Vorbereitung des Besuchs der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg: Einführungskonzept anhand der Rede von Jack Terry zum 60. Jahrestag der Befreiung des KZ Flossenbürg Idee: Das vorliegende Material dient Schülerinnen und Schülern zur Vorbereitung auf einen Besuch der KZGedenkstätte Flossenbürg. Damit steht es am Anfang der entsprechenden Unterrichtssequenz. Die Annäherung an das Thema „Konzentrationslager Flossenbürg“ erfolgt über die Auseinandersetzung mit den Gefühlen und Wünschen ehemaliger Häftlinge, mit denen sie diesem Ort bis in die Gegenwart hinein begegnen. Ziele: Die Schülerinnen und Schüler lernen Flossenbürg als Standort eines Konzentrationslagers kennen. Darüber hinaus erhalten sie einen Einblick in die Nutzung und Veränderung des Geländes von vor der Zeit des Lagerbaus bis heute. Im Sinne von ganzheitlichem Lernen werden auch emotionale Prozesse einbezogen. Dies geschieht über die Biografien der Opfer des Nationalsozialismus, ihre Verfolgung und Lagerhaft. Schülerinnen und Schüler werden dazu angeregt, der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg aus der Perspektive der ehemaligen Häftlinge zu begegnen. Voraussetzungen: Grundlegende Kenntnisse zum Nationalsozialismus sind wünschenswert. Im Unterricht sollten daher im Vorfeld die Themenbereiche Machtergreifung und Machtsicherung der Nationalsozialisten, die Ideologie des Nationalsozialismus sowie die SS und deren Aufgaben in Grundzügen behandelt worden sein. Ferner sind Kenntnisse über die Außenpolitik im Zusammenhang mit der territorialen Ausdehnung des Dritten Reichs und dem Verlauf des Zweiten Weltkrieges von Vorteil. Dies erleichtert den Schülerinnen und Schülern das Verständnis wesentlicher Veränderungen des Lagers hinsichtlich des Arbeitseinsatzes der Häftlinge, des Aufbaus des Systems von Außenlagern, die zunehmende Internationalisierung der Häftlingsgemeinschaft sowie der chaotischen Endphase des Lagers. Auch der Zweck von Konzentrationslagern sowie der Unterschied zu Arbeits- und Vernichtungslagern sollte vorbereitend angesprochen worden sein. Didaktische Hinweise: Der Einstieg erfolgt anhand von Fotografien des Lagergeländes aus den Jahren 1937 (M1), 1940 (M2) und 2005 (M3). Die Gegenüberstellung der Aufnahmen von 1937 und 1940 gibt Aufschluss über die Gründung und den Ausbau des Konzentrationslagers außerhalb des Ortes Flossenbürg. An dieser Stelle müsste der Granitabbau als Grund für die Standortwahl erklärt werden. Der Vergleich der Fotografien aus den Jahren 1940 und 2005 zeigt zum Ersten die Ausbreitung der dörflichen Bebauung über dem ehemaligen Lagergelände, lässt zum Zweiten noch vorhandene bauliche Überreste, wie die Gebäude der ehemaligen Häftlingsküche, der Wäscherei sowie die Terrassierung des Geländes aus Zeiten des Konzentrationslagers erkennen. Zum Dritten sind Gebäude aus der Lagerzeit zu sehen, wie die Kommandantur und das SS-Kasino, die auf dem Foto von 1940 noch nicht existierten. Ergänzend ist darauf zu verweisen, dass der ehemalige Appellplatz bis in die 90er-Jahre mit Industriehallen bebaut war. Ausgehend von den beiden letzten Fotografien lässt sich zur Frage überleiten, mit welchen Gefühlen und Gedanken ehemalige Häftlinge des KZ Flossenbürg diesem Gelände fast 65 Jahre nach der Befreiung begegnen. Als Beispiel für einen ehemaligen Häftling wird Jack Terry (M4) vorgestellt. Im Anschluss lesen die Schülerinnen und Schüler die Rede von Jack Terry anlässlich des 60. Jahrestages der Befreiung des KZ Flossenbürg am 23. April 2005 (M5) und bearbeiten die Arbeitsaufträge. Kernaussage zu Arbeitsauftrag 1: Erst mit der Befreiung aus der im Lageralltag dominierenden Konzentration auf das eigene Überleben wird ihm seine Entwurzelung bewusst (Z. 1-12). Von den nachhaltigen psychischen Folgewirkungen des erlebten kann es keine Befreiung geben (Z. 20 f). Kernergebnis zu Arbeitsauftrag 2: Jack Terry spricht von Verwirrung (Z. 22); seine Äußerungen lassen zudem Wut, Empörung und Enttäuschung erkennen. Grund ist einerseits das extreme Missverhältnis zwischen der lebendigen Erinnerung der Häftlinge an das erlebte Leiden und der Verwischung aller Spuren durch die Überbauung des ehemaligen Lagergeländes (Z. 22 