Krank und ohne medizinische Behandlung? Das muss nicht sein

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Krank und ohne medizinische Behandlung? Das muss nicht sein!
Thesenpapier zur Weiterentwicklung medizinischer Versorgung obdach- und wohnungsloser Menschen mit und ohne Versicherungsschutz in Berlin für Projekte aus dem
Integrierten Sozialprogramm (ISP) und die Einbeziehung der vorrangig zuständigen
Systeme der Sozialen Sicherung
Ausgangssituation
Grundsätzlich erhält jeder Mensch in Deutschland eine medizinische Versorgung. Dies gilt auch für
obdach- und wohnungslose Menschen, die medizinische Versorgung über das Regelversorgungssystem ist grundsätzlich gewährleistet. Die Zielgruppe sucht jedoch meist nur in Notfällen niedergelassene Ärzte oder die Notaufnahme der Krankenhäuser auf.
Die Gründe dafür sind vielfältig und liegen sowohl an den Zugangsschwellen der medizinischen Regelversorgung als auch an den schwierigen Lebensbedingungen der Betroffenen. Ist die Wohnung
erst einmal verloren, drängen Schulden und andere soziale Schwierigkeiten, dann treten Verelendungsprozesse ein und das Bewusstsein für die eigene Gesundheit tritt in den Hintergrund.
Obdach- und wohnungslose Menschen sind u.a. als Folge prekärer Lebensbedingungen überproportional von behandlungsbedürftigen Erkrankungen betroffen.
Erkrankungen des Verdauungssystems, der Atemwege, des Herz-Kreislaufsystems, Hauterkrankungen, Zahnerkrankungen und nicht zuletzt vermehrt affektive Störungen, Angststörungen sowie Erkrankungen auf Grund eines erhöhten Suchtmittelkonsums, sind keine Seltenheit.
Auf Grund der fehlenden medizinischen Versorgung im Regelversorgungssystem und belastender
Lebensbedingungen (Kälte, Nässe, fehlende Hygiene, mangelhafter Schlaf, schlechte Ernährung), ist
die Lebenserwartung unter den auf der Straße lebenden Menschen deutlich geringer als in der Gesamtbevölkerung.
Wohnungslose Menschen empfinden die Zugangsbarrieren des medizinischen Regelsystems häufig
zu hoch und/oder sind als „nicht-wartezimmerfähig“ diskriminiert und ausgeschlossen. Dies führt
dazu, dass die medizinische Versorgung häufig auf die kostenintensive Notfallmedizin bis hin zur Aufnahme in stationäre Einrichtungen hinausläuft oder über die niedrigschwellige medizinische Versorgung in derzeit sieben Einrichtungen in Berlin erbracht wird.
Derzeit bieten drei Träger, über das Integrierte Sozialprogramm (ISP) finanziert, eine medizinische
Versorgung für obdachlose Menschen in Berlin an. Trotz Finanzierung durch das Land Berlin sind
diese Träger zusätzlich auf das Einwerben von Spenden und den Einsatz ehrenamtlicher Mitarbeiter*innen angewiesen, um die Versorgung aufrechterhalten zu können. Weitere Angebote, die sich
rein aus Spendenmitteln finanzieren, halten z. B. die Jenny de la Torre Stiftung und die Caritas Ambulanz am Bahnhof Zoo, vor.
Finanzierungsmöglichkeit medizinischer Versorgungangebote in Berlin
Eine erhöhte Finanzierung über Zuwendungen im Rahmen des ISP ginge zu Lasten anderer Zielgruppen aus dem ISP. Eine Überführung in das Integrierte Gesundheitsprogramm (IGP) verdrängt Zielgruppen aus der Förderung, die dringend auf die bestehenden Hilfeangebote angewiesen sind.
Darüber hinaus ist die fallbezogene Abrechnung im Rahmen der Vereinbarung zwischen der kassenärztlichen Vereinigung Berlin und dem Land Berlin mit bürokratischen Hürden versehen.
Um dennoch die Finanzierung der medizinischen Versorgung obdach- und wohnungsloser Menschen in Berlin sicherzustellen und den betroffenen die medizinische Leistung zu gewährleisten, die
Ihnen zusteht, bedarf es neuer Finanzierungsmodelle.
Diese könnten sich an den sogenannten „Schwerpunktpraxen für wohnungslose Menschen“ orientieren, wie sie in einem Umsetzungskonzept in Hamburg und Nordrhein-Westfalen entwickelt wurden.
Die Schwerpunktpraxen werden von Krankenkassen, der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) und der
Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration (BASFI) in Hamburg, bzw. dem Ministerium für
Arbeit, Integration und Soziales (MAIS) in NRW gemeinsam finanziert und halten sowohl hausärztliche, wie auch psychiatrische Sprechstunden vor.
Ziel der Konzepte ist, sowohl die medizinische Versorgung obdach- und wohnungsloser Menschen
sicherzustellen, als auch die Integration in das medizinische Regelsystem zu realisieren.
