ZUSAMMENFASSUNG DER KOMMENTARE DER UNGARISCHEN REGIERUNG ZUM BERICHT DER VENEDIG-KOMMISSION ÜBER DIE VIERTE ÄNDERUNG DES UNGARISCHEN GRUNDGESETZES Nach Ansicht der ungarischen Regierung weist der Bericht der Venedig-Kommission über die vierte Änderung des ungarischen Grundgesetzes (des weiteren: Bericht) zahlreiche schwerwiegende Mängel auf, die festzustellen sind, um zu einer exakten, begründeten und fairen Beurteilung der vierten Änderung des ungarischen Grundgesetzes gelangen zu können. Ein bedeutender Teil der im Bericht dargestellten Probleme ist auf Irrtümer oder Missverständnisse zurückzuführen. 1. Im Gegensatz zu den Feststellungen des Berichts enthält das ungarische Grundgesetz keine allgemein bindende Legaldefinition der Familie. Die Bestimmung „Die Grundlage des Familienverhältnisses ist die Ehe, beziehungsweise die Eltern-Kind-Beziehung.” hat eine bloss deklaratorische Bedeutung. Da diese Formulierung mehr moralischer, als normativer Art ist, kann sie nicht so verstanden werden, als ob durch sie beabsichtigt wäre, Familienverhältnisse anderer Art aus dem Begriff der Familie und dem diesem zukommenden verfassungsrechtlichen Schutz auszuschliessen. Diese Bestimmung steht daher auch nicht im Widerspruch zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. (Diese Bestimmung des Grundgesetzes ist übrigens nicht identisch mit dem früheren Artikel 7 des Familienschutzgesetzes, der vom Verfassungsgericht u. a. mit der Begründung annulliert wurde, dass er einen allzu engen Familienbegriff enthielt.) Der Begriff der Familie in diesem engen Sinne ist übrigens dem ganzen ungarischen Rechtssystem fremd. Die Regelung über gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften ist seit 2009 in Kraft, sie enspricht auch den Bestimmungen des neuen Grundgesetzes. Zugleich dienen andere grundrechtliche Regelungen im Grundgesetz (u. a. der Schutz der Privatsphäre, der Unverletzlichkeit der Wohnung, die Meinungsfreiheit, sowie der Schutz des guten Rufes der Person, vor allem aber der Schutz der Menschenwürde) auch als Grundlage für einen effektiven Schutz der Formenvielfalt der menschlichen Beziehungen, und sichern das Recht einer/einem jeden zu, sich über ihre/seine Familienverhältnisse und familiäre Bindungen frei entscheiden zu können. 2. Ein anderes Beispiel für einen eklatanten Irrtum ähnlicher Art. Der Bericht geht bei der Auslegung der Regelung der Schranken der politischen Werbung davon aus, dass das Grundgesetz Parteien, die keine Landesliste zu stellen imstande waren, aus dem Zugang zur Möglichkeit der (unentgeltlichen) Wahlwerbung in den öffentlich-rechtlichen Medien ausschliesse. Gerade das Gegenteil ist aber der Fall: Aufgrund der Bestimmungen des Wahlverfahrensgesetzes haben auch Parteien, denen es nicht gelang, eine Landesliste zu stellen, Zugang zu den öffentlich-rechtlichen Medien, wobei ihnen zur Veröffentlichung ihrer politischen Werbungen eine Sendezeit von gleicher Länge zusteht. (Auch parteienunabhängige Einzelkandidaten haben Zugang zu dieser unentgeltlichen Dienstleistung der öffentlich-rechtlichen Medien in Ungarn.) Der Bericht enthält Folgerungen, nach welchen durch das Verbot der entgeltlichen politischen Werbung und durch die daraus resultierende mangelhafte Information der Wähler, sowie durch das angebliche Übergewicht der Regierung in den Medien den oppositionellen Parteien die Möglichkeit entzogen würde, ihre Meinungen und Ansichten wirksam zu verbreiten. Wiederum ist gerade das Gegenteil der Fall: Die gesetzliche Regelung erstreckt sich nicht auf die Wahlwerbung im Internet, in der gedruckten Presse und im Kino, auf Wahlplakate, Flyer 2 und andere