BERLIN KULTUR FREITAG, 23. JULI 2010 / NR. 20 684 DER TAGESSPIEGEL E SPIEL Sachen Gold gab ich für gar nichts F SOUNDCHECK CD-NEUERSCHEINUNGEN Hand in Hand. Über die Kommerzialisierung der Bergmannstraße wird schon lange geklagt, doch die Proteste bleiben friedlich. Das mag vor allem an der besonderen, über Jahrzehnte gebildeten Bevölkerungsmischung liegen. Foto: Kai-Uwe Heinrich Jeden Freitag zwischen 21 und 23 Uhr reden vier Popkritiker auf über ihre CDs der Woche. Diesmal: HIP-HOP Giggs Let Em Ave It (XL) Englischer Hip-Hop war stets ein Quell unfreiwilliger Komik. Nie gelang den Rappern auf der Insel auch nur im Ansatz, was die US-Kollegen aus dem Handgelenk schüttelten. Giggs soll die Ehre des Brit-Hop retten, doch auch er reizt immer dann die Lachmuskeln, wenn er den Ghetto-Gangster geben will. Andreas Müller, Moderator Foto: rbb Christine Wahl freut sich über Anti-Materialismus im Theater Foto: privat POP Roman Fischer Roman Fischer (Universal) Das englisch singende Multitalent aus dem Hause Blickpunkt Pop versucht auf seinem ersten Major-Album den großen Wurf: mit Mut zur Melodie und Mut zur Melodramatik; auch für Muse-artigen Pomp ist er sich nicht zu fein. Sympathisch größenwahnsinnig, absolut konkurrenzfähig. Christian Seidl, Bild am Sonntag Das große Fressen Von Andreas Schäfer Straßen erzählen Geschichten. Stadtgeschichten, Kiezgeschichten, Lebensgeschichten. In unserer Serie folgen wir den Lebensadern Berlins. I mJahr2007 wurdedie Marheinekehalle, die laut Eigenwerbung zur Bergmannstraße gehört wie der Bär zu Berlin, renoviert, und es gab nocheinmalgroßenProtest imViertel. Anwohner hatten Sorge, der morbide Charme der 1892 eröffneten Markthalle gehe mit der Sanierung verloren – und mit ihm gewissermaßen der Gemütlichkeitsgeist des gesamten Kiezes, der sich nördlich und südlich der Bergmannstraße vom Mehringdamm bis zum Südstern erstreckt. Es wurden Protestplakate geklebt, innerhalb weniger Wochen stellte die Nachbarschaft ein beeindruckendes Anti-Umbau-Kulturfest in der Halle zusammen. Und als die unter Druck geratenen Betreiber zu einem Infoabend in die Passionskirche luden, erschienen sage und schreibe 800 Interessierte. Man hatte mit ein paar dauernölenden Späthippies gerechnet und war ob des starken Bürgerengagements doch erstaunt. Nach einigen Diskussionen beruhigten sich die Gemüter wieder – immerhin, das Kreuzberger Kiez-Wir war wieder gestärkt – und die Halle bekam doch ihr „neues Gesicht“. Schicker grauer Boden, viel Licht und vor allem viel Luft zwischen den Verkaufsständen, deren Waren bei so viel Leere drumherum gleich wie leckere Kunstwerke wirkten. Das Motto der neuen Halle: Bio. Frisch. Regional. Besonders schön angerichtet waren bei der Eröffnung die Salate der vegetarischen Imbisskette Gorilla. Da hatte der Zeitgeist-Wirt allerdings die Rechnung ohne die Laufkundschaft gemacht. Sanierung und Entkernung schön und gut, das ist der Lauf der Zeit – aber ein Imbiss ohne Fleisch? Wir befinden uns schließlich nicht in Prenzlauer Berg, wo der junge (oder ewig junge) Mensch aus Angst vor der Style-Polizei jede Mode mitmacht, sondern im beschaulichen West-Kreuzberg. Hier gehen Widerstand und Hedonismus seit den Hausbesetzertagen aus den Achtzigern gemütlich Hand in Hand. Die Bulette bleibt also uff’m Tella! – auch wenn sie jetzt Bio-Burger heißt. Nach zwei, drei Monaten musste der ambitionierte Imbiss wieder schließen. Was die