f) andererseits. Jack Terry bewertet dies als „zusätzliches schmerzvolles Trauma“ (Z. 29). Kernergebnis zu Arbeitsauftrag 3: Die Nennung der Namen auf Gedenksteinen dient der Erinnerung und ist als Akt gegen das Vergessen zu verstehen. Zugleich erhalten die Häftlinge ein Stück ihrer individuellen Würde zurück, die ihnen durch „einen Prozess der Entmenschlichung“ (Z 37) im Konzentrationslager Flossenbürg genommen wurde. Anregungen zum weiteren Verlauf: Im weiteren Verlauf der Vorbereitung eines Besuchs der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg können die Schülerinnen und Schüler in Arbeitsaufträge eingewiesen werden, die sie anhand der Ausstellung „Konzentrationslager Flossenbürg 1938-1945“ selbstständig bearbeiten. Dementsprechend sollte neben dem ca. eineinhalbstündigen geführten Rundgang über das ehemalige Lagergelände ausreichend Zeit zur individuellen Beschäftigung mit der Ausstellung eingeplant werden. Im Rahmen der Nachbereitung werden die Ergebnisse dieser Arbeitsaufträge gesammelt und ausgewertet. In Anknüpfung an die Vorbereitung erfolgt eine Konfrontation der Schülerinnen und Schüler mit dem Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Dabei werden sie sich der Verantwortung der Erinnerung bewusst, die zugleich ein zentrales Anliegen der Opfer ist. Ausgehend von dieser Auseinandersetzung sind thematische Anknüpfungen an die deutsche Nachkriegsgeschichte sowie zur Gegenwart (Rechtsextremismus heute) möglich. Wolfgang Polack, Mitarbeiter der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg Wer ist Jack Terry? Jack Terry wird 1930 unter dem Namen Jakub Szabmacher in Belzyce bei Lublin in Polen als Kind jüdischer Eltern geboren. Nach dem deutschen Einmarsch verliert er schrittweise seine Familie: Zunächst wird sein Vater ins KZ Majdanek deportiert, wo er stirbt. Im Oktober 1942 erschießen die deutschen Besatzer seinen Bruder bei der Räumung von Belzyce. Der Rest der Familie kann der Säuberung des Dorfes jedoch entkommen und versteckt sich weiterhin. Am 23. Mai 1943, nachdem die Familie gefasst worden ist, werden Jack Terrys Mutter und seine Schwester im Lager Budzyn exekutiert. Er selbst bleibt dort, bis das Lager im Sommer 1944 wegen der heranrückenden Roten Armee evakuiert wird. So gelangt Jack Terry schließlich Anfang August 1944 im Alter von 14 Jahren in das KZ Flossenbürg. Dem Todesmarsch der Juden des Lagers entgeht er, indem er sich unter Mithilfe einiger Häftlinge zunächst in einem Tunnel unter dem Lager, später im Krankenrevier versteckt. Nach seiner Befreiung nimmt ein Soldat der US-Army den Jungen mit in die USA. Jack Terry wird dort Geologe, später Psychiater und betreut ehemalige KZ-Häftlinge, die an den psychischen Folgewirkungen ihrer Lagerhaft leiden. Er lebt heute in New York. Jack Terry ca. 50 Jahre danach vor der ehemaligen Kommandantur Jack Terry (damals Jakub Szabmacher) als 15-Jähriger kurz nach der Befreiung des Lagers (am Tor hinten rechts) Auszüge aus der Rede von Jack Terry, gehalten am 24. April 2005, anlässlich des 60. Jahrestages der Befreiung des KZ Flossenbürg 2005 (deutsche Übersetzung: Ulrich Fritz, KZ-Gedenkstätte Flossenbürg) 5 10 15 20 25 30 (…) Jeder von uns hat seine eigene Geschichte, und da eine Geschichte vergessen wird, die man nicht erzählt, hier ganz kurz meine eigene: Vor 60 Jahren, am 23. April 1945, wurde das Konzentrationslager Flossenbürg von Soldaten der 90. Infanterie-Division der 3. US Army befreit. Ich war der Jüngste von 1523 Gefangenen, die noch im Lager waren, und ich konnte noch gehen. Einen Monat vorher war mein 15. Geburtstag, aber ich habe gar nicht auf dieses Datum geachtet. Der 23. April 1945 war auch der traurigste Tag meines Lebens. Als ich außerhalb des Lagers am Eingangstor stand, wenige Meter von hier entfernt, wurde mir bewusst, dass ich nirgendwo hingehörte, dass niemand zu mir gehörte und ich zu niemandem. Zum ersten Mal in vier Jahren fühlte ich etwas anderes als Schrecken und Hunger. Zum ersten Mal in drei Jahren war ich imstande, mir die Bilder meiner ermordeten Familie ins Gedächtnis zu rufen: mein Vater wurde in Majdanek ermordet, meine ältere Schwester wurde vor den Augen meiner Mutter erschossen vom Unterscharführer Reinhold