zusammenfassung der kommentare der ungarischen regierung zum

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ZUSAMMENFASSUNG DER KOMMENTARE DER UNGARISCHEN REGIERUNG
ZUM BERICHT DER VENEDIG-KOMMISSION ÜBER DIE VIERTE ÄNDERUNG
DES UNGARISCHEN GRUNDGESETZES
Nach Ansicht der ungarischen Regierung weist der Bericht der Venedig-Kommission
über die vierte Änderung des ungarischen Grundgesetzes (des weiteren: Bericht)
zahlreiche schwerwiegende Mängel auf, die festzustellen sind, um zu einer exakten,
begründeten und fairen Beurteilung der vierten Änderung des ungarischen
Grundgesetzes gelangen zu können. Ein bedeutender Teil der im Bericht dargestellten
Probleme ist auf Irrtümer oder Missverständnisse zurückzuführen.
1. Im Gegensatz zu den Feststellungen des Berichts enthält das ungarische Grundgesetz
keine allgemein bindende Legaldefinition der Familie. Die Bestimmung „Die Grundlage
des Familienverhältnisses ist die Ehe, beziehungsweise die Eltern-Kind-Beziehung.” hat eine
bloss deklaratorische Bedeutung. Da diese Formulierung mehr moralischer, als normativer
Art ist, kann sie nicht so verstanden werden, als ob durch sie beabsichtigt wäre,
Familienverhältnisse anderer Art aus dem Begriff der Familie und dem diesem zukommenden
verfassungsrechtlichen Schutz auszuschliessen. Diese Bestimmung steht daher auch nicht im
Widerspruch zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. (Diese
Bestimmung des Grundgesetzes ist übrigens nicht identisch mit dem früheren Artikel 7 des
Familienschutzgesetzes, der vom Verfassungsgericht u. a. mit der Begründung annulliert
wurde, dass er einen allzu engen Familienbegriff enthielt.)
Der Begriff der Familie in diesem engen Sinne ist übrigens dem ganzen ungarischen
Rechtssystem fremd. Die Regelung über gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften ist seit
2009 in Kraft, sie enspricht auch den Bestimmungen des neuen Grundgesetzes. Zugleich
dienen andere grundrechtliche Regelungen im Grundgesetz (u. a. der Schutz der Privatsphäre,
der Unverletzlichkeit der Wohnung, die Meinungsfreiheit, sowie der Schutz des guten Rufes
der Person, vor allem aber der Schutz der Menschenwürde) auch als Grundlage für einen
effektiven Schutz der Formenvielfalt der menschlichen Beziehungen, und sichern das Recht
einer/einem jeden zu, sich über ihre/seine Familienverhältnisse und familiäre Bindungen frei
entscheiden zu können.
2. Ein anderes Beispiel für einen eklatanten Irrtum ähnlicher Art. Der Bericht geht bei der
Auslegung der Regelung der Schranken der politischen Werbung davon aus, dass das
Grundgesetz Parteien, die keine Landesliste zu stellen imstande waren, aus dem Zugang zur
Möglichkeit der (unentgeltlichen) Wahlwerbung in den öffentlich-rechtlichen Medien
ausschliesse. Gerade das Gegenteil ist aber der Fall: Aufgrund der Bestimmungen des
Wahlverfahrensgesetzes haben auch Parteien, denen es nicht gelang, eine Landesliste zu
stellen, Zugang zu den öffentlich-rechtlichen Medien, wobei ihnen zur Veröffentlichung ihrer
politischen Werbungen eine Sendezeit von gleicher Länge zusteht. (Auch
parteienunabhängige Einzelkandidaten haben Zugang zu dieser unentgeltlichen Dienstleistung
der öffentlich-rechtlichen Medien in Ungarn.)
Der Bericht enthält Folgerungen, nach welchen durch das Verbot der entgeltlichen politischen
Werbung und durch die daraus resultierende mangelhafte Information der Wähler, sowie
durch das angebliche Übergewicht der Regierung in den Medien den oppositionellen Parteien
die Möglichkeit entzogen würde, ihre Meinungen und Ansichten wirksam zu verbreiten.