Anekdote erzählt? Erstens: Der Bergmannstraßen-Kreuzberger lässt sich seine Bodenständigkeit trotz aller Revieraufhübschung nicht nehmen. Zweitens: Auf der Bergmannstraße geht es sehr, sehr viel ums Essen. Auch das übrigens traditionell. Das Kulinarische spielte schon eine zentrale Rolle, als die Bergmannstraße noch Weinbergsweg hieß, Anfang des 19. Jahrhunderts, wegen der Weinberge, die sich die Hänge des Tempelhofer Berges hinaufzogen, wo während der Gründerzeit die Straßenzüge mit den noch immer gut erhaltenen Altbauten um den Chamissoplatz angelegt wurden. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts aber endete die Stadt Berlin noch am Halleschen Tor und alles südlich davon war schon janz weit draußen. Das Areal gehörte der Familie Bergemann, und da diese den Weinbergsweg ausbaute, wurde er am 20. April 1837 nach Marie Luise Bergemann benannt. So kam die Bergmannstraße, an der sich bald die ersten Ausflugslokale ansiedelten, zu ihrem Namen. Dem Wein und den Lokalen ist die Straße treu geblieben, allein drei Weingeschäfte gibt es auf der Bergmannstraße, diein derMarkthalle unddenNachbarstraßen nicht mitgerechnet. Und die Terrassen der zwei, drei Dutzend Lokalitäten, die sich praktischerweise über die Bürgersteige vom Mehringdamm bis zum östlichen Ende des Marheinekeplatzes erstrecken, bilden vermutlich den größten Mittagstisch Berlins. Die internationalen Restaurants und Stehimbisse waren es, die – im Verbund mit den vielen Trödlern – die Bergmannstraße in der jüngeren Vergangenheit berühmt und in die Reiseführer gebracht ha- Erwähnen sollte man allerdings auch, dass das Einzugsgebiet manchmal kaum dreißig Meter reicht. Die meisten Läden in den Seitenstraßen kämpfen ums Überleben. Der Wandel ist also nicht zu bestreiten. Nicht zu bestreiten ist allerdings auch, dass die Klage über die Kommerzialisierung des Kiezes zur Bergmannstraßen-Folklore gehört wie die Knoblauchzöpfe an der Markise des Feinkostladens Knofi. Selbst die Bergmannstraßenbeschimpfungen sogenannter Bergmannstraßen-Originale schlagen früher oder später in ein Lob um – zumindest in das gegrummelte Eingeständnis, dass sich das Besondere des Kiezes erstaunlicherweise trotz des neuen Oberflächendesigns erhalten hat. Die Bergmannstraße ist noch immer Kreuzbergs Wohlfühlstraße. Das mag vor allemander sichJahrzehntegebildeten Bevölkerungsmischung liegen. Im pittoresken Chamissokiez (wo schon Rudolf Thome und Jodie Foster Filme drehten) wohnen noch immerviele Lehrer und Professoren,in den Straßennördlichder Bergmannstraße viele Ausländer,die selbst immer mehr Läden eröffnen, keine Trödel, sondern Cafés und 18 Stunden geöffnete Wir-haben-alles-Shops. Ein Bewohner, der – „mit altem Mietvertrag“ – schon so lange in der Gegend wohnt, dass er 1975 die Gefangennahme des CDU-Politikers Peter Lorenz durch Mitglieder der „Bewegung 2. Juni“ in der Schenkendorfstraße 7 mitbekommen haben könnte, schwärmt von der „völlig unaggressiven Atmosphäre“. Hat das mit den wie Pilze aus dem Boden schießenden Yogaschulen zu tun? Oder doch mit der besonderen Lage? Das Gewusel auf der westlichen Bergmannstraße wird durch die Stille auf dem verwunschenen östlichen Teil – seit 2008 offiziell Fahrradstraße – ausgeglichen, während der Marheinekeplatz in der Mitte wie ein Dorfplatz ruht. Bevor es zu idyllisch wird, fragen wir lieber einen Ladenbesitzer, von dem es heißt, er werde regelmäßig von Jugendgangs überfallen. „Ach dit“, sagt er auf Nachfrage. „Jahre her, außerdem waren die Jungs gar nicht von hier. Nee, nee, hier beißt keener mehr.