Pflege im Wandel der Zeit Viele Sozialstationen in Baden-Württemberg feiern in diesen Jahren ihr 40 jähriges Bestehen. Mitte der 70 er Jahre folgte die Gründung der meisten kirchlichen Sozialstationen auf die Gemeinde- oder Hauskrankenpflegevereine, die zuvor die pflegebedürftige Bevölkerung versorgte. Mit Zunahme von Pflegebedürftigkeit und einem Wandel innerhalb der Gesellschaft reichte die (oft von Klosterschwestern oder Diakonissen) geleistete häusliche Pflege nicht mehr aus; Sozialstationen entstanden. Es änderten sich Strukturen, Organisation und personelle Besetzung. Mit Einführung der Pflegeversicherung 1995 kam ein tief greifender Wandel der ambulanten Pflege: der Gedanke der Wirtschaftlichkeit in der Krankenpflege war geboren. Am meisten änderte sich wohl der Begriff „Zeit“. In einer Gesellschaft, in der Gewinnmaximierung hohen Stellenwert einnimmt, wird Zeit an Produktionszahlen gemessen; doch menschenwürdige Pflege lebt von der Zeit, die Pflegekräfte für Trost und Zuspruch, für Zuwendung und zwischenmenschliche Beziehungen aufbringen können. Mitte der 90 er Jahre wurde landauf, landab die „Qualität der Pflege“ proklamiert; Prüfungen durch die Medizinischen Dienste veranlasst; Dokumentationsanforderungen geboren; seitdem werden Beschwerden, Stürze, Schmerzen u. a. „gemanagt“ mit stets neuen Assessments alle Eventualitäten der Pflege ausgelotet. Angelehnt an die DIN ISO (Zertifizierungsmethode aus Produktionsbetrieben) wird dokumentiert, gemessen, bewertet. Pflegequalität ist nach unserer Auffassung nicht das vollständige Abbild aller Arbeitsprozesse in einem Qualitätshandbuch; Pflegequalität ist die Zufriedenheit eines Gepflegten, der unter Wahrung seiner Würde, unter Wahrnehmung seiner Person als Gesprächspartner, mit Wünschen und Bedürfnissen an Zuneigung und menschlicher Nähe professionell versorgt wird. Pflegequalität stellt hohe Anforderungen an Kenntnisse der Pflegewissenschaften; aber Fachkompetenz alleine stellt keine ganzheitliche Pflege dar. Ohne die Sozialkompetenz der Pflegekraft , und ohne die Zeit, diese Sozialkompetenz auch leben zu können, wird es nach unserem Dafürhalten keine Pflegequalität geben. Nach einer aktuellen Meldung des VincentzVerlages stellt die Personalnot an Pflegekräften ein bundesweites Problem dar; BadenWürttemberg liegt am 4. Platz des Rankings der nicht zu besetzenden Stellen. Die Situation in den kirchlichen Sozialstationen ist unbefriedigend: unbefriedigend sind die Leistungsentgelte, die für die erbrachten Leistungen erzielt werden und von den Krankenkassen nicht auf das Niveau der tatsächlichen Kosten angehoben werden; unbefriedigend ist der ungeheure Aufwand an Bürokratie, der zum Nulltarif geleistet werden muss; unbefriedigend ist der Arbeitsdruck, der auf den Beschäftigten der Sozialstationen liegt; unbefriedigend ist die Pflege mit dem ständigen Blick auf die Uhr. Wenn unter solchen Rahmenbedingungen auch heute noch menschliche Pflege geleistet werden kann, so danken das die Sozialstationen vor allem den Zuschüssen ihrer Pfarrgemeinden und Spenden; dem Stückchen Zeit, welches dadurch für die pflegebedürftigen Menschen geschenkt wird. Bitter ist allerdings, dass dieses Stückchen Zeit durch die Defizite der nicht auskömmlichen Leistungsentgelte immer weniger wird. Die pflegebedürftigen Menschen sollten unserer Gesellschaft mehr wert sein; mehr wert sein sollten auch diejenigen, die im Pflegeberuf an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit arbeiten. Interessengemeinschaft Sozialstationen Rhein /Neckar, Christel Satter