Drucksachen. Es gibt keine Einschränkungen in der Veröffentlichung von politischen Talk-Shows, Nachrichtensendungen, Analysen usw. – weder in den öffentlichrechtlichen, noch in den kommerziellen Medien. Die einzige Einschränkung betrifft die politischen Werbesendungen der kommerziellen Rundfunk- und Fernsehsender. Dieser liegt der legitime Anspruch zugrunde, dass die verschiedenen finanziellen Möglichkeiten der Parteien den Wahlkampf nicht entstellen sollen. Diesem Ziel ist auch dadurch gedient, dass die Veröffentlichung politischer Werbungen in den öffentlich-rechtlichen Medien unentgeltlich erfolgt und jeder Partei eine gleich lange Sendezeit zusteht. Es ist nicht zu bezweifeln, dass eine solche Regelung vor allem den kleinen Parteien zugute kommt. Somit übersteigen diese Einschränkungen der politischen Werbung nicht das Mass, das in zahlreichen anderen Mitgliedstaaten des Europarates (u. a. in Frankreich, in Italien, in Polen) bekannt ist und angewendet wird. 3. Der Bericht stellt irrtümlich fest, dass durch das Grundgesetz dem Verfassungsgericht die Möglichkeit genommen wurde, sich auf seine frühere Rechtsprechung zu berufen. Im Gegensatz zu Punkt 105 des Berichtes wurde in den Schlussbestimmungen des Grundgesetzes festgelegt, dass zwar die vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes gefassten Entscheidungen des Verfassungsgerichts ihre Gültigkeit verlieren, diese Bestimmung die Rechtswirkungen dieser Entscheidungen jedoch nicht berühre. Trotzdem enthalten die Punkte 104., sowie 151.2 die Feststellung, dass es dem Verfassungsgericht verboten wurde, sich auf seine frühere Rechtsprechung zu berufen, obgleich die diesbezügliche verfassungsgerichtliche Praxis sich auch nach dem Inkrafttreten der vierten Grundgesetz-Änderung in keiner Weise geändert hat (siehe z. B. die Beschlüsse Nr. 12/2013. AB, 3109/2013. AB, sowie 3104/2013 AB). Die einschlägige Regelung in der Vierten Änderung des Grundgesetzes - „Die vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes gefassten Entscheidungen des Verfassungsgerichts verlieren ihre Gültigkeit. Diese Bestimmung berührt die Rechtswirkungen dieser Entscheidungen nicht.” – ist symbolischer Art und hat nur eine sehr beschränkte Bedeutung für die Praxis. Diese Regelung bildet selbst nach Auffassung des ungarischen Verfassungsgerichts keinen Unsicherheitsfaktor, mit besonderer Hinsicht darauf, dass die historische Verfassung im Sinne von Artikel R eine Quelle der Auslegung des Grundgesetzes ist, und die frühere Praxis des Verfassungsgerichts mittlerweile zu einem Bestandteil dieser Tradition geworden ist. Somit steht der Anwendung früherer Beschlüsse des Verfassungsgerichts in der verfassungsgerichtlichen Praxis nichts im Wege, wenn ihr Inhalt nicht ausdrücklich gegen eine Bestimmung des Grundgesetzes verstösst. 4. Ebenfalls unrichtig ist jene Feststellung im Bericht, wonach durch die Bestimmungen des Grundgesetzes über die Verurteilung der kommunistischen Vergangenheit eine allgemeine Verantwortlichkeit (im juristischen Sinne) begründet werden sollte. Die Sätze des Artikels U über die kommunistische Vergangenheit haben einen politisch-moralischen Inhalt, d. h. sie sollen als richtungsweisend für die kommende Gesetzgebung gelten. Sie selbst enthalten dagegen keine streng-normative Regelung, Dies tritt an mehreren Textstellen auch ausdrücklich zutage. Dementprechend weisen Absätze 5 und 6 auf gesonderte Gesetze zu ihrer Durchführung hin. Artikel U kann allein nie als Grundlage zu strafrechtlichen Konsequenzen dienen. Um zu diesen zu gelangen, sind erst strafrechtliche Bestimmungen entsprechenden Inhalts nötig. So bestimmt Gesetz CCX