dieser Kachel in Renaissance-Art dargestellt und von Putten im Gefolge des
Dionysos respektlos am Ziegenbart mitgezogen. Die kleinen Kerlchen (?) sind auch nicht
recht froh. Der Keramiker, der sie bemalte, hat sich um kein Lächeln bemüht, sondern ist
ihnen mit einem geraden Strich über Mund und Augenbrauen gefahren, was sie missmutig
aussehen lässt.
Zurück zum Ziegenfisch. Er vereint Erde und Wasser, Materie und Gefühl in seiner Gestalt.
Der Psychologe Carl Gustav Jung sagte: „Die Sonne steigt wie eine Ziege auf den höchsten
Berg und ist in der Tiefe des Meeres wie ein Fisch.“
Der Ziegenfisch rettete sich auf die Berge, wenn der Euphrat heftig Wasser führte, über die
Ufer trat, die Wurzeln der Bäume unterspülte, sodass sie sich neigten und von den Fluten
mitgerissen wurden. – An der Isar kann man’s erleben: die schauerliche Gewalt.,Hochwasser.
Und die Fische, wie ist es für die? Halten sie sich aus der Strömung raus? Wie denn?
Verstecken sie sich in Gumpen oder still hinter Steinen? Sonst würden sie doch mitgerissen
werden, zwischen Baumstämme gequetscht, ins Wurzelgeflecht gefetzt, aufgespießt von
Zweigen und Ästen.
Er muss raus, so spürt das ein Fisch, er muss raus aus dem Wasser, es würde ihn umbringen.
Wenn er sich nicht seinem eigenen Element entzieht und sich wandelt, geht er drauf. So ein
kluger Fisch! Er strengt sich an, nimmt alle Kraft, allen Mut zusammen, springt ans Ufer und
sprengt seine alte Gestalt. Plötzlich hört er Hufe klacken, spürt Gelenke, schöne feste
Gelenke, verliert die Schuppenhaut, fühlt Fell wachsen, behaart sich, ein raues kurzes
Ziegenfell. Määh, Triumph!
Was für eine Freude, eine Stimme zu haben! Welche Lust zu springen, hochzuschnellen auf
die Felsvorsprünge! Und jetzt? Hört der Ziegenfisch/Exfisch (?) die anderen mähen, klacken,
springen? Könnt’ schon sein, dass einigen aus dem Fischschwarm die Metamorphose
ebenfalls gelungen ist. Jetzt sind sie eine Herde mit Hufen, Hörndln und großen Ohren.
Gibt’s was zum Fressen, sagt? Klar, und Kleine haben wir auch. Wir nehmen sie in die Mitte,
senken die Köpfe nach außen und zeigen den großen Bergkatzen, die auf unsere Kitze scharf
sind, die Hörner: Da, da könnt ihr reinrennen, da knallt ihr drauf und werdet den Steilhang
Ingrid Kellner - 1
runterstürzen. Schon kollern Steine. Dann steigen wir stetig höher, atmen tief, wedeln mit
den Ohren, den Schwänzen und spüren unsere Kraft.
Die Zeit vergeht, ein halbes Jahr, die Sonne folgt uns im Gelände, sie steht steil drüber und
heizt das Gestein auf. Die Felsen glühen, verdorrt sind Gras und Kraut, Quellen versiegt.
Durst! Unten blinkt der Fluss, ein silbern mäanderndes Band. Er liegt zahm in seinen
Grenzen, den Ufern. Wir sehen Schiffe, Boote, Flöße und Menschen am Ufer. Frauen holen
Wasser oder waschen, Kinder plantschen und schwimmen. Ja, wir wollen auch schwimmen,
uns aalen, wenden, schwänzeln, vom Wasser umflossen sein. Unsere Zicklein sind groß
geworden, sie schnuppern mit den Nüstern, sie riechen das Wasser. Ja, wir steigen wieder
runter! Die Hufe klacken, die Gelenke federn die Sprünge ab, die Muskeln sind voller Kraft.
Es ist eine Lust, mal bedächtig den Tritt suchend, mal blitzschnell von Stein zu Stein hüpfend:
Fast schieben sie sich von selbst unter die Hufe.
Und da, da ist es, das Wasser: nass, kühl, lockend. Wir schnuppern, trinken und schmecken
es. Wir gehen hinein, spüren es an den Hufen, Gelenken und Knien, tauchen bis zum Bauch
ein, stoßen uns ab und werden gekühlt, umspült, am Rücken, am Hals. Das Fell löst sich, es
flutet davon. Wie eckig sind jetzt unsere Leiber, wie schwer unsere Hörner und Hufe. Wir
wünschen uns glatt und wendig, ziehen die Beine ein, kriegen Flossen, steuern, fächeln,
dehnen den langen, schlanken Leib. Stecken den schmal gewordenen Kopf unter Wasser und
tauchen unter. Wir brauchen keine Ziegennasen mehr, keine Ohren und Hörner, wir atmen
mit Kiemen, die Augen sehen silberhell nach allen Seiten. Schuppen wachsen, ein leichter
Panzer aus Chitin. He, wie wir flitzen, wie wir blitzen im Schwarm. Wir werden eins. Ah, es ist
so gut, Fisch zu sein! Ziegenfisch!
Ziegenfisch auf Kachel
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