Theater St.Gallen Theater St.Gallen Interessiert an der vollständigen Materialsammlung? – Fordern Sie diese kostenlos an bei Mario Franchi, Theaterpädagoge, [email protected] 2 Theater St.Gallen 1 Grundlagen Team Zum Stück Stückauszug 04 2 Stichworte Zur Blüte Zum Zerfall Zum Erbe 07 3 Themen und Fragen 09 4 Zur Autorin 10 5 Medienberichte „Es fehlt an Wagemut“ „St.Galler, seid mutiger“ Wie eine Wolke über der Stadt 11 ANHANG HINTERGRUND GRUNDLAGEN Übersicht 6 Aus dem Lexikon Gröbli, Isaak Gröbli, Joseph Arnold Alder, Otto Stickerei Erster Weltkrieg 16 7 Weiterführende Literatur und Links 19 3 Theater St.Gallen 1 Grundlagen Erstickte Träume Schauspiel von Rebecca C. Schnyder Uraufführung: 6. November 2015, Theater St.Gallen, Lokremise Dauer: 1 Stunde 15 Minuten Inszenierung: Elisabeth Gabriel Bühne und Kostüme: Vinzenz K. Gertler Musik und Sounddesign: Nikolaus Woernle Video: Norbert Wobring Licht: Rolf Irmer Ton: Marco Mathis Dramaturgie: Nina Stazol Alex: Dominik Kaschke Joseph | Die Stadt: Tobias Fend Ernst, Vater von Alex | Gröbli, Vater von Joseph: Bruno Riedl Ein Investor | Der Krieg | Ein Fergger: Julian Sigl Eine Museumsführerin | Eine Investorin | Die Geschichte | Madame: Diana Dengler Eine Museumsführerin | Eine Investorin | Eine Stickerin: Wendy Michelle Güntensperger Ein Sticker | Ein Investor: Oliver Losehand Das Tribunal: Stimmen des Ensembles Zwei Kinder: Dominik Fürer, Raffaela Fürer, Nando Kuhn, Stella Walser Regieassistenz, Abendspielleitung, Inspizienz: Petra Braun Souffleuse: Birgit Limmer Choreografische Beratung: Exequiel Barreras Innovativ, kreativ, wagemutig, zukunftsweisend – St.Gallen. So hätte ein Marketingslogan zur Blütezeit der Stickereivergangenheit lauten mögen. Ausgerechnet mit einer künstlerischen Nischenfertigkeit hatte es St.Gallen geschafft, sich an die Qualitätsspitze des Weltmarktes zu sticken. Die Ostschweizer Stickereibranche machte vor dem ersten Weltkrieg den grössten Exportzweig der Schweiz aus. St.Gallen florierte. Bis sich in den 20er-Jahren der schleichende Niedergang abzuzeichnen begann, der bald die ganze Region lahmlegen sollte. Und heute? Wird die glorreiche Vergangenheit viel besungen. Aber wo sind sie heute, die risikobereiten Nischensucher, die wagemutigen Pioniere und kreativen Visionäre? Knabbert St.Gallen möglicherweise noch an einem Trauma, das Zukunftsträume im Keim ersticken lässt? Wir konnten die in St.Gallen lebende Schweizer Autorin Rebecca C. Schnyder (*1986) gewinnen, sich diesen historischen und möglicherweise noch schmerzhaften Stichen ihrer Heimatregion mit einem eigenen Theatertext zu widmen. 4 Theater St.Gallen „Karger Boden für Visionen“ von Nina Stazol, Terzett Oktober 2015 Schwungvolle Gebäudebeschriftungen der Innenstadt wie „Oceanic“ oder „Pacific“ aus Tagen, an denen St.Gallen mit amerikanischen Firmen Geschäfte machte, wunderschöne Villen auf dem Rosenberg, die sich einst Textilhändler leisten konnten, Tonhalle und Postgebäude, ein Museum, die märchenhaft klingende Rückseitenbeschreibung einer Pralinenschachteln der Confiserie Roggwiller – man findet sie noch: schillernde Insignien einer glorreichen Vergangenheit der Region: der Hochblüte der Stickereiindustrie. Ausgerechnet mit sogenannten Besatzartikeln, einer künstlerischen Nischenfertigkeit, hatte sich die hiesige Textilregion einst an die Qualitätsspitze des Weltmarktes und eine randständige Region zur Weltmetropole gestickt. Vor dem Ersten Weltkrieg machte die Ostschweizer Stickereibranche den grössten Exportzweig der Schweiz aus, standen in den vier Ostschweizer Kantonen rund 18000 Stickmaschinen, lebten rund