Denkgebäude der Philosophie - Worauf kann ich bauen? Das Thema Denkgebäude der Philosophie heute Abend ist dem Leitmotiv unseres rotarischen Jahres verpflichtet. Im Sinne handwerklichen Bauens verdankt es sich unserem so unerwartet verstorbenen Präsidenten Spitz. Er hat das physisch-psychische Gebäude seines Lebens um Jahre zu früh zurücklassen müssen. Dies gilt ebenso für unseren Freund Kiesow, dem die Er-haltung von bedeutenden Bauwerken der Vergangenheit in Harmonie mit gegenwärtigem Bauen Lebensaufgabe waren. Ich ehre die beiden Freunde und Meister ihres Fachs, gedenke ihrer und ebenso meiner unvergessenen Gesprächsfreunde Grützner und Knobloch mit verwandten Themen zum Gebäude der menschlichen Psyche. Vorab: Es ergeht philosophischen Denkgebäuden wie materiellen Bauwerken: Sie werden entweder rühmend akzeptiert, restauriert und weitergebaut. Oder sie werden umgebaut, zerstört und dienen als Steinbruch für andere Gebäude oder zerfallen ganz. Ziel meines Vortrags ist es, exemplarische philosophische Denkgebäude der europäischen Vergangenheit und Gegenwart vorzustellen und kritisch zu sichten. Den entscheidenden Eindruck und die Idee eines Gebäudes zu erfassen, kann professionell, nebenbei oder nur oberflächlich erfolgen. Es ist das Problem besonders bei der Interpretation philosophischer Denkgebäude. Sie stammen von Menschen, sind keine Offenbarungen des Göttlichen im strikten Wortsinn. Aber sie rühren an diese. Auch wollen sie im Unterschied zu bloßen individuellen Meinungen Kern und Ziel des menschlichen Denkens nicht nur antippen, sondern diese zu verstehen suchen. Denn bei ihnen allen geht es um Antworten auf solche grundsätzlichen Fragen wie: Warum ist überhaupt etwas und nicht nichts? Was sind die Ursachen für menschliche Existenz und Wirklichkeit? Wie sind die beiden Pole der Philosophie: das Denken selbst und das, was vom Denken objektiv erfasst werden soll, zu bestimmen? Und nicht zuletzt die Pilatusfrage: Was ist Wahrheit? Derartige Fragen werden nicht unmittelbar von der Astronomie, Biologie, Psychologie, der Physik und den Naturwissenschaften gestellt. Aber doch in allen rationalen Systemen, die das Universum, das Leben und die Psyche des Menschen betreffen, vorausgesetzt. Im Unterschied zu den Wissenschaften ist Philosophie auf der Suche nach der Reichweite des Denkens und zielt in ihren geschichtlichen Gestalten nicht zuletzt darauf, was die Welt im Innersten zusammenhält. Sie heftet sich also nicht an einzelne Erscheinungen und 2 Gesetze der Natur; sondern ist auf der Suche nach deren ersten geistigen Prinzipien und darüber hinaus der Materie; sie fragt nach der Urenergie, dem Geist der Urinformation, nach Wissen und Weisheit. Mit einem Wort: nach fundierter Wahrheit, nach der Differenz von Sein und Schein, von Kosmos, Natur und Mensch. Für dieses Vorhaben sollte ihr des Sokrates Forderung gelten: Reden sind durch drei Siebe zu schütteln: Wahrheit, Güte und Notwendigkeit. Philosophische Denkentwürfe, Lebensauffassungen und Daseinsinterpretationen differieren im Einzelnen wie unter Völkern und Kulturen zum Teil erheblich. Das heißt: 1. Morgenländische, abendländische und europäische Philosophie fasste früh schon Universum, Natur, Lebenswelt und Mensch als kosmisch geordnete und rational erkennbare Folge göttlicher Herkunft auf. Diese galt als erste Ursache und letztes Ziel; offenbart im Bild eines göttlichen Baumeisters, Ordners und Herrschers, welcher dauerhafte menschenfreundliche Fügung und Führung verbürgte und in herrscherlicher oder idealer Gestalt verehrt wurde. 