Die Vergütung der in den Schwerpunktpraxen tätigen Ärzte und medizinischen Fachkräfte erfolgt
ausschließlich über pauschalierte Stundensätze.
Damit sollten alle Personalkosten der medizinischen Versorgung in den Schwerpunktpraxen abgegolten sein. Die in den Schwerpunktpraxen erbrachten Leistungen dürfen daher nicht zusätzlich
auch im Regelversorgungssystem abgerechnet werden.
So erhält jede/r Patient/in eine medizinische Versorgung, unabhängig vom Versichertenstatus und
ohne bürokratische Hürden bei der Beantragung der Kosten für nicht-versicherte Patienten.
Die Vergütung der in den Schwerpunktpraxen tätigen Ärzte und medizinischen Fachkräfte wird gemeinsam von den gesetzlichen Krankenkassen, der KV Berlin und dem Land Berlin finanziert. Hierfür
empfiehlt der Paritätische ein jährliches Finanzvolumen, welches mindestens die derzeit geleisteten
Behandlungen in den medizinischen Ambulanzen ermöglicht und pro Konsultation rund 20 Minuten
zur Verfügung stellt.
Die in den Schwerpunktpraxen tätigen Ärzte rechnen die erbrachten Stunden direkt über die KV Berlin ab, der Sprechstundenbedarf wird über die Sprechstundenbedarfsverordnung abgerechnet. Zu
den Abrechnungsmodalitäten sollten Institutsermächtigungen an die Schwerpunktpraxen vergeben
werden und eine Vereinbarung der KV Berlin mit den Trägern geschlossen werden, die die weiteren
Vertragspartner zur Kenntnis erhalten.
Die Organisation der personellen Besetzung der einzelnen Sprechstunden erfolgt durch Schwerpunktpraxis.
Jeweils nach Abschluss eines Behandlungsjahres rechnet die KV Berlin die tatsächlich angefallenen
Vergütungen mit den Finanzierungspartnern ab.
Medizinische Angebote in der Schwerpunktpraxis
In den Schwerpunktpraxen erhalten obdach- und wohnungslose Menschen sowie Menschen mit
einem deutschen Pass oder einem gesicherten Aufenthaltsstatus ohne gesetzlichen Krankenversicherungsschutz eine medizinische Erst- und Grundversorgung mit allgemeinmedizinischem Behandlungsspektrum. Oberstes Ziel ist dabei die Vermittlung in das Regelversorgungssystem und in weiterführende Hilfeangebote.
Das Angebot der Schwerpunktpraxen soll daher der Heranführung an und der Motivation zur Inanspruchnahme ärztlicher und pflegerischer Versorgung dienen und darauf ausgerichtet sein, eine
weitergehende Versorgung durch das Regelsystem zu initiieren. Menschen ohne gesetzlichen Versicherungsstatus sollen entsprechend beraten und unterstützt werden den Versichertenstatus zu
klären und in die GKV aufgenommen zu werden bzw. zurückzukehren.
Sozialpädagogische Angebote
Um ein Parallelsystem der ärztlichen Regelversorgung zu verhindern, ist darauf hinzuwirken, versicherte Personen nach einer ersten Akutversorgung zeitnah in das Regelsystem zu integrieren. Dies
wird Aufgabe des (sozial)pädagogischen Personals sein. Schwerpunkt der Beratung liegt somit in der
Vermittlung in das Regelversorgungssystem und in der sozialrechtlichen Beratung der Betroffenen.
Der Aufbau und die Erhaltung eines Netzwerkes an Fachärzten, die bei Bedarf nicht wartezimmerfähige Patienten und Patientinnen, entweder in der Ambulanz oder in den Räumen der eigenen Praxis
versorgen, ist Aufgabe der (sozial)pädagogischen Fachkräfte.
Die Sozialpädagogische Beratung und pflegerische Versorgung in den Schwerpunktpraxen soll
nach dem dargestellten Konzept über die eingesparten Zuwendungsmittel durch das Land Berlin
finanziert werden.
Sachmittel
Sachmittel, die bisher über einen Finanzierungsmix aus Spenden und Zuwendungen über das Land
Berlin und einen Bezirk bestritten werden, können ebenfalls über die eingesparten Zuwendungsmittel finanziert und gesichert werden.
Eigenmittel werden von den freien Trägern wie bisher eingebracht, die durch Geldspenden, zusätzlichen Sachspenden als auch durch Unterstützung von ehrenamtlichen Mitarbeitenden hinzukommen.
Evaluation
Eine Evaluierung der medizinischen Schwerpunktpraxen wird empfohlen; die Auswertung sollte nach
den ersten zwei Jahren erfolgen.
Ziele und Inhalte müssten zwischen den Vertragspartnern und den beteiligten Schwerpunktpraxen
vereinbart werden.
Berlin, Juni 2016
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