zwei Drittel der Beschäftigten direkt oder indirekt von der Stickereiindustrie. Bis sich in den 20erJahren der schleichende Niedergang abzuzeichnen begann, der bald die ganze Region lahmlegen sollte. Und heute? Welches Erbe trägt der Landstrich ausser den stillen Spuren eines früheren Grossstadtgefühls und hymnenartigen St.Galler Historienmelodien heute noch aus dieser Zeit? Und wo sind sie heute die kreativen Pioniere, die grenzenlosen Visionäre? Wo ist die Zukunft St.Gallens? Kann es vielleicht sein, dass St.Gallen aus der Erfahrung eines schleichenden aber jähen Zusammenbruchs eines Industriezweiges und Lebensgefühls ein Trauma erlitten hat, an dem es noch heute leidet? Ein Trauma, das Zukunftsträume im Keim ersticken lässt? Es ist eine gewagte These durchaus, zu einem besetzten Spitzenstoff ohne Zweifel mit dramatischem Potenzial, fanden wir und fragten kurzerhand gespannt Rebecca C. Schnyder, eine hiesige Autorin, diesen Fragen und unserer These in einem eigens für das Theater St.Gallen geschriebenen Stück nachzugehen. Sie sollte freie Hand erhalten, die Frage ihre Antwort erhalten, der Text seine eigene Stimme haben dürfen. Unsere Aufgabenstellung umfasste lediglich den Wunsch, dass es ein Stuck für die Region werden sollte, für unser Publikum, für Sie. Nun ist es fertig: Erstickte Traume – St.Gallens stilles Erbe, eine zeitgenössische kulturelle Stichprobe zu einem kostbaren historischen Stoff von Stadt und Region, zu erleben in der Inszenierung von Elisabeth Gabriel im ganzen November. „Spitze!“ Mit ihrem Stück knöpft sich Rebecca C. Schnyder die Stickereivergangenheit der Region aus einem heutigen Blickwinkel vor. In ihrem fiktiv angelegten Wurf lässt sie den jungen St.Galler Textilunternehmer Alex in einen Generationenkonflikt der besonderen Art geraten. Der junge Mann steckt für seine Pläne der Umgestaltung des Familienunternehmens nicht nur Widerworte seines Vaters ein, sondern muss es auch noch mit einem bizarren Panoptikum altehrwürdiger Ostschweizer Stickergrössen aufnehmen. Nichts ahnend trifft Alex im Jenseits auf Erfinder, Pioniere und Industrielle. Abschätzig begegnet man hier dem jungen Neuankömmling, der sich mit der Geschichte der Stadt nicht auszukennen scheint. Als sie erfahren, dass auch er Nachfahre eines Stickerbarons ist und daraufhin erwägen, ihn als neuen Hoffnungsträger in ihre Gilde aufzunehmen, hat Alex genug. Er begehrt auf, gegen die Bürde, die ihm die vorherigen Generationen aufladen. Das Anzetteln einer Revolution mag ihm nicht recht gelingen, zu blass sind seine Zukunftsvisionen, immerhin aber wirbelt er in den heiligen Hallen der Geschichte gehörig Staub auf. Rebecca Schnyder verleiht in ihrem Stück Stickern, dem Krieg und der Stadt selbst eine Stimme. Dem hiesigen Landstrich attestiert sie dabei leidenschaftlich stichelnd ein stilles, aber kein unproblematisches Erbe: «Karger Boden für Visionen.» 5 Theater St.Gallen „Abwägen. Besprechen. Nochmal überdenken.“ Welche Bedeutung hat die Stickereivergangenheit für die Stadt St.Gallen heute? Was ist von der glorreichen Zeit, in der St.Gallen eine schillernde Metropole war und alles möglich schien, übrig geblieben, ausser einem Berg von Mustern, wundervollen Prachtbauten und einigen Textilunternehmen? Die Autorin Rebecca C. Schnyder attestiert in ihrem Stuck dem hiesigen Landstrich ein stilles aber kein unproblematisches Erbe. Sie hat die Stadt selbst zu ihrem derzeitigen Befinden gefragt. Was Rebecca C. Schnyder „gehört“ hat, können Sie in einem exklusiven Stückauszug aus Ersticke Träume. St.Gallens stilles Erbe lesen. Mehr davon gibt’s […] in der