2. Fortschreitende rationale Natur- und Welterklärung, sichtbar schon in der späten Antike, deutlich der beginnenden Neuzeit, löste sich allmählich und dann rasch von göttlicher Urheberschaft. Sie machte Kosmos, Natur, Mensch und seine Lebenswelt zu verfügbaren Objekten autonom menschlichen Denkens. Voraussetzung dafür war, dass das, worauf sich Denken richtet, rational zugänglich sei. Jedes Objekt der Erkenntnis müsse; so im Nominalismus, Rationalismus, dann in der Aufklärung und schließlich im absoluten Idealismus des Geistes allein dem Denken gehorchen (Kant, Fichte, Hegel, Schelling). Der Mensch als rationales Wesen, erschaffe selbst durch sein Denken Wirklichkeit, außerhalb derer die Natur in ihren Erscheinungen nur als Material fürs Denken diene. 3. Dieses Hochhaus des transzendental sich verstehenden Idealismus wurde innerhalb eines Jahrhunderts zerbrochen. Zunächst durch die Ablehnung des Alleinanspruchs der idealistischen Vernunft, dann aber durch den deterministischen, dialektischen und schließlich evolutionären Materialismus. Zwar feierte Philosophie noch einmal unter dem Namen des Neukantianismus, der Phänomenologie (Wesensschau des Edmund Husserl), der Existentialontologie (Sein als Entbergen und Anwesen des Seins bei Heidegger) und des Existentialismus (Sartre, Camus) Auferstehung, ehe sie dann in dem Labyrinth unaufhörlicher 2 3 Verstehensprozesse der Hermeneutik/Neohermeneutik oder in Denkkonstrukten und neuronal-materiellen Gehirnaktivitäten sich verlor. 4. In der naturwissenschaftlichen Moderne rückte unaufhaltsam autonomes Wirken von Naturvorgängen -auch im Gehirn- an die Stelle von Geist und Göttlichem. Es dominiert zuletzt eine quantenphysikalische Unbestimmtheit im Innern der Natur. Zufall und selbstorganisierendes Werden gelten als Letztbegründungen. Sie verdrängen den Platz, den autonomes Denken beanspruchte, obwohl sie sich – in Widerspruch zu sich selbst – auf rational verifizierbare Experimente und deren Ergebnisse stützen müssen. Aus der Vereinbarkeit physikalischer Theorien mit experimentell prüfbaren Ergebnissen werden nun z. B. astrophysikalische Denkgebäude vorgestellt, die von inflationärer, expandierender, pluralistischer Entfaltung des Universums sprechen. Grundsätzlich ins Zentrum des Themas führend, lasse ich den Begründer der Wiener Schule des logischen/positivistischen Empirismus, einem verbreiteten Denkgebäude neuzeitlicher Logik, zu Wort kommen. Moritz Schlick, ermordet 1936, formulierte die Notwendigkeit, nach dem Fundament philosophischer Erkenntnis zu suchen, ganz ähnlich wie Aristoteles so: „Die Einsicht, dass die Aussagen des täglichen Lebens und der Wissenschaft schließlich nur auf wahrscheinliche Geltung Anspruch machen können, dass auch die allgemeinsten in jeder Erfahrung bewerteten Ergebnisse der Forschung nur den Charakter von Hypothesen haben, diese Einsicht hat die Philosophen seit Descartes, ja weniger deutlich schon seit dem Altertum, immer wieder angestachelt, eine unerschütterliche Grundlage zu suchen, die allem Zweifel entzogen ist und den festen Boden bildet, auf dem das schwankende Gebäude unseres Wissens sich erhebt. Die Unsicherheit des Gebäudes führte man meist darauf zurück, dass es unmöglich – vielleicht prinzipiell unmöglich – war, durch menschliche Denkkraft ein solideres aufzubauen; aber das hinderte nicht, nach dem natürlichen Felsen zu suchen, welcher vor allem Bauen da ist und selber nicht wankt. Dieses Suchen ist ein lobenswertes, gesundes Streben und es ist auch bei Relativisten und Skeptikern wirksam, die sich seiner gerne schämen möchten“ (Moritz Schlick, Über das Fundament der Erkenntnis, 1934, 49). Hören Sie zusätzlich A. Einstein in Würdigung der Lebensleistung von M. Planck: „Gar mancher befasst sich mit der Wissenschaft im freudigen Gefühl seiner überlegenen Geisteskraft; ihm ist die Wissenschaft der ihm gemäße Sport, der kraftvolles Erleben und Befriedigung des Ehrgeizes bringen soll; gar viele sind 3 4 auch im Tempel zu finden, die nur um utilitaristischer Ziele willen hier ihr Opfer an Gehirnschmalz darbringen. Käme nun ein Engel Gottes und vertriebe alle die Menschen aus dem Tempel, die zu diesen beiden Kategorien gehören, so würde er bedenklich geleert, aber es blieben doch noch Männer aus der Jetzt- und Vorzeit im Tempel drinnen. Zu diesen gehört unser M. Planck, und darum lieben wir ihn.