Feix, einem Friseur aus Neustadt im Sudetenland; er erschoss anschließend meine Mutter. Mein Bruder wurde von einem ukrainischen Wachmann getötet und meine zweite Schwester wurde bei der sogenannten „Aktion Erntefest“ im Oktober 1943 im polnischen Poniatow ermordet. Flossenbürg war das dritte Konzentrationslager, in das ich gegen meinen Willen kam. Ist es möglich, Ihnen die unterschiedslose Grausamkeit, den unablässigen Hunger, die Kälte, die Qualen, die Schreie, das Elend, den Schmutz, die Erschöpfung, den Gestank, das verbrannte Fleisch, die Erhängungen, das Leiden, die Schläge, den Schrecken, die Tode zu schildern? Wie beschreibe ich die absolute Erniedrigung, die vollständige Entmenschlichung – das Sterben? Kann all dies an zukünftige Generationen weitergegeben werden? Ich denke nicht. Was vermittelt werden kann, ist das, was wir aus unseren Erfahrungen gefolgert haben: wie kostbar die Freiheit ist, und ich kann mir keine größere Freude vorstellen, als die Freiheit wiederzuerlangen, die uns genommen wurde. (…) Obwohl ich Flossenbürg sobald wie möglich verließ, hat Flossenbürg mich nie verlassen. Für uns, die ehemaligen Häftlinge, wurden die Ereignisse der Vergangenheit das Fundament unseres gequälten Lebens. Bei meiner Rückkehr vor zehn Jahren anlässlich des 50. Jahrestags der Lagerbefreiung war ich verwirrt. Das ehemalige Konzentrationslager Flossenbürg war großteils überdeckt, als hätte es nie existiert. Der Ort, der unsere Erinnerung heimsuchte, wurde wie ein gewöhnliches Grundstück behandelt. Wo einst die Baracken standen, ist heute eine Wohnsiedlung. Kinder, die so alt waren, wie ich 50 Jahre früher, spielten am selben Ort, an dem ich bei Erhängungen zusehen musste. Der Appellplatz war kein leeres Viereck mehr, ein Fabrikgebäude war an die ehemalige Häftlingsküche und Wäscherei angebaut worden. In der Kommandantur befanden sich Sozialwohnungen. Der Rest des Lagers war ein überwucherter Park mit reizendem Buschwerk und hohen Bäumen. Für uns, die ehemaligen Häftlinge, war das ein zusätzliches schmerzvolles Trauma. Warum ließ man das zu? Mit Sicherheit förderte es nicht die Weitergabe unserer Geschichte an zukünftige Generationen. (…) 35 40 Vor 10 Jahren, bei unserer Versammlung zum 50. Jahrestag der Lagerbefreiung, wurde unser Schmerz wieder wachgerufen, als wir den Ort der Verbrechen im veränderten Zustand sahen, und viele von uns beklagten dies und schworen sich, nie wieder zurückzukehren. Glücklicherweise wurden unsere Stimmen gehört (…) Ich sprach mich mit anderen dafür aus, dass die noch vorhandenen Strukturen des Lagers innerhalb der Gedenkstätte erhalten bleiben und zu dokumentarischen Zwecken genutzt werden; dass die geografischen Gegebenheiten so weit als möglich wieder sichtbar gemacht werden und (…) als Zeichen unserer Erfahrung bewahrt werden. (…) Ich bat darum, dem gequälten Menschen die menschliche Form wiederzugeben, die ihm durch einen Prozess der Entmenschlichung genommen worden war. Flossenbürg ist reich an Granit und viele Häftlinge starben bei seinem Abbau. Dieser Granit (…) kann als Verkörperung der Formel „Vernichtung durch Arbeit“ angesehen werden. Es wäre daher passend, unsere Namen in Granitblöcke einzumeißeln und sie an ausgewählten Stellen am Appellplatz zu platzieren, wo unsere gequälten Seelen jeden Tag dem Oberpfälzer Wind ausgesetzt waren. Die Namen sind nun verfügbar. (…) Das wird für junge Besucher der Gedenkstätte eine größere Bedeutung haben als abstrakte Zahlen. Und ich hoffe, die Besucher werden immer einen wertvollen Anstoß mitnehmen, der sie ermutigt, sich für das Gute einzusetzen. Fragen an den Text: 1. Warum bewertet Jack Terry den Tag seiner Befreiung als den „traurigsten Tag [seines] Lebens“ (Z. 7)? Weshalb kann er ihn bis heute nicht als Befreiung empfinden? 2. Mit welchen Gefühlen begegnen die Überlebenden dem ehemaligen Konzentrationslager 50 Jahre nach der Befreiung? 3. Was meint Jack Terry deiner Meinung nach mit den Worten: „Die Namen sind nun verfügbar“ (Z. 42)? Warum ist ihm das wichtig? Flossenbürg, Blick von der Burg auf das spätere Lagergelände 1937 Flossenbürg, Blick von der Burg auf das Lagergelände 1940 Flossenbürg, Blick von der Burg auf das frühere Lagergelände 2005