Wiederum ist gerade das Gegenteil der Fall: Die gesetzliche Regelung erstreckt sich nicht auf
die Wahlwerbung im Internet, in der gedruckten Presse und im Kino, auf Wahlplakate, Flyer
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und andere Drucksachen. Es gibt keine Einschränkungen in der Veröffentlichung von
politischen Talk-Shows, Nachrichtensendungen, Analysen usw. – weder in den öffentlichrechtlichen, noch in den kommerziellen Medien. Die einzige Einschränkung betrifft die
politischen Werbesendungen der kommerziellen Rundfunk- und Fernsehsender. Dieser
liegt der legitime Anspruch zugrunde, dass die verschiedenen finanziellen Möglichkeiten
der Parteien den Wahlkampf nicht entstellen sollen. Diesem Ziel ist auch dadurch gedient,
dass die Veröffentlichung politischer Werbungen in den öffentlich-rechtlichen Medien
unentgeltlich erfolgt und jeder Partei eine gleich lange Sendezeit zusteht. Es ist nicht zu
bezweifeln, dass eine solche Regelung vor allem den kleinen Parteien zugute kommt. Somit
übersteigen diese Einschränkungen der politischen Werbung nicht das Mass, das in
zahlreichen anderen Mitgliedstaaten des Europarates (u. a. in Frankreich, in Italien, in Polen)
bekannt ist und angewendet wird.
3. Der Bericht stellt irrtümlich fest, dass durch das Grundgesetz dem
Verfassungsgericht die Möglichkeit genommen wurde, sich auf seine frühere
Rechtsprechung zu berufen. Im Gegensatz zu Punkt 105 des Berichtes wurde in den
Schlussbestimmungen des Grundgesetzes festgelegt, dass zwar die vor dem Inkrafttreten des
Grundgesetzes gefassten Entscheidungen des Verfassungsgerichts ihre Gültigkeit verlieren,
diese Bestimmung die Rechtswirkungen dieser Entscheidungen jedoch nicht berühre.
Trotzdem enthalten die Punkte 104., sowie 151.2 die Feststellung, dass es dem
Verfassungsgericht verboten wurde, sich auf seine frühere Rechtsprechung zu berufen,
obgleich die diesbezügliche verfassungsgerichtliche Praxis sich auch nach dem Inkrafttreten
der vierten Grundgesetz-Änderung in keiner Weise geändert hat (siehe z. B. die Beschlüsse
Nr. 12/2013. AB, 3109/2013. AB, sowie 3104/2013 AB).
Die einschlägige Regelung in der Vierten Änderung des Grundgesetzes - „Die vor dem
Inkrafttreten des Grundgesetzes gefassten Entscheidungen des Verfassungsgerichts verlieren
ihre Gültigkeit. Diese Bestimmung berührt die Rechtswirkungen dieser Entscheidungen
nicht.” – ist symbolischer Art und hat nur eine sehr beschränkte Bedeutung für die Praxis.
Diese Regelung bildet selbst nach Auffassung des ungarischen Verfassungsgerichts keinen
Unsicherheitsfaktor, mit besonderer Hinsicht darauf, dass die historische Verfassung im Sinne
von Artikel R eine Quelle der Auslegung des Grundgesetzes ist, und die frühere Praxis des
Verfassungsgerichts mittlerweile zu einem Bestandteil dieser Tradition geworden ist. Somit
steht der Anwendung früherer Beschlüsse des Verfassungsgerichts in der
verfassungsgerichtlichen Praxis nichts im Wege, wenn ihr Inhalt nicht ausdrücklich
gegen eine Bestimmung des Grundgesetzes verstösst.
4. Ebenfalls unrichtig ist jene Feststellung im Bericht, wonach durch die Bestimmungen
des Grundgesetzes über die Verurteilung der kommunistischen Vergangenheit eine
allgemeine Verantwortlichkeit (im juristischen Sinne) begründet werden sollte. Die Sätze
des Artikels U über die kommunistische Vergangenheit haben einen politisch-moralischen
Inhalt, d. h. sie sollen als richtungsweisend für die kommende Gesetzgebung gelten. Sie selbst
enthalten dagegen keine streng-normative Regelung, Dies tritt an mehreren Textstellen auch
ausdrücklich zutage. Dementprechend weisen Absätze 5 und 6 auf gesonderte Gesetze zu
ihrer Durchführung hin. Artikel U kann allein nie als Grundlage zu strafrechtlichen
Konsequenzen dienen. Um zu diesen zu gelangen, sind erst strafrechtliche Bestimmungen
entsprechenden Inhalts nötig. So bestimmt Gesetz CCX aus dem Jahre 2011 die
Voraussetzungen der Verfolgung von Straftaten, die in der Zeit der kommunistischen
Gewaltherrschaft begangen wurden. Im Verfahren finden die allgemeinen Vorschriften des
Strafverfahrensrechts Anwendung. Diese Regelungen sind sowohl ihrem Inhalt, wie auch
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ihrer Form nach hinreichend detailliert. Dadurch ist die faire individuelle Beurteilung jedes
Einzelfalles gewährleistet.