“. Der Begriff Denkgebäude legt nahe, dass je eigenes Denken sich selbst das Fundament gibt. Denn wenn ich klar und zweifelsfrei denke, weiß ich mit Gewissheit, dass ich dadurch meiner Existenz sicher sein kann. Das war die logische Evidenz für Descartes vor vierhundert Jahren. Da alle Sinneswahrnehmungen von den Objekten mich täuschen können, müssen sie dem Zweifel unterworfen werden. Einzig die klare Unterscheidung („Clara et distincta perceptio“), helfe aus diesem Dilemma, solches Denken sei Basis des Ich, so der Vater und nach ihm die Kinder des Rationalismus. Aber muss ich nicht ebenso wie Augustinus im 4. Jh. umgekehrt sagen: Ich bin bereits ein vernünftiges Lebewesen, also kann ich denken? Mein Dasein ist Voraussetzung, damit ich von meinem leiblichen und geistigen Fundament ausgehend sagen kann: Ich bin ein denkendes Lebewesen. Meine »Substanz«, wörtlich das Darunterstehende, ist sowohl materielle wie rationale Voraussetzung des Ich. Das Grundproblem der Philosophie ist nicht die Frage nach Henne oder Ei, sondern es ist die Rangliste Sein oder Denken: Sind wir, weil wir denken? Oder denken wir, weil wir sind und einen rationalen Wesenskern, unseren Geist besitzen? Kann Denken das Sein der Natur, ihre Phänomene und das menschliche Dasein begründen? Gehören sie zusammen? Wer oder was legt den Grund dafür? Das »Gold« des ontologisch/metaphysischen Fundaments bestand in der Gewissheit, dass jedem Menschen, Lebewesen und sinnlich wahrnehmbaren Ding ursprünglich ein wahrhaftes und von Natur her eigenes Sein gegeben sei, welches nicht nur vom menschlichen Denken konstruiert ist. Sie besäßen ein Wesen, das sich, weil es in sich rational strukturiert ist, unmittelbar dem Denken sich offenbare, gleichwohl über sich aber hinausweise. Zu Beginn der großen systematischen Philosophien des abendländischen Kulturkreises, beginnend bei Sokrates, Platon und Aristoteles bezieht sich der Grund von Denken und Sein auf eine dem Denken vorgegebene, nicht aber gänzlich verschlossene Wirklichkeit, auf ideale Urbilder. Deren Sein bildete sich im Menschen ab, so dass er erinnernd/denkend Teil daran hatte. Zusammen mit den Offenbarungen der jüdischen, christlichen, islamischen und den frühen Religionen ägyptischer und anderer vorderasiatischen Kulturen besaßen solche 4 5 Denkgebäude bis ins hohe Mittelalter durch das Attribut „heilig“ höchste Weihe. Einem göttlichen Prinzip, Erschaffer, Planer und Baumeister wurden alles Erschaffene, alles Existierende zugeschrieben, weil kein seiendes Gebilde letztlich aus nichts oder eigener Ursache entstanden sein konnte. Der metaphysische ordnende Ursprung, der über, aber auch in der Substanz, im physisch Erscheinenden und physikalisch Erforschbaren, existieren muss, war die zwingend logische Basis. So hat es cum grano salis das Abendland bis zum hohen Mittelalter verstanden. – Kosmischen Ursprung und Konstanz des Universums, damit der Natur und des Menschen, haben auch die zum Teil noch älteren Kulturen der asiatischen, afrikanischen und indianischen Welt in ihren Symbolen vorausgesetzt. Der Schwachpunkt dieses Denkens bestand darin, wie sich die Ideen, die ewigen Wesenheiten und das Göttliche durch menschliches Denken enthüllen und bestimmen