aus dem Jahre 2011 die Voraussetzungen der Verfolgung von Straftaten, die in der Zeit der kommunistischen Gewaltherrschaft begangen wurden. Im Verfahren finden die allgemeinen Vorschriften des Strafverfahrensrechts Anwendung. Diese Regelungen sind sowohl ihrem Inhalt, wie auch 3 ihrer Form nach hinreichend detailliert. Dadurch ist die faire individuelle Beurteilung jedes Einzelfalles gewährleistet. Auch die Feststellung des Berichtes ist falsch, wonach die grundgesetzliche Verankerung der Verantwortung für die kommunistische Gewaltherrschaft wegen der geraumen Zeit, die seit der Wende verstrichen ist, bedenklich sei. Dabei ist daran zu erinnern, dass die vorhergehende ungarische Verfassung gerade vom letzten - nicht frei gewählten kommunistischen Parlament verabschiedet, daher nicht auf einen politischen Konsens gegründet wurde, somit als ein Produkt der Diktatur zustande kam. So ist unschwer zu verstehen, dass sie keine Bestimmung über die Verantwortung für die Verbrechen der kommunistischen Diktatur enthielt. Faktisch gab es bis 2010 keine politischverfassungsrechtliche Möglichkeit zur Erschaffung einer neuen Verfassung mit Bestimmungen solchen Inhalts. 5. Die genannten Irrtümer und Fehler führen wiederholt zu ungenauen und falschen Folgerungen im Bericht. Eine überwiegende Zahl von Problemen, die im Bericht namhaft gemacht werden, betrifft die Durchführungsbestimmungen im Grundgesetz. Daher kann ihre tatsächliche Tragweite und Auswirkung ohne eine Analyse des legislatorischen Umfelds nicht beurteilt werden. Der Bericht lässt jedoch in den meisten Fällen die bereits existierenden oder als Entwurf vorliegenden Durchführungsregelungen ausser Acht und stützt sich auf eigene, meistens willkürliche Auslegungen a priori von verschiedenen Bestimmungen der Vierten Änderung. Dieses Verfahren führt zu einer Systematik der Vorurteile, die selbst die Unbefangenheit der Betrachtung fraglich macht. Dies tritt besonders stark hervor in den Abschnitten über die „Kriminalisierung der Obdachlosigkeit”, über die Studienförderung oder über die Anerkennung von Kirchen. 6. Die Obdachlosigkeit wird nicht kriminalisiert. Vielmehr werden die Aufgaben des Staates und der Gemeinden in der Schaffung von menschenwürdigen Wohnbedingungen geregelt. Die Gemeinden haben in diesem Rahmen die Möglichkeit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit, der Gesundheit und kultureller Werte den Aufenthalt als Lebensführung in bestimmten Bereichen des öffentlichen Raumes für rechtswidrig zu erklären. Solche Bestimmungen sind verfassungsrechtlich zu verankern. Gesetze und Gemeindeverordnungen enthalten die detaillierte Regelung; diese können auf ihre Verfassungsmässigkeit vom Verfassungsgericht überprüft werden. Die neue Regelung beruht auf folgenden grundsätzlichen Elementen: - eine Gemeinde darf die Lebensführung in bestimmten Bereichen des öffentlichen Raumes ausschliesslich aus Gründen, die im Grundgesetz bestimmt sind, für rechtswidrig erklären (untersagen), - wenn jemand dies nicht beachtet, wird er/sie zum Verlassen des betreffenden Bereiches aufgerufen, - erst wenn er diesem Aufruf nicht folgt, kann gegen ihn/sie eine Sanktion (in der Regel gemeinnützliche Arbeit) verhängt werden. 7. Im Gegensatz zu Punkt 62 des Berichtes wird durch die Vierte GrundgesetzÄnderung das Gesetz über die Förderung der Hochschulstudien der verfassungsgerichtlichen Kontrolle nicht entzogen. Dabei ist hervorzuheben, dass durch eine mittlerweile in Kraft getretene Regelung ein System der Studienförderung eingeführt 4 wurde, das aus drei Faktoren besteht. Allgemein gilt, dass jeder Studierende selbst seine Studien finanziert. Die Studierenden können jedoch für die vollständige Deckung der Kosten ihrer Studien einen Studentenkredit aufnehmen. Drittens legt der Staat jährlich die Zahl der staatlich finanzierten Studienstellen fest. Wer diese Leistung in Anspruch nimmt, wird verpflichtet, nach Studienabschluss in Ungarn zu arbeiten. Dies dauert jedoch höchstens so lange, wie die staatlich finanzierten Studien dauerten. 