Auch die Feststellung des Berichtes ist falsch, wonach die grundgesetzliche Verankerung
der Verantwortung für die kommunistische Gewaltherrschaft wegen der geraumen Zeit,
die seit der Wende verstrichen ist, bedenklich sei. Dabei ist daran zu erinnern, dass die
vorhergehende ungarische Verfassung gerade vom letzten - nicht frei gewählten kommunistischen Parlament verabschiedet, daher nicht auf einen politischen Konsens
gegründet wurde, somit als ein Produkt der Diktatur zustande kam. So ist unschwer zu
verstehen, dass sie keine Bestimmung über die Verantwortung für die Verbrechen der
kommunistischen Diktatur enthielt. Faktisch gab es bis 2010 keine politischverfassungsrechtliche Möglichkeit zur Erschaffung einer neuen Verfassung mit
Bestimmungen solchen Inhalts.
5. Die genannten Irrtümer und Fehler führen wiederholt zu ungenauen und falschen
Folgerungen im Bericht.
Eine überwiegende Zahl von Problemen, die im Bericht namhaft gemacht werden, betrifft die
Durchführungsbestimmungen im Grundgesetz. Daher kann ihre tatsächliche Tragweite und
Auswirkung ohne eine Analyse des legislatorischen Umfelds nicht beurteilt werden. Der
Bericht lässt jedoch in den meisten Fällen die bereits existierenden oder als Entwurf
vorliegenden Durchführungsregelungen ausser Acht und stützt sich auf eigene, meistens
willkürliche Auslegungen a priori von verschiedenen Bestimmungen der Vierten
Änderung. Dieses Verfahren führt zu einer Systematik der Vorurteile, die selbst die
Unbefangenheit der Betrachtung fraglich macht. Dies tritt besonders stark hervor in den
Abschnitten über die „Kriminalisierung der Obdachlosigkeit”, über die Studienförderung oder
über die Anerkennung von Kirchen.
6. Die Obdachlosigkeit wird nicht kriminalisiert. Vielmehr werden die Aufgaben des
Staates und der Gemeinden in der Schaffung von menschenwürdigen
Wohnbedingungen geregelt. Die Gemeinden haben in diesem Rahmen die Möglichkeit, zum
Schutz der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit, der Gesundheit und kultureller
Werte den Aufenthalt als Lebensführung in bestimmten Bereichen des öffentlichen Raumes
für rechtswidrig zu erklären. Solche Bestimmungen sind verfassungsrechtlich zu verankern.
Gesetze und Gemeindeverordnungen enthalten die detaillierte Regelung; diese können auf
ihre Verfassungsmässigkeit vom Verfassungsgericht überprüft werden.
Die neue Regelung beruht auf folgenden grundsätzlichen Elementen:
- eine Gemeinde darf die Lebensführung in bestimmten Bereichen des öffentlichen Raumes
ausschliesslich aus Gründen, die im Grundgesetz bestimmt sind, für rechtswidrig erklären
(untersagen),
- wenn jemand dies nicht beachtet, wird er/sie zum Verlassen des betreffenden Bereiches
aufgerufen,
- erst wenn er diesem Aufruf nicht folgt, kann gegen ihn/sie eine Sanktion (in der Regel
gemeinnützliche Arbeit) verhängt werden.
7. Im Gegensatz zu Punkt 62 des Berichtes wird durch die Vierte GrundgesetzÄnderung das Gesetz über die Förderung der Hochschulstudien der
verfassungsgerichtlichen Kontrolle nicht entzogen. Dabei ist hervorzuheben, dass durch
eine mittlerweile in Kraft getretene Regelung ein System der Studienförderung eingeführt
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wurde, das aus drei Faktoren besteht. Allgemein gilt, dass jeder Studierende selbst seine
Studien finanziert. Die Studierenden können jedoch für die vollständige Deckung der Kosten
ihrer Studien einen Studentenkredit aufnehmen. Drittens legt der Staat jährlich die Zahl der
staatlich finanzierten Studienstellen fest. Wer diese Leistung in Anspruch nimmt, wird
verpflichtet, nach Studienabschluss in Ungarn zu arbeiten. Dies dauert jedoch höchstens so
lange, wie die staatlich finanzierten Studien dauerten.
8. Im Gegensatz zu den Behauptungen des Berichtes wird die Religionsfreiheit weder
durch das Grundgesetz, noch durch die Kardinalgesetze eingeschränkt. Es macht auch
keinen Unterschied, ob religiöse Aktivitäten in organisatorischen Rahmen oder ausserhalb
solcher entfaltet werden. Der Beschluss 6/2013. AB des Verfassungsgerichts weist auch
darauf hin, dass in Ungarn die Religionsfreiheit gewährleistet ist.
Seit seinem Beschluss 8/1993. AB gründet das ungarische Verfassungsgericht seine
Rechtsprechung konsequent darauf, dass die freie Religionsausübung zu unterscheiden sei
von der besonderen Rechtstellung, die der Staat bestimmten Religionsgemeinschaften
zusichert. Im letztgenannten Fall steht dem Staat eine weite Ermessensbefugnis zu, wobei er
die verschiedenen Religionsgemeinschaften differenziert beurteilen darf und kann. (Dies
wurde 2004 auch von der Venedig-Kommission anerkannt. (Siehe in: Guidelines for Review
of Legislation Pertaining to Religion and Belief)) Dementsprechend ist eine Gesetzgebung,
die Rücksicht nimmt auf die Verschiedenheit der historischen Rollen, die Religionen in der
Geschichte eines Staates spielen, zulässig - es sei denn, dass solche Verschiedenheiten als
Argument zur Rechtfertigung von Diskrimination herbeigezogen werden. Auf dieser
Grundlage hat die Venedig-Kommission (CDL-AD(2011)016) festgestellt, dass Artikel VII
des ungarischen Grundgesetzes im Einklang mit Art. 9 EMRK stehe.
Gemäss der ungarischen Regelung kann eine jede Gruppe von Gläubigen bei Erfüllung
gesetzlich
bestimmter
formeller
Voraussetzungen
ihre
Registrierung
als
Religionsgemeinschaft beantragen. Die so registrierten Religionsgemeinschaften können sich
nach ihrem Belieben auch „Kirche” nennen. Die Freiheit des Glaubens, der Lehre und der
Religionsausübung wird weder durch Gesetz, noch durch die Behörden eingeschränkt. Es
kommt zu einem Verfahren des Parlaments i. S. von Artikel VII Abs. 2 des
Grundgesetzes nur dann, wenn eine Religionsgemeinschaft eine besondere Beziehung
zum Staat begründen will, in deren Rahmen sie für gemeinschaftliche Ziele mit dem
Staat zusammenarbeitet, und dieser ihr finanzielle und sonstige Unterstützungen
gewährt (ähnlich den Kirchen des öffentlichen Rechts in Deutschland). In diesem Fall
ändert (ergänzt) das ungarische Parlament das Kirchengesetz, wobei die betreffende
Religionsgemeinschaft in die Anlage des Gesetzes eingetragen wird. Im Bericht wird die
damit zusammenhängende (mittlerweile in Kraft getretene) Verfahrensregelung nicht
berücksichtigt: Demgemäss überprüft der zuständige Minister auf Antrag der
Religionsgemeinschaft, ob diese den gesetzlichen Voraussetzungen entspricht. Falls nicht, so
stellt er dies in einem Verwaltungsbeschluss fest, der gemäss den allgemeinen
Verfahrensvorschriften vor dem Verwaltungsgericht angefochten werden kann. Stellt der
Minister fest, dass die Religionsgemeinschaft jeder gesetzlichen Voraussetzung entspricht,
initiiert er ihre Anerkennung durch das Parlament. Das Parlament hat die Verweigerung der
Anerkennung in seinem Beschluss zu begründen. Dieser kann vor dem Verfassungsgericht
angefochten werden. Dem Verfassungsgericht steht eine weite Ermessensbefugnis in der
Überprüfung der Entscheidung des Parlaments und der Rechtmässigkeit des Verfahrens zu.