“ ben. Die internationale Küche stand dabei für multikulturelles Laissez-faire, die Trödler repräsentierten das andere, improvisierte Leben. Die Bergmannstraße verkörperte also genau jene Bilder, die der West-Deutsche in den achtziger Jahren mit West-Berlin verband (nur ohne Krawall), stand und steht aber genau deshalb in Gefahr, zum Klischee zu erstarren, zur Disney-Version ihrer selbst zu mutieren. „Fressmeile“, „Touristenschleuse“ und „Ku’damm Kreuzbergs“ wird die Bergmannstraße deshalb abfällig von denen genannt, die ihren Wandel beklagen. Dabei ist eigentlich nicht der Wandel verwunderlich, sondern die Tatsache, dass er erst so spät statt findet. Es stimmt natürlich: Vor einigen Früher Jahren gab es mehr zogen sich Trödler und mehr arabische Imbisse, Weinreben und die Cafés sahen den mehrheitlich so aus das Turandot, Tempelhofer wie dessen Gäste noch Berg hoch immer wirken, als würden sie – Tabaksbeutel neben dem Bierglas, die Lederjacken mit dem Körper verwachsen – mit sentimentalem Blick seit den achtziger Jahren hier hocken. Heute dominieren Cafés mit Coffee-to-Go- und Wlan-Service, thailändische und vietnamesische Schnellrestaurants mit spartanischer Zen-Möblierung und trendige Läden für Umhängetaschen und tief sitzende Hosen. Im letzten Jahr wurde außerdem das große Gesundheitszentrum in der Bergmann 5 eröffnet, in dessen Erdgeschoss ein Erlebnis-Kaiser’s werktags bis 24 Uhr die Bevölkerung mit Nahrungsmitteln versorgt. Parallel dazu hat sich die dänische Immobilienfirma Taekker in Monopoly-Manier einmal durch den Kiez gekauft, und die Mieten sind auf 9 Euro pro Quadratmeter gestiegen. Man kann also sagen, die Mittisierung der Bergmannstraße ist so gut wie abgeschlossen. Nach dem Handelsindex 2009/2010 des Berliner Unternehmens „Grupe – Die Einzelhandelsmakler“ weist das Einzugsgebiet der Bergmannstraße mit einem Kaufkraftindex von 111 eine hohe Kaufkraft auf (100 entspricht dem Berliner Durchschnitt). POP Menomena Mines (City Slang/Universal) Phänomenal, was die drei Sänger und Multiinstrumentalisten hier wieder abliefern. Jeder Song eine Entdeckungsreise, voll von Melodien, Rhythmen, Klängen. Frei und entfesselt gespielt und doch konzentriert und präzise. Menomena hätten sich ein „Ph“ am Anfang des Bandnamens verdient. Simon Brauer, Radio Eins Foto: rbb Lebensadern (4): Die Bergmannstraße bleibt trotz steigender Mieten Kreuzbergs Wohlfühlmeile POP The Magic Numbers The Runaway (Heavenly) Himmlisch klingen die Gesangsharmonien, überirdisch die Melodiebögen. Und doch hat die Suche nach dem perfekten Popsong bei dem Londoner Quartett Spuren hinterlassen. Der lupenreine Westcoast-Sound erinnert nun an den koksgesättigten Designer-Pop von Fleetwood Mac. Jörg Wunder, Tagesspiegel Foto: Thilo Rückeis Der Trend geht zum Zweitarbeitsverhältnis. Und zwar nicht erst in aktuellen Krisenzeiten, sondern schon seit mehr als 250 Jahren. Bereits 1746 musste zum Beispiel der Service-Angestellte Truffaldino unermüdlich als „Diener zweier Herren“ schuften – jedenfalls in Carlo Goldonis gleichnamiger Komödie. Dass die Story um den illoyalen Arbeitnehmer für leicht verdauliche Sommertheaterabende geradezu prädestiniert ist, dachten sich auch die Intendantin Nelly Eichhorn und ihr Regie-Kollege Oleg Skivko vom Sommertheater am Alex: Sie haben die Komödie, die heute Abend in der Ruine der Klosterkirche Premiere feiert, gleich bis Ende August angesetzt (bis 29.8. immer Do–So, 20 Uhr). Und damit man dabei nicht etwa ausschließlich an seine eigenen, möglicherweise prekären Arbeitsverhältnisse erinnert wird, fährt Goldoni selbstredend auch jede Menge ergänzenden Gender Trouble und zerstreuenden VerwechslungsGoldoni charme auf. im Glück: Um nur in aller Kürze den HauptSein strang zu skizzie„Diener“ ren: Florindo, ein zahlungskräftiger machte ihn junger Mann aus zum Turin, hat Federico Theaterstar – den Bruder seiner Geliebten Beatrice – im Duell getötet und musste deshalb nach Venedig fliehen. Beatrice reist ihm, gemeinsam mit ihrem Diener Truffaldino, unter dem Namen ihres toten Bruders in Männerkleidung nach und steigt zufällig im selben Gasthaus wie der Geliebte ab. Keiner ahnt, dass der jeweils andere da ist – und Truffaldino sorgt dafür, dass das auch möglichst lange so bleibt. Unzufrieden mit dem Gehalt, das Beatrice alias Federico ihm zahlt, heuert er so schnell wie möglich zusätzlich bei Florindo an. Goldoni selbst übrigens konnte sich offenbar just mit dem „Diener zweier Herren“ aus seiner Doppelarbeitsbelastung befreien. 1747 – ein Jahr nach der Uraufführung durch die Truppe Sacchi in Mailand – gab er jedenfalls seinen Erstberuf als Jurist auf und wechselte vollständig zum Theater über. Erstjob hin, Zweitarbeitsverhältnis her: Jene beneidenswerte Erkenntnis in puncto Maloche und Bezahlung indes, welche die Brüder Grimm ihrem „Hans im Glück“ zugedacht haben, reift nur in den allerwenigsten Arbeitnehmern heran – und schon gar nicht in den schlitzohrigen Truffaldinos. Hans bekommt als Lehrlingssold einen menschenkopfgroßen Batzen Gold, den er – vorerst ein verantwortungsbewusster Unterstützer der Warenzirkulation – gegen ein Pferd eintauscht. Das Pferd tauscht er gegen eine Kuh, das Kuh gegen ein Schwein und immer so weiter, bis er am Ende, bar jeglicher Finanzen und Investitionsmöglichkeiten, „mit leichtem Herzen und frei von aller Last“, zu seiner Mutter heimkehrt. Vielleicht kann das Märchentheater im Varia Vineta in Pankow (Fr 16 Uhr, Sa/So 11 und 16 Uhr) ja Kindern ab drei den Anti-Materialismus schmackhaft machen. Für Truffaldino dagegen wäre das garantiert nichts gewesen. 23 Neue Alben, Konzerte, Club-Adressen: www.tagesspiegel.de/pop E NACHRICHT F Gedenktafel: George Tabori kehrt zurück an den Schiffbauer Damm Am heutigen Freitag, dem dritten Todestag des Regisseurs und Autors George Tabori, soll um 22.30 Uhr an seiner letzten Wohnstätte am Schiffbauer Damm 6–7 eine Gedenktafel enthüllt werden. Eine ähnliche Wandtafel wurde bereits im Mai am Budapester Geburtshaus von George Tabori (dort mit dem Namen „Tábori György“) angebracht und soll demnächst auch in Wien installiert werden, wo Tabori in den 80er und 90er Jahren am Burgtheater und mit seiner eigenen Truppe „Der Kreis“ am Schauspielhaus inszeniert hatte. Am Schiffbauer Damm war Tabori am 23. Juli 2007 im Alter von 93 Jahren gestorben. Die Tafel mit einem Relief-Porträt hat der in Berlin lebende ungarische Bildhauer Mátyás Imre Varga entworfen, der nach Arbeiten im öffentlichen Raum etwa in Dresden jetzt auch am Endwettbewerb für das Deutsche-Einheits-Denkmal in Berlin teilnimmt. Tsp — Bisher erschienen: Oranienstraße (13.), Motzstraße (16.), Schiffbauerdamm (20.7.) 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