8. Im Gegensatz zu den Behauptungen des Berichtes wird die Religionsfreiheit weder durch das Grundgesetz, noch durch die Kardinalgesetze eingeschränkt. Es macht auch keinen Unterschied, ob religiöse Aktivitäten in organisatorischen Rahmen oder ausserhalb solcher entfaltet werden. Der Beschluss 6/2013. AB des Verfassungsgerichts weist auch darauf hin, dass in Ungarn die Religionsfreiheit gewährleistet ist. Seit seinem Beschluss 8/1993. AB gründet das ungarische Verfassungsgericht seine Rechtsprechung konsequent darauf, dass die freie Religionsausübung zu unterscheiden sei von der besonderen Rechtstellung, die der Staat bestimmten Religionsgemeinschaften zusichert. Im letztgenannten Fall steht dem Staat eine weite Ermessensbefugnis zu, wobei er die verschiedenen Religionsgemeinschaften differenziert beurteilen darf und kann. (Dies wurde 2004 auch von der Venedig-Kommission anerkannt. (Siehe in: Guidelines for Review of Legislation Pertaining to Religion and Belief)) Dementsprechend ist eine Gesetzgebung, die Rücksicht nimmt auf die Verschiedenheit der historischen Rollen, die Religionen in der Geschichte eines Staates spielen, zulässig - es sei denn, dass solche Verschiedenheiten als Argument zur Rechtfertigung von Diskrimination herbeigezogen werden. Auf dieser Grundlage hat die Venedig-Kommission (CDL-AD(2011)016) festgestellt, dass Artikel VII des ungarischen Grundgesetzes im Einklang mit Art. 9 EMRK stehe. Gemäss der ungarischen Regelung kann eine jede Gruppe von Gläubigen bei Erfüllung gesetzlich bestimmter formeller Voraussetzungen ihre Registrierung als Religionsgemeinschaft beantragen. Die so registrierten Religionsgemeinschaften können sich nach ihrem Belieben auch „Kirche” nennen. Die Freiheit des Glaubens, der Lehre und der Religionsausübung wird weder durch Gesetz, noch durch die Behörden eingeschränkt. Es kommt zu einem Verfahren des Parlaments i. S. von Artikel VII Abs. 2 des Grundgesetzes nur dann, wenn eine Religionsgemeinschaft eine besondere Beziehung zum Staat begründen will, in deren Rahmen sie für gemeinschaftliche Ziele mit dem Staat zusammenarbeitet, und dieser ihr finanzielle und sonstige Unterstützungen gewährt (ähnlich den Kirchen des öffentlichen Rechts in Deutschland). In diesem Fall ändert (ergänzt) das ungarische Parlament das Kirchengesetz, wobei die betreffende Religionsgemeinschaft in die Anlage des Gesetzes eingetragen wird. Im Bericht wird die damit zusammenhängende (mittlerweile in Kraft getretene) Verfahrensregelung nicht berücksichtigt: Demgemäss überprüft der zuständige Minister auf Antrag der Religionsgemeinschaft, ob diese den gesetzlichen Voraussetzungen entspricht. Falls nicht, so stellt er dies in einem Verwaltungsbeschluss fest, der gemäss den allgemeinen Verfahrensvorschriften vor dem Verwaltungsgericht angefochten werden kann. Stellt der Minister fest, dass die Religionsgemeinschaft jeder gesetzlichen Voraussetzung entspricht, initiiert er ihre Anerkennung durch das Parlament. Das Parlament hat die Verweigerung der Anerkennung in seinem Beschluss zu begründen. Dieser kann vor dem Verfassungsgericht angefochten werden. Dem Verfassungsgericht steht eine weite Ermessensbefugnis in der Überprüfung der Entscheidung des Parlaments und der Rechtmässigkeit