lassen könnten: Musste nicht der Versuch einer Abstraktion von allem Vergänglichen, von Individualität und Existenz, also jeder abstrahierende Aufstieg zu immer höheren, allgemeineren Begriffen nur zu einer Verdopplung von Wahrnehmung und Denken, schließlich zu Tautologien führen - und blieb dabei doch anthropomorphistischen Vorstellungen verhaftet. Wenn das der Fall war, dann waren Bemühungen um metaphysische Seinsgründe – so die Kritik überflüssig. Genau an dieser Stelle – und an dem Versagen, z. B. das Werden von Vielem aus dem Einen und Göttlichen abzuleiten, – wurde das Gebäude der Metaphysik durch den neuzeitlichen Siegeszug autonomen menschlichen Denkens mit seinen aufklärerischen Entwicklungen nicht nur beschädigt, sondern zerrüttet und schließlich als obsolet betrachtet. Skeptisches, relativistisches, nihilistisches Denken hatte zwar bereits in der Antike jene metaphysische Grundlegung, die sich auf universale göttliche Fundamente berief, einge-schränkt. Und seit dem späten Mittelalter und früher Neuzeit wurde stufenweise alle Gewissheit aufs Denken in sprachrichtiger Logik zurückgeführt: Das Wesen der Dinge sollte vergleichender Logik entspringen. Das war die Geburt des Nominalismus: Benennung ist alles. Nach dem, was das Wesen alles Erscheinenden an sich selbst sei, konnte und durfte nicht mehr gefragt werden; nicht mehr nach den ontologischen und erkenntnistheoretisch hinreichenden Voraussetzungen realer Naturerkenntnis durch Wissenschaft. So etablierte sich ein neuer Zwiespalt: Von der Kritik reiner Vernunft bei Kant über Konstruktion und Dekonstruktion der Vernunft in jüngster Philosophie wächst eine immer größere Fragwürdigkeit dessen, was Wirklichkeit ist und Vernunft leisten kann. Die Rede ist heute von einem 5 6 »schwachem Denken«, welches kaum mehr in der Lage sei, sich selbst ein dauerhaftes Fundament zu geben oder von anderswo her zu bekommen. Aufgabe der Philosophie aber ist und bleibt die Suche nach den »ersten Gründen und Ursachen«, so hatte es Aristoteles formuliert; sie muss anknüpfen, woran nicht zu rütteln ist; kann sich nicht auf wankende Meinungen gründen. Ihr Fundament, welches sie braucht, muss jener unverrückbar feste Halt sein, worauf man stehen kann, um die Erde aus den Angeln heben zu können, wie der antike Baumeister Archimedes einst formuliert hatte. Doch ein Fundament, welches nicht erschütterbar (inconcussum) und unabhängig von individuell beschränktem und wandelbarem Bewusstsein der Menschen zu finden ist, führt immer wieder hin zu der Frage: Ist dieses von seinem Sein her (ontologisch also) verstehbar gegeben; verbirgt es sich hinter dem Schleier dessen, was erscheint; und ist dessen Grund gültig vorauszusetzen oder nur durch subjektives Denken konstruiert? Die Frage nach der Realität stellte sich jüngst ein philosophisches Symposion in Bonn. Ist die Realität dem Denken vorgeordnet, kann von diesem zwar erfasst, aber nicht real erschaffen werden. Die Philosophie vermag den empirisch-anschaulichen Aufweis des Weltgrundes trotz aller Bemühungen nicht sinnlich sichtbar vor Augen zu legen. Was aber kann sie? Sie kann Fragen stellen, welche zuinnerst menschlichem Streben nach Erklärung seines Herkommens, Daseins und Ziels entsprechen. Und durch ihre Antworten über menschliches Denken, Handeln und Moral so aufklären, dass die raumzeitliche Natur und Wirklichkeit der Welt besser begründet und wertgeschätzt werden können. Früh war die Enge des diesseitigen Lebens und die Täuschungen durch Wahrnehmung gleichnishaft von Plato dargestellt worden in dem Bild, das bis heute beispielhaft herangezogen wird: Menschen, welche in einer Höhle so gefesselt sind, dass sie nur auf eine gegenüber liegende Wand