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9. Die allgemeine Behauptung des Berichtes, dass durch die Vierte Änderung des
Grundgesetzes die Probleme im Bereich der Unabhängigkeit der Justiz konstant
werden, und sie die verfassungsgerichtliche Kontrolle in ernsthafter Weise untergrabe,
entbehrt jede Grundlage. Diese Behauptungen werden auf zwei Argumente gegründet: a)
auf die Rolle des Präsidenten des Gerichtsverwaltungsamtes, b) auf die Vorschriften, wonach
für die Verhandlung bestimmter Gerichtssachen ein vom Gericht mit allgemeiner örtlicher
Zuständigkeit abweichendes anderes Gericht bestimmt werden kann.
Der Präsident des Gerichtsverwaltungsamtes ist verantwortlich für die zentralen Aufgaben der
Verwaltung der Gerichte. Um seine Unabhangigkeit zu stärken, sind die Vorschriften über
seine Wahl im Grundgesetz verankert worden. Die Vierte Änderung betraf in keiner Hinsicht
die Bestimmungen des Grundgesetzes über die Unabhängigkeit der Richter. Zur
Rechtsstellung des Präsidenten des Gerichtsverwaltungsamtes sind durch die Vierte
Änderung bloss zwei völlig neutrale Bestimmungen deskriptiver Art ins Grundgesetz
eingefügt worden, die nur die Zuständigkeit des Gerichtsverwaltungsamtes und seine
Rolle im Bereich der Justiz klären. Im Gegensatz zu den Behauptungen des Berichts hat
dies nicht die Ausweitung der Befugnisse des Amtes, sondern die Stabilisierung seiner
Rechtsstellung zum Ziel.
Betreffend die Regelung, dass für die Verhandlung bestimmter Gerichtssachen ein vom
Gericht mit allgemeiner örtlicher Zuständigkeit abweichendes anderes Gericht
bestimmt werden kann, ist die ungarische Regierung bereit, diese Bestimmung ausser
Kraft zu setzen. Sie bereitet einen entsprechenden Änderungsvorschlag vor. Dadurch ist
der einschlägige Teil des Berichtes irrelevant geworden.
Die Behauptung, dass die Vierte Änderung des Grundgesetzes die Verfassungsgerichtsbarkeit
untergrabe, entbehrt jede Grundlage. Um sie doch zu begründen, beruft sich der Bericht auf
verschiedene Argumente: a) dass dem Verfassungsgericht die Möglichkeit entzogen wurde,
sich auf seine frühere Praxis zu berufen, b) dass zur Finanzierung einer durch die
Entscheidung des Verfassungsgerichts entstandenen Zahlungsverbindlichkeit eine
Sondersteuer eingeführt werden kann; c) auf die systematische Bestrebung der Regierung,
verfassungswidrige Normen nachrträglich auf Verfassungsrang zu heben, und dadurch die
verfassungsgerichtliche Kontrolle auszuschalten; d) darauf, dass die Zuständigkeit des
Verfassungsgerichts eingeengt wurde, da eine Überprüfung von Normen, die Auswirkungen
auf den Staatshaushalt haben, nur beschränkt möglich ist.
Ad a) Die Bestimmung, wonach die vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes gefassten
Entscheidungen des Verfassungsgerichts ihre Gültigkeit verlieren, ihre Rechtswirkungen
jedoch behalten, bedeutet nicht, dass sich das Verfassungsgericht künftig auf seine früheren
Entscheidungen nicht mehr berufen könnte. Es wird auch nicht ausgeschlossen, dass es
anhand der Auslegung des Grundgesetzes künftig Folgerungen treffe, die Ähnlichkeiten mit
seinen früheren Folgerungen aufweisen.
Ad b) In Bezug auf Sondersteuern zur Finanzierung der durch Entscheidungen des
Verfassungsgerichts entstandenen Zahlungsverbindlichkeiten hat die ungarische
Regierung entschieden, diese Vorschrift ausser Kraft zu setzen, und einen
entsprechenden Änderungsvorschlag vorzubereiten. Dadurch ist der einschlägige Teil
des Berichtes irrelevant geworden.
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Ad c) Die angebliche systematische Bestrebung der Regierung, verfassungswidrige
Normen nachträglich auf Verfassungsrang zu heben, und dadurch die inhaltliche
verfassungsgerichtliche Kontrolle auszuschalten, kann durch nichts bewiesen werden.