des Verfahrens zu. 5 9. Die allgemeine Behauptung des Berichtes, dass durch die Vierte Änderung des Grundgesetzes die Probleme im Bereich der Unabhängigkeit der Justiz konstant werden, und sie die verfassungsgerichtliche Kontrolle in ernsthafter Weise untergrabe, entbehrt jede Grundlage. Diese Behauptungen werden auf zwei Argumente gegründet: a) auf die Rolle des Präsidenten des Gerichtsverwaltungsamtes, b) auf die Vorschriften, wonach für die Verhandlung bestimmter Gerichtssachen ein vom Gericht mit allgemeiner örtlicher Zuständigkeit abweichendes anderes Gericht bestimmt werden kann. Der Präsident des Gerichtsverwaltungsamtes ist verantwortlich für die zentralen Aufgaben der Verwaltung der Gerichte. Um seine Unabhangigkeit zu stärken, sind die Vorschriften über seine Wahl im Grundgesetz verankert worden. Die Vierte Änderung betraf in keiner Hinsicht die Bestimmungen des Grundgesetzes über die Unabhängigkeit der Richter. Zur Rechtsstellung des Präsidenten des Gerichtsverwaltungsamtes sind durch die Vierte Änderung bloss zwei völlig neutrale Bestimmungen deskriptiver Art ins Grundgesetz eingefügt worden, die nur die Zuständigkeit des Gerichtsverwaltungsamtes und seine Rolle im Bereich der Justiz klären. Im Gegensatz zu den Behauptungen des Berichts hat dies nicht die Ausweitung der Befugnisse des Amtes, sondern die Stabilisierung seiner Rechtsstellung zum Ziel. Betreffend die Regelung, dass für die Verhandlung bestimmter Gerichtssachen ein vom Gericht mit allgemeiner örtlicher Zuständigkeit abweichendes anderes Gericht bestimmt werden kann, ist die ungarische Regierung bereit, diese Bestimmung ausser Kraft zu setzen. Sie bereitet einen entsprechenden Änderungsvorschlag vor. Dadurch ist der einschlägige Teil des Berichtes irrelevant geworden. Die Behauptung, dass die Vierte Änderung des Grundgesetzes die Verfassungsgerichtsbarkeit untergrabe, entbehrt jede Grundlage. Um sie doch zu begründen, beruft sich der Bericht auf verschiedene Argumente: a) dass dem Verfassungsgericht die Möglichkeit entzogen wurde, sich auf seine frühere Praxis zu berufen, b) dass zur Finanzierung einer durch die Entscheidung des Verfassungsgerichts entstandenen Zahlungsverbindlichkeit eine Sondersteuer eingeführt werden kann; c) auf die systematische Bestrebung der Regierung, verfassungswidrige Normen nachrträglich auf Verfassungsrang zu heben, und dadurch die verfassungsgerichtliche Kontrolle auszuschalten; d) darauf, dass die Zuständigkeit des Verfassungsgerichts eingeengt wurde, da eine Überprüfung von Normen, die Auswirkungen auf den Staatshaushalt haben, nur beschränkt möglich ist. Ad a) Die Bestimmung, wonach die vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes gefassten Entscheidungen des Verfassungsgerichts ihre Gültigkeit verlieren, ihre Rechtswirkungen jedoch behalten, bedeutet nicht, dass sich das Verfassungsgericht künftig auf seine früheren Entscheidungen nicht mehr berufen könnte. Es wird auch nicht ausgeschlossen, dass es anhand der Auslegung des Grundgesetzes künftig Folgerungen treffe, die Ähnlichkeiten mit seinen früheren Folgerungen aufweisen. Ad b) In Bezug auf Sondersteuern zur Finanzierung der durch Entscheidungen des Verfassungsgerichts entstandenen Zahlungsverbindlichkeiten hat die ungarische Regierung entschieden, diese Vorschrift ausser Kraft zu setzen, und einen entsprechenden Änderungsvorschlag vorzubereiten. Dadurch ist der einschlägige Teil des Berichtes irrelevant geworden. 