schauen, nicht aber sich umdrehen oder gar die Höhle verlassen können, nehmen nur Schattenbilder wahr, welche durch ein Feuer hinter ihnen auf der gegenüberliegenden Wand die Abbilder von beleuchteten Gegenständen erscheinen lässt. Erst der Akt der Befreiung aus der Höhle macht es möglich, außerhalb dieser das Licht von Sonne und Gestirnen und gleichnishaft das wirklich Seiende zu erfassen und ins eigene Denken aufzunehmen. Die Seins- und Ideenphilosophie von Parmenides, Platon, und Aristoteles hatte den Weltursprung in Idee und Sein gründen lassen. Von dem raum- und zeitlosen göttlichen Ist des Seins kommt die universale schöpferische Urinformation für den Anfang, die Existenz und das Werden des Kosmos; wahrhaftes Philosophieren soll dorthin aufsteigen (Sokrates). Die biblische 6 7 Genesis bestimmte den Hauch Jahwes als Ausgang für die Selbstentwicklung allen Seins. Auch in den Kultzentren des ägyptischen, mesopotamischen Orients sind metaphysische, monotheistische, dualistische und polytheistische Deutungen des Lebens in Verbindung mit dem Geltungsanspruch von Recht und Unrecht aus dieser Herkunft entstanden. Das setzte sich fort im Judentum, Christentum und Islam. Auch in den asiatischen Weltauffassungen von Brahman-Atman, im Taoismus, Buddhismus, Konfuzianismus, ist das begriffslos Universale ursprüngliche und bleibende Basis. ((M. Eliade hat in seinem Lebenswerk der Gegenwart des Mythos dauernde Geltung (vgl. Hübner) zugesprochen; und Mythen haben in verschiedener Interpretation und unter verschiedenen Namen bis heute überlebt. Nicht zuletzt in kultischen Zeremonien der großen Offenbarungsreligionen. Aber unter der Dominanz wissenschaftlichen Denkens vornehmlich der postmodernen westlichen Welt verloren sie ihre umfassende Bedeutung. Sie werden „durch die unaufhaltsame wie universale Ausbreitung der physikalischen Weltvorstellungen der Entmythologisierung verfallen“ (K. H. Haag)). Und wohin strebt die Philosophie, nachdem sie nahezu alle Lehren von einer dem Denken vorgeordneten göttlichen Wirklichkeit hat der Kritik anheimfallen lassen? Hatte der Nominalismus den ontologischen Seinsausdruck und die metaphysische Herkunft der Begriffe aus dem Wesen der Dinge und transzendenter Ursache als „warme Luft“, abgetan, so sollten von nun an die „Namen“ (Nomen) die den Dingen gegeben wurden, nur noch auf deren klarer Definition beruhen. Dazu musste die ratio humana schließlich selbst göttliche Funktion übernehmen: Nicht mehr sollte konstituierende Ordnung in den Dingen anerkannt werden, sondern transzendentales Denken sollte der Natur und den Dingen in „autonomem geisterhaften Tun“ (vgl. Haag, Fortschritt, 83) ihre Gesetze geben. Menschliche Vernunft selbst durfte dabei der vorgegebenen Natur nicht mehr angehören. Sie war in jene transzendentale „Einheit der Apperzeption“, den Geist also, der die „notwendige Gesetzmäßigkeit aller Erscheinungen“ stiftete (Kant Kr.V. A 127) erhoben worden. An diesem Punkt ist Kant gescheitert. Denn die Ableitung des Seienden aus dem Prozess des Denkens durch ein transzendentales oder ideales Ich ist durch einen erkenntnistheoretisch unüberbrückbaren Abgrund zwischen diesem und dem göttlichen Sein verhindert. Die rationalistische Gleichsetzung von Denken mit Sein (Descartes) und der idealistischen Erweiterung transzendentaler mit absoluter Vernunft (Kant, Fichte, Hegel, Schelling) führte schließlich bei Schopenhauer zu der Negation rational fassbarer Weltursache. Ein irrationaler Wille sei es, der nicht mehr – wie vorher die via antiqua, jüdisch-christlich 7 8 gedeutete Offenbarung oder die reine Vernunft des philosophischen Idealismus – Ordnung stiften konnte. Ein seiner selbst unbewusster Wille hält also die Welt im