Epee Edition 1. Auflage Mai 2014 Copyright © Christian Wernersson Winkelmann 2014 Herausgeber: Epee Edition e.K., Kehl a.Rh. Einband- und Innengestaltung: Nicolas Emmert ISBN 978-3-943288 Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne eine schriftliche Genehmigung des Verlages nicht verwendet oder reproduziert werden. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronische Systeme. Jegliche Haftung des Autors oder des Verlages ist ausgeschlossen. www.epee-edition.com Brasilianische Flagge © Garyck Arntzen Christian Wernersson Winkelmann Ein Dank geht an: Carolina Arboleda, Bogotá, Kolumbien Elid Mayerli Hellwing Burgos, Guayaquil, Ecuador Marialaura Lavado, Lima, Peru Inhalt Seite Vorwort Warum Brasilien nicht Spanisch spricht (1580-1640) 12 Flucht nach Brasilien 19 Napoleons Feindbild & Weltbild 22 Napoleon wütet in Portugal 26 Brasilien im Aufbruch & Kadaverkönigreich Portugal 33 Die brasilianische Gesellschaft im 19. Jahrhundert: - Demographie 43 - Die Bevölkerungsgruppen 50 - Brasilianischer und Angelsächsischer Rassismus 61 - Die Indianer 67 - Die Europäer 77 Die Wirtschaft Brasiliens 84 Vom König zum Kaiser 96 Das Kaiserreich Brasilien unter Pedro dem Ersten (*1798, † 1834) 101 Die Kinder sollen auf den Thron 117 Maria da Glória – Königin von Portugal (*1819, † 1853) 118 Das Kaiserreich Brasilien unter Pedro dem Zweiten (*1825, † 1891) - Das Kind 124 - Der Kaiser 134 Nach der Monarchie 149 Brasilien – Perspektiven 157 Anhang 172 Vorwort Alles, was wir sind, ist das Resultat dessen, was wir waren. Denn die Gegenwart verstehen wir erst in der Rückschau. Und Zukunft ist lediglich eine Option, keine Realität. Wie der dänische Philosoph Søren Kierkegaard es ausdrückte: Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden. Andererseits ist Geschichte die Wahrheit, oder auch die Lüge, auf die wir uns geeinigt haben. Die Blickwinkel und Interpretationen variieren. Historische Ereignisse wie auch aktuelle Wahrheiten können jederzeit von jedem anders beurteilt werden. Brasilien wird gern wahrgenommen als Land der Lebensfreude, das Land von Samba, Fußball und Karneval. Was gibt es außer Amazonas und Piranhas zwischen Capoeira und Caipirinha1 noch zu wissen? Eine Menge. Dieses Buch möchte zweierlei: zunächst die Geschichte des Landes – insbesondere eines der vielen Kapitel – näher beleuchten, weil diese Episode so faszinierend und Wegbereiterin war: Brasilien, das Kaiserreich. Andererseits möchte dieses Buch vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse Brasilien so erklären, wie es heute ist, indem die Zusammenhänge deutlich werden zwischen damals und heute, zwischen Entdeckung, Kolonialzeit und Aktualität. Die einzigartige ethnische Vielfalt der Bevölkerung, ihre Herkunft und ihre Eigenheiten, sind ein weiteres Thema. Es wird deutlich werden, wie sehr Brasiliens Geschichte mit der europäischen und vor allem portugiesischen verknüpft war und ist. Dass durch amerikanische und afrikanische Elemente ein Land entstanden ist, das auf der Welt seinesgleichen sucht und seinen Platz, zwischen Selbstverständnis und Verantwortung. Ein brasilianisches Kaiserreich – hat es das wirklich gegeben? Natürlich. Und die kausale Rolle des Napoleon Bonaparte ist dabei nicht zu unterschätzen. In Deutschland und Österreich fand er Freunde und Feinde. Er spaltete, motivierte und provozierte, sodass es zur Sehnsucht nach Freiheit oder staatlicher Einheit kam. Viele Menschen in Europa wollten nun auch eine Nation bilden, die sich in einem Staat zusammenfindet, 1 Hauptbestandteil dieses Modegetränks ist das Nationalgetränk Brasiliens, die Cachaça (Zuckerrohrschnaps). auch um in Zukunft sicher zu sein vor solchen selbsternannten Weltverbesserern. Wollten aber auch Bürger- und Menschenrechte, eine andere Gesetzgebung, nach dem Vorbild der Franzosen und nach dem Vorbild der US-Amerikaner. Dichter und Maler in den deutschen Ländern schufen gleichzeitig die Romantik als Ausdruck von Rückbesinnung und sentimentalem Gefühl für die kleinen, schönen Dinge des Lebens. Liebe zur Heimat als Reaktion auf die Revolution und als