Lokremise. DAS RÜCKGRAT ST.GALLENS Besser nicht. Nein. Nein, besser nicht. Weil, das könnte schief gehen. Gut überlegt sollte es sein, man kann nicht einfach so, mal schnell, nein, das kann nicht gut gehen. Etwas Neues? Etwas wagen? Schwierig. Nein besser nicht. Nicht, dass man prinzipiell nicht etwas wagen sollte, natürlich nicht, nein, so ganz komplett gegen Neuerungen sind wir nicht, aber eben wohlüberlegte. Änderungen. Neues. Erstmal einen Vorschlag machen, dann gut überlegen. Abwägen. Besprechen. Nochmal überdenken. Einige Korrekturen vornehmen. Evaluieren. Neu besprechen. Und dann, dann vors Volk. Genau, vors Volk. Es muss ein Entscheid aller sein. Das ist ganz wichtig. Es muss ja doch für alle stimmen. Ja, natürlich, es besteht die Möglichkeit, dass der Vorschlag nicht angenommen wird, nun ja, Neuerungen sind nicht für alle. Aber wenn der Vorschlag gut überlegt ist, das Vorhaben genug vorbereitet, überdacht und evaluiert, besprochen und korrigiert, dann vielleicht, dann ist es möglich. Aber eben, Neuerungen sind nicht für alle. Dazu ein Wagnis. Schwierig. Das kommt nicht bei allen gut an. Vorsicht. Vorsicht ist eine wichtige Eigenschaft. Wenn wir alle es machen würden wie die Deutschen oder die Zürcher, einfach mal so drauflos und das natürlich mit Kawumm. Das kann nicht gut gehen. Sieht man ja immer wieder. Kawumm kommt nie gut. Vorsicht ist eine Tugend. Und Tugenden sind elementar. Für das Wohl des Menschen und der Gemeinschaft. Vorsicht dient der Gemeinschaft. Wohin es führen kann, wenn nicht alles sorgsam durchdacht und mehrfach überlegt ist, das kennen wir ja. Alles schon erlebt. Es kommt folglich nicht von ungefähr, wenn wir sagen: Vorsicht. Hochmut kommt vor dem Fall. Vorsicht ist besser. Gesünder auch. Für alle. Für jeden einzelnen, aber auch für die Gemeinschaft. Und die ist doch das Wichtigste. Die Gemeinschaft. Wenn das schief geht, dann für alle. Das ist eine Verantwortung, die wir alle haben. Gemeinsam. Es muss für alle stimmen. Das ist das Prinzip der Gemeinschaft, unserer Demokratie ja eigentlich, na dass es für alle stimmen muss. Und deswegen kann man nicht einfach mit Kawumm. Weil im Kawumm liegt der Hund begraben. Und die meisten wollen keinen Hund. Also keinen begrabenen, in der Gemeinschaft. Und die Gemeinschaft geht vor, da muss man mit den eigenen Ideen hinter dem Berg halten. Besonders wenn sie sehr, Vorsicht ist wichtig. Alles gut durchdenken. Überdenken. Vorsicht. Vorsicht ist wichtig, ja. 6 Theater St.Gallen 2 Stichworte Zur Blüte Die Einführung der Handstickerei in die Textilstadt, die bis dahin vor allem international Tuchhandel betrieb, wird auf das Jahr 1753 datiert. Der Legende nach sahen Kaufleute bei einer Geschäftsreise in Lyon Türkinnen sticken und luden die Damen nach St.Gallen ein, wo sie ihre Handwerkskunst den Ostschweizerinnen beibringen sollten. 1790 sticken bereits rund 30 000 Personen (vor allem Frauen und Kinder) in den Ostschweizer Kantonen für den neu erschlossenen Handelszweig, der sich als sehr erfolgsträchtige Nische erweisen sollte. Im folgenden Jahrhundert entwickelte sich die Ostschweizer Stickereibranche zur Monopolstruktur, man spezialisierte sich auf Besatzartikel von Damen- und Kindermode. Neue Märkte wurden erschlossen, die internationalen Handelsbeziehungen ausgebaut. Der grösste Abnehmer wurde Amerika. Fertigen liess man an Stadtgrenzen und den umliegenden Regionen; Ausrüsterei, Veredelung und der Börsenhandel fand in der Stadt St.Gallen statt. Interessiert an der vollständigen Materialsammlung? – Fordern Sie diese kostenlos an bei Mario Franchi, Theaterpädagoge, [email protected] 7