Innersten zusammen. Die Entwicklung führte über den pragmatischen und dialektischen Materialismus zuletzt zu der Gleichsetzung von zufälliger Entstehung der Materie mit dem Fortgang aller materiellen Entwicklung zu der – auch des Geistes. Wo sollen Philosophen des westlichen postmodernen Denkens nun eine Grundlage finden? Etwa im relativistischen Meinungswirrwarr, der sich aufgeklärt frei weiß; oder im radikal existentialistischen Entschluss der Selbstbestimmung? Menschen sind seitdem aufgefordert, die Struktur ihrer Welt und ihres Wirklichkeitsverständnisses nicht nur subjektiv zu benennen, sondern selbst rational zu konstruieren und ihren Zwecken zu unterwerfen. Habermas empfiehlt detranszendentalisierte Vernunft. Die derzeit vieldiskutierte Option, dekonstruierend zu denken, gebietet, so Derrida, „sich aller subversiven, strategischen und ökonomischen Mittel der alten Struktur zu bedienen…“ mit der Absicht, diese zu ändern (J. Derrida, Grammatologie, 1967,45). Der Dekonstruktivist Derrida will dazu z. B. den gebräuchlichen und logisch anerkannten Begriff „Differenz“ durch Umschreibung in „differance“ zwar nicht zu einem unverständlichen Gedankending machen; aber er möchte dem üblichen identifizierenden Denken den Boden eindeutiger Verstehbarkeit entziehen, um ihm eine von Gewohnheit abweichende lautlich schwebende Bedeutung durch Verfremdung mithilfe des Vokals a zu geben. Die Gewissheit des Denkens und Sprechens in bewährten Begriffen zu dekonstruieren heißt: In den sogenannten eindeutigen Begriffen sind Spuren zu enthüllen, die auf eine Urspur verweisen; auf einen Seinshorizont, welcher sich im krassen Gegensatz zu alltäglicher Sprachverwendung - und hier anlehnend an seinen Lehrer Heidegger – nur seinsschicksalhaft durch nicht endende Reflexion entbergen wird. Damit bleiben nach wie vor die Fragen nach dem Ansichsein der empirischen Weltdinge und deren zweifelsfreie Benennbarkeit ungelöst. Im modernen exakten wissenschaftlichen Denken gelangt man zwar durch aufwändige Forschungen zur Enthüllung immer weiterer Naturerscheinungen, findet aber in ihnen keine letztbegründenden Prinzipien. Kein einzelnes Naturgesetz kann Auskunft geben über den begründenden Grund der Welt. Es gibt trotz intensiver Suche keine Weltformel, kein Auffinden des Gottesteilchens. Das Dilemma der Suche nach den weltschaffenden Bosonen, bereits 1964 von Higgs u.a. vermutet, besteht fort. Weil sie damals nicht gefunden wurden, waren sie als 8 9 „gottverdammte Teilchen“ benannt worden. Dann aber als Schlager für eine Veröffentlichung wurden sie „Gottesteilchen“ genannt. Da waren die großen Naturwissenschaftler des frühen vorigen Jhs. vorsichtiger. Postuliert wurde von M. Planck als Weltgrund die »allmächtige Vernunft«; eine »universale Ordnung“ von Physikern des Kopenhagener Kreises vorausgesetzt; kosmische Gesetzlichkeit z. B. von Heisenberg und der nicht würfelnde Gott von Einstein als Fundament der Naturwissenschaft zur Basis erhoben. Selbstkritisch können diese Wissenschaftler und mit ihnen gegenwärtige (de Espagnat, Zeilinger, Genz u.a.) zwar nicht sagen, was Natur und Wirklichkeit ihrem Wesen nach sind; wohl aber, dass es möglich ist, relevante Aussagen über deren Erscheinungen, Wirkungen und Gesetzmäßigkeiten zu machen. Ferner, dass die uns bekannte Wirklichkeit, die makrokosmische der Gestirne, der Planeten und Milchstraßen ebenso wie die mikrokosmische der Quantenwelt und auch biologische und physikalische Prozesse in Wahrheit von autonomen und rational hoch komplexen Gesetzen abhängen. Naturphänomene und ihre Beziehungen zueinander ruhen auf einer „verschleierten Gesetzlichkeit“, die sich an den Phänomenen und ihren Beziehungen nicht unmittelbar ablesen lässt. Gäbe es aber die sie verbindende Gesetzmäßigkeit gar nicht, so hätten jede Beobachtung, Experiment und Sprache nur punktuelle Bedeutung. Sie verkämen zu bloßen Singularitäten. Mehr noch: Alle bisherigen und künftigen Wissensergebnisse der Physik, Biologie, Psychologie wären stets nur zufällig und irrational. Es könnte überhaupt nicht mehr von Wissenschaft gesprochen und gemäß ihren Methoden geforscht werden. Ihre Versuche und Forschungsergebnisse hätten auf Sand gebaut; Denken könnte mit jederzeit veränderbaren Ergebnissen und Begriffen nur Gebäude mit kürzester Verfallszeit errichten. Es landete naturforschender Geist, welcher sich identifiziert mit dem Diktat von wissenschaftlichen Messungen in Pseudowissen, zuletzt in wohlfeilem Relativismus oder Agnostizismus. Zusammenfassend folgt daraus: Menschliche Vernunft setzt, um überhaupt wissenschaftliche Forschungen betreiben zu können, wahrheitsfähige Vernunft und rational zugängliche Natur- objekte voraus. Wie Gebäude in Raum und Zeit eines materiellen Bodens und v. a. eines Architekten, eines Plans von dem zu errichtenden Bauwerk bedürfen, so können philosophische nicht grundlos sein. Die Behauptung, dass die Selbstauswahl und Selbstorganisation von Naturgesetzen ohne ein planendes Prinzip, welches die Synthese ihres Seins und Wirkens begründet, auskomme, reicht nur zu der Aussage, dass sie sind, als was sie in Phänomenen erscheinen: partikuläre Erscheinungen, reine Singularitäten; meilenweit von einer begründenden und synthetisierenden Ursache entfernt. 9 10 Die Grenzen solcher Einschränkungen überschreitende philosophische Denkbemühung geht einen entscheidenden Schritt weiter, indem sie auf rationalem Weg einen über positivistische Physik hinausreichenden „transrationalen Urgrund“ voraussetzt, der als vernunftgeprägter Anfang postuliert werden muss. Der Ursprung menschlicher Vernunft ist biologisch als Resultat dieser Herkunft anzusehen. Er hat das Denken seitdem ermöglicht, gibt dem in seinen Grenzen denkenden Menschen Gewissheit, dass eine Korrelation zu diesem bestehen muss. Würde nämlich die Natur grundlos willkürlicher Gesetzgebung des Denkens einzelner oder der etablierten Wissenschaft unterworfen sein, dann wäre es ein Wunder, dass die bisher erforschte empirisch bekannte Natur einmal unser Denken bestätigt, ein andermal aber Lügen straft. Sie spottet unserer vermeintlichen Allwissenheit. Sollten Natur und die Menschen in ihr aber von einer gänzlich unbekannten Instanz verursacht sein, dann wäre die Suche menschlichen Denkens nach ihr vergeblich. Tatsache ist, dass der Mensch die Fähigkeit hat, verifizierbare Theorien und Denkgebäude zu ersinnen, denen die Natur gemäß richtigen Experimenten im Einzelnen entspricht. Ursprung, Entwicklung des Universums und die sinnfällige Natur haben bis heute rational handelnde und planende Lebewesen hervorgebracht. Kein philosophisches Denkgebäude der Gegenwart hat - auch auf vorderem Rang von Bestsellerlisten stehend - das Gegenteil bewiesen. Ernst zu nehmende Naturwissenschaftler und Philosophen lehnen zu Recht den auftrumpfenden Nihilismus ab. Wir Menschen sind weder Eintagsfliegen noch sekundenschnell zerfallende Atome. Anerkennen und nutzen wir also unsere geistige Gabe, Wissen und Weisheit beharrlich suchen und erwerben zu können, um wahrhaftig zu denken, zu handeln und mit begründeter Hoffnung zu leben. Ohne diese Basis würde die Suche nach dem Fundament menschlichen Lebens im Nirgendwo enden. Die geistige Überwindung grundloser Nihilismen ist möglich und verantwortlich in unsere Hand gelegt. Ich danke für Ihre Geduld des Zuhörens und freue mich im Rahmen der verfügbaren Zeit über weiterführende kritische Anmerkungen. Hubert Fein 10