6 Ad c) Die angebliche systematische Bestrebung der Regierung, verfassungswidrige Normen nachträglich auf Verfassungsrang zu heben, und dadurch die inhaltliche verfassungsgerichtliche Kontrolle auszuschalten, kann durch nichts bewiesen werden. Es wurden vielmehr zahlreiche Elemente der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung in den Text des Grundgesetzes übernommen (z. B. die Gewaltenteilung, das staatliche Gewaltmonopol, den Schutz der Ehe usw. betreffend). Die Entscheidungen des Verfassungsgerichts wurden durch die ersten drei GrundgesetzÄnderungen nicht betroffen. Die Vierte Änderung erstreckt sich auf verschiedene Regelungsgegenstände, in deren Bezug zwar verfassungsgerichtliche Entscheidungen vorliegen, doch ist keine der neuen Bestimmungen ihrem Inhalt nach eine nachträgliche Einführung irgendeiner verfassungswidrigen Norm durch Verfassungsänderung. Es ist eine strenge Unterscheidung nötig zwischen dem Ausserachtlassen von verfassungsgerichtlichen Entscheidungen und der Neuregelung von Gegenständen, die zuvor auch vom Verfassungsgericht behandelt wurden. Detailliert: Anerkennung von Kirchen: Konzept und Inhalt der vom Verfassungsgericht zuvor annullierten Bestimmungen war völlig verschieden von der Regelung in der Vierten Änderung und in den inzwischen erlassenen Durchführungsbestimmungen (siehe oben). Definition der Familie: Es kann kein direkter Zusammenhang zwischen den vom Verfassungsgericht zuvor annullierten Normen und den neuen Bestimmungen festgestellt werden. Zugang politischer Parteien zu den Medien: Die Einschränkungen waren in den vom Verfassungsgericht zuvor annullierten Normen weiter gefasst, als in der neuen Regelung. Meinungsfreiheit: Die Entscheidungen des Verfassungsgerichts bezogen sich auf straftrechtliche Sanktionen, der Gegenstand der Regelung der Vierten Änderung des Grundgesetzes ist ein privatrechtlicher Anspruch gegen volksverhetzende Äusserungen. Autonomie der Hochschulen: Die neuen Vorschriften enthalten eine einfache Ermächtigung, die Wirtschaftsverfassung der staatlichen Hochschuleinrichtungen zu bestimmen. Ihre Autonomie wird nicht berührt. Studienförderung: Die Entscheidung des Verfassungsgerichts beruhte auf formellen Gründen, da es die Regelung in einer Regierungsverordnung für nicht ausreichend hielt. Obdachlosigkeit: Die Einschränkungen bezüglich der Lebensführung im öffentlichen Raum sind in der neuen Regelung viel enger gefasst. Staat und Gemeinden werden verpflichtet, für die Schaffung menschenwürdiger Wohnbedingungen zusammenzuarbeiten. d) Im Gegensatz zu den Behauptungen im Bericht macht das Grundgesetz – wenn die Staatsverschuldung die Hälfte des gesamten Bruttoinlandsprodukts nicht übersteigt – dem Verfassungsgericht die Überprüfung von Normen, die mit dem Staatshaushalt zusammenhängen, in vollem Umfang möglich - mit der einzigen Einschränkung, dass in diesem Fall eine Annullierung nur ex nunc erfolgen kann. Obiges ist auch vom Präsidenten des ungarischen Verfassungsgerichts, Herrn dr. Péter Paczolay bekräftigt worden, der am 23. Mai 2013 erklärte, das neue Gesetz über das Verfassungsgericht biete Möglichkeiten zu einer wirksamen Verfassungsgerichtsbarkeit. Wegen der hohen Zahl der faktischen Irrtümer und Missverständnisse, sowie wegen des Mangels einer entsprechenden Analyse der relevanten ungarischen Vorschriften und 7 Regelungen ist der Bericht zu revidieren. Die unbegründeten Vorwürfe und Folgerungen, die vor allem die Unabhängigkeit der Justiz, die verfassungsgerichtliche Kontrolle und das verfassungsmässige Gleichgewicht in Ungarn betreffen, müssen überprüft und ausgeräumt werden. Daher ist Ungarn bereit, mit weiteren Informationen zu dienen und mit der Venedig-Kommission zusammenzuarbeiten, um eine begründete Beurteilung der rechtlichen Wirkungen der Vierten Änderung des Grundgesetzes zu erreichen.