Es wurden vielmehr zahlreiche Elemente der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung in den
Text des Grundgesetzes übernommen (z. B. die Gewaltenteilung, das staatliche
Gewaltmonopol, den Schutz der Ehe usw. betreffend).
Die Entscheidungen des Verfassungsgerichts wurden durch die ersten drei GrundgesetzÄnderungen nicht betroffen. Die Vierte Änderung erstreckt sich auf verschiedene
Regelungsgegenstände, in deren Bezug zwar verfassungsgerichtliche Entscheidungen
vorliegen, doch ist keine der neuen Bestimmungen ihrem Inhalt nach eine nachträgliche
Einführung irgendeiner verfassungswidrigen Norm durch Verfassungsänderung. Es ist eine
strenge Unterscheidung nötig zwischen dem Ausserachtlassen von verfassungsgerichtlichen
Entscheidungen und der Neuregelung von Gegenständen, die zuvor auch vom
Verfassungsgericht behandelt wurden.
Detailliert:
Anerkennung von Kirchen: Konzept und Inhalt der vom Verfassungsgericht zuvor
annullierten Bestimmungen war völlig verschieden von der Regelung in der Vierten
Änderung und in den inzwischen erlassenen Durchführungsbestimmungen (siehe oben).
Definition der Familie: Es kann kein direkter Zusammenhang zwischen den vom
Verfassungsgericht zuvor annullierten Normen und den neuen Bestimmungen festgestellt
werden.
Zugang politischer Parteien zu den Medien: Die Einschränkungen waren in den vom
Verfassungsgericht zuvor annullierten Normen weiter gefasst, als in der neuen Regelung.
Meinungsfreiheit: Die Entscheidungen des Verfassungsgerichts bezogen sich auf
straftrechtliche Sanktionen, der Gegenstand der Regelung der Vierten Änderung des
Grundgesetzes ist ein privatrechtlicher Anspruch gegen volksverhetzende Äusserungen.
Autonomie der Hochschulen: Die neuen Vorschriften enthalten eine einfache Ermächtigung,
die Wirtschaftsverfassung der staatlichen Hochschuleinrichtungen zu bestimmen. Ihre
Autonomie wird nicht berührt.
Studienförderung: Die Entscheidung des Verfassungsgerichts beruhte auf formellen Gründen,
da es die Regelung in einer Regierungsverordnung für nicht ausreichend hielt.
Obdachlosigkeit: Die Einschränkungen bezüglich der Lebensführung im öffentlichen Raum
sind in der neuen Regelung viel enger gefasst. Staat und Gemeinden werden verpflichtet, für
die Schaffung menschenwürdiger Wohnbedingungen zusammenzuarbeiten.
d) Im Gegensatz zu den Behauptungen im Bericht macht das Grundgesetz – wenn die
Staatsverschuldung die Hälfte des gesamten Bruttoinlandsprodukts nicht übersteigt – dem
Verfassungsgericht die Überprüfung von Normen, die mit dem Staatshaushalt
zusammenhängen, in vollem Umfang möglich - mit der einzigen Einschränkung, dass in
diesem Fall eine Annullierung nur ex nunc erfolgen kann.
Obiges ist auch vom Präsidenten des ungarischen Verfassungsgerichts, Herrn dr. Péter
Paczolay bekräftigt worden, der am 23. Mai 2013 erklärte, das neue Gesetz über das
Verfassungsgericht biete Möglichkeiten zu einer wirksamen Verfassungsgerichtsbarkeit.
Wegen der hohen Zahl der faktischen Irrtümer und Missverständnisse, sowie wegen des
Mangels einer entsprechenden Analyse der relevanten ungarischen Vorschriften und
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Regelungen ist der Bericht zu revidieren. Die unbegründeten Vorwürfe und
Folgerungen, die vor allem die Unabhängigkeit der Justiz, die verfassungsgerichtliche
Kontrolle und das verfassungsmässige Gleichgewicht in Ungarn betreffen, müssen
überprüft und ausgeräumt werden. Daher ist Ungarn bereit, mit weiteren
Informationen zu dienen und mit der Venedig-Kommission zusammenzuarbeiten, um
eine begründete Beurteilung der rechtlichen Wirkungen der Vierten Änderung des
Grundgesetzes zu erreichen.
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