sichere Zuflucht vor den Dingen da draußen, die uns Angst machen. Als Ausdruck auch, wie die Kritiker sagen, von kleinbürgerlichem Spießertum. In Portugal verursachte Napoleon hingegen nur Furcht und Blutvergießen. Doch daraus wurde Brasiliens Kaiserreich. Die Kenntnis dieser Zeit ermöglicht es, Brasilien, so wie es heute ist, ein Stück weit besser zu verstehen. Während zahlreiche Länder Europas im 19. Jahrhundert, inspiriert durch die Ideen der Aufklärung und angefacht durch die Französische Revolution, ihre nationale Identität in der Beseitigung der Monarchie suchten, während andere Kolonien in Lateinamerika den Weg in die Unabhängigkeit in einem blutigen Kampf gegen die Kolonialmacht Spanien antraten, verwirklichte Brasilien zur selben Zeit unter ganz besonderen Umständen und auf völlig andere Weise die gleichen Ziele. Brasiliens Mutterland Portugal verlagerte die Monarchie unter dem Druck Napoleons und dem Schutz Englands für einige Jahre ganz nach Brasilien. Das aufkommende Nationalbewusstsein und Unabhängigkeitsstreben der weißen Brasilianer bildete sich daraufhin unter Einbeziehung und Führung eines aus Portugal stammenden Monarchen. Es entstand also kein unüberbrückbarer Gegensatz zwischen Kolonie und Metropole, zwischen Freiheit und Monarchie. Die konstitutionelle Monarchie als Kompromiss zwischen den liberalen Forderungen jener Zeit und den althergebrachten kolonialen Strukturen bewahrte Brasiliens Einheit und ermöglichte einen vergleichsweise reibungslosen Weg in die Unabhängigkeit. Die Ereignisse überschlugen sich. Vom 16. Jahrhundert bis ins Jahr 1807 war Brasilien noch Kolonie Portugals gewesen und wurde 1808 urplötzlich Sitz des portugiesischen Königshofes und damit Mittelpunkt des portugiesischen Kolonialreiches2. 1822 wurde Brasilien sogar unabhängiges Kaiserreich. Nach einer unsicheren Regentschaftsphase von 1831 bis 1840 setzte schließlich die konsolidierende Phase des Zweiten Kaiserreiches (1840 bis 1889) ein. Im 19. Jahrhundert gab es eine Reihe umwälzender Veränderungen in der portugiesischen und der brasilianischen Geschichte. Ohne die Kenntnis der kolonialen Vorgeschichte aber würde die Tragweite dieser Veränderungen nur schwer zu erfassen sein. Neben der Politik lohnt sich auch ein genauerer Blick auf die Herrscherpersönlichkeiten der beiden brasilianischen Kaiser und ihre Familien sowie auf die Wirtschaft und den Handel, welche den Spagat schaffen mussten zwischen der Sklavenhalter-Epoche und der neuen Zeit. Da untrennbar mit der Geschichte der Unabhängigkeit Brasiliens verbunden, müssen ebenfalls Portugal und das Wirken Napoleons in den Fokus genommen werden. Nicht fehlen darf ein genauer Blick auf die höchst unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, aus denen sich in Brasilien eine Nation entwickeln sollte. Bei den Recherchen für dieses Buch war zu konstatieren, dass ältere Literatur als Quelle zu diesem Thema aus zwei Gründen die bessere Wahl war: Die Autoren waren den Geschehnissen sowohl zeitlich als auch emotional noch deutlich näher. Als Ergänzung zu aktuellen Meldungen und dem neuesten Forschungsstand erscheint es mir höchst angebracht und ich kann dem Leser nur ans Herz legen, solche Werke näher kennenzulernen, die ich hier in Auszügen zitieren darf. Es ist mir eine Ehre und ein Anliegen, Passagen dieser Werke dem heutigen Leser verfügbar zu machen. Christian Wernersson Winkelmann 2 Dazu gehörten im Atlantik Madeira, die Azoren und die Kapverden; weiterhin Angola, Mozambik und Siedlungen am Golf von Guinea in Afrika; Goa, Damão u.a. in Indien; Macau in China; Timor in Indonesien; sowie die Stadt Mazagão in Marokko – Kolonien, die so weit über die ganze Welt verstreut waren, dass es ohnehin unmöglich schien, sie dauerhaft zu kontrollieren, erst recht in der hier geschilderten Situation des Mutterlandes. Warum Brasilien nicht Spanisch spricht (1580 bis 1640) Christoph Kolumbus – der uns Europäern heute als Entdecker Amerikas gilt, obwohl die Wikinger 1000 nach Christus bereits dort waren und die aus Asien eingewanderten “Indianer“ seit tausenden von Jahren dort lebten – war bis zu seinem Tode der Meinung, 1492 den westlichen Seeweg nach Indien gesegelt und unterwegs auf irgendwelche Inseln gestoßen zu sein, nicht aber einen neuen Kontinent entdeckt zu haben. Es war ein Portugiese, nämlich Dom Henrique de Avis, genannt Denkmal der Entdeckungen in Lissabon – Heinrich der Seefahrer mit einer Karavelle auf den Armen. (© mediaservice24) 12 Heinrich der Seefahrer, der schon im frühen 15. Jahrhundert den Portugiesen draußen im Atlantik die Azoren, Madeira und für einige Zeit auch den Besitz der Kanarischen Inseln sicherte. Er ist im wahrsten Sinne des Wortes die herausragende Figur des 1960 in Lissabon vollendeten Denkmals zu Ehren der Seefahrer, Kartographen, Steuerleute, Gouverneure, Missionare und Künstler. Am Bug einer steinernen Karavelle schaut er in die Ferne und symbolisiert Portugals Entdeckergeist. Nur einen Steinwurf entfernt befindet sich der Torre de Belém, ein Das Brasil-Holz, das dem Land den Namen gab. (© mauroguanandi) ebenso märchenhaft anmutender wie symbolträchtiger Turm. Mit dessen Bau wurde 1516 begonnen. Ursprünglich stand er auf einer Insel, 13 heute durch Sandanschwemmungen direkt an der Atlantik-Küste. Aber Portugal, das immer genauso sehr auf den großen, unbekannten Ozean wie nach Europa schaute, wollte auch den Seeweg nach Indien finden. Zu Land war der Handel mit jenem weit entfernten asiatischen Subkontinent langwierig und durch Überfälle gefährlich geworden. Pedro Álvares Cabral. Zunächst entdeckten und kartographierten die von Heinrich dem Seefahrer beauftragten Schiffsbesatzungen mehr als 2000 Seemeilen weit die afrikanische Westküste. Es war dann kurze Zeit nach Kolumbus wieder ein Portugiese, der den damals kürzesten Seeweg nach Indien3 fand, nämlich ostwärts: Das war Vasco da Gama 1498 nach einer Fahrt um die Südspitze Afrikas. Indien – das versprach Profit durch Handel mit Gewürzen. Italienische Küstenstädte wie Genua waren auf diese Weise reich geworden. Portugal wollte an diesem lukrativen Geschäft teilhaben. Es war ein Portugiese, Fernão de Magalhães (auch Magellan genannt), der die erste Weltumseglung erfolgreich in Angriff nahm.4 Und es war erneut ein Portugiese, der im Jahre 1500 Brasilien entdeckte: Pedro Álvares Cabral. Auch er hielt das neu entdeckte Land für eine 3 Heute ist von Europa aus durch den Suez-Kanal der Weg nach Indien natürlich kürzer. 4 Sie wurde 1522 ohne ihn vollendet, da er dicht vor dem Ziel auf den Philippinen ums Leben kam. 14 Insel und nannte sie ’Isla de Vera Cruz’ (Insel des wahren Kreuzes). Doch schon Magellan war für die Spanier unterwegs gewesen, wie auch der Italiener Kolumbus. Portugal musste sich ins Zeug legen, wenn es mit dem ungeliebten, deutlich größeren Nachbarn im Wettlauf um die „Neue Welt“ Schritt halten wollte. Der in Europa immer beliebtere und daher immer wertvollere Zucker versprach enormen Gewinn, und Zucker aus Zuckerrohr war daher eines der ersten industriell erzeugten Welthandelsgüter überhaupt. Das Zuckerrohr stammte eigentlich aus der Südsee und gelangte schon im Mittelalter über die Araber nach Europa. Die Portugiesen bauten es erfolgreich auf den Azoren und Madeira an. Als dann die Nachfrage immer weiter stieg, war die Suche nach neuen, umfangreicheren Anbauflächen einer der Beweggründe für die Entdeckungsfahrten. Kolumbus selbst brachte das Zuckerrohr mit in die Karibik. Portugal begann sich vor allem wegen der Aussicht auf den Zuckerrohranbau für Brasilien zu interessieren. Schon 1494 führten die Entdeckungen des unbekannten Festlandes, das erst 1507 auf einer Landkarte des Badeners Martin Waldseemüller nach dem italienischen Seefahrer Amerigo Vespucci erstmals „Amerika“ genannt wurde, zu dem Vertrag von Tordesillas. Der ansonsten heftig in der Kritik stehende Borgia-Papst Alexander VI.5, selbst ein Spanier, war dabei die treibende Kraft. Er wollte dafür sorgen, dass Spanien und Portugal sich friedlich die Entdeckungen teilten, und es wurde eine Demarkationslinie festgelegt, um dies zu erreichen: der 46. Längengrad. Doch um sein Kolonialreich durch die Jahrhunderte zu behaupten, war das kleine Portugal zu Kompromissen gegenüber Spanien, England und Frankreich gezwungen. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts hatte Portugal sich übernommen bei dem Versuch, in Nordafrika ein gewichtiges Wort mitzusprechen und Marokko von den Muslimen zu befreien. Das Ende vom Abenteuer: 5 Rodrigo Borgia (oder Borja). Mindestens zwei seiner schätzungsweise zehn Kinder zeugte er als Papst, feierte im päpstlichen Palast Gelage und betrieb Simonie, den Kauf kirchlicher Ämter – gern auch für Verwandte oder Freunde (= Nepotismus). Er ließ sich gern „Gott“ nennen, war machthungrig und korrupt, aber bei der Arbeit diszipliniert – und überdies, wenn gerade Zeit dafür war, von großer Frömmigkeit. Berüchtigt waren auch seine Kinder Cesare und Lucrezia, wobei Literatur und Geschichtsschreibung auch geflissentlich übertrieben haben. 15 Der 24-jährige König Sebastião sowie 18.000 Mann, die auf 500 Schiffen losgefahren waren, kamen vor Marokko ums Leben. Als auch noch der lungenkranke Kardinal und Großinquisitor Henrique, Onkel und vormals Regent des verstorbenen Königs, das Zeitliche segnete, war die portugiesische Dynastie Avis nach fast 200 Jahren erloschen. Als rechtmäßiger Anwärter auf den vakanten portugiesischen Thron sah sich Filipe II. von Spanien, einer der Sieger der Seeschlacht von Lepanto 1571 über die Türken. Dieser spanische König ließ im Juli 1580 den Herzog von Alba mit 35.000 Mann in Portugal einrücken, um seinen Machtanspruch durchzusetzen. Parallel dazu befand sich vor der Küste Portugals eine starke spanische Flotte, sodass die Hafenstädte von Algarve kapitulierten. Herzog Albas Weg nach Lissabon war frei und seine Truppen nahmen es unter Anwendung von äußerster Gewalt. Im April 1581 wurde Filipe als Filipe I. auch König von Portugal. Portugal fiel daraufhin von 1580 bis 1640 in die Hände Spaniens. Die Bedingungen jedoch waren verhältnismäßig moderat. Das einverleibte Nachbarland sollte seine Sitten und Gebräuche, seine Schiffs- und Handelsbeziehungen zu Afrika und Indien beibehalten dürfen. Überall, wo Portugiesen lebten oder herrschten, sollte auch weiter die portugiesische Sprache gesprochen werden (die aber ohnehin dem Spanisch Galiziens zum Verwechseln ähnelte). Die Spanier rechneten wohl nicht damit, dass der kleinere Nachbar jemals wieder ein Konkurrent sein konnte. Portugal war vielmehr nun ein Teil Spaniens. Wie schon 1000 Jahre zuvor, war „Spanien“ gleichbedeutend mit „Iberische Halbinsel“. Für Brasilien, 1580 erst noch am Anfang seiner Kolonialisierung, hatte dies die positive Konsequenz, dass die Bandeirantes – portugiesische Abenteurer und Profitjäger, die vor brutaler Gewalt nie zurückschreckten – das Land im Namen Portugals weiter Richtung Westen erschließen durften und es dabei erheblich vergrößerten, auch wenn sie damit die spanischen Nachbarkolonien in Peru und Kolumbien verkleinerten. Portugal erbte durch die Personalunion mit Spanien auch dessen Feinde, die Engländer und die Holländer. Filipe von Spanien aber hatte durch die Einverleibung Portugals und damit der Azoren Blut geleckt. So kam es 1588 zur Seeschlacht von Gravelines (ein Ort im Nordwesten Frankreichs), also im Ärmelkanal zwischen Frankreich und Südengland. Die spanische Armada, von Lissabon aus aufgebrochen, scheiterte jedoch 16 bei dem Versuch einer Invasion Englands und wurde mit ihren 130 Kriegsschiffen, 30 Transportschiffen, 2600 Geschützen, 8000 Matrosen und 22.000 Soldaten von den Engländern unter Vizeadmiral Sir Francis Drake und unter Mithilfe eines unerwarteten Sturms vernichtend geschlagen. Spaniens Schiffe waren zudem für den Nahkampf gebaut, die Engländer jedoch hielten während der Seeschlacht raffiniert Abstand und schossen nur aus der Distanz. Portugals Flotte war mit den Spaniern zusammen untergegangen. Dieser berühmte „Untergang der Spanischen Armada“ markierte einen Wendepunkt in der Weltgeschichte: England stieg auf zur Weltmacht Nummer eins.6 In der Folgezeit plünderten die Engländer die portugiesischen Besitzungen in Asien. England begann sich in Indien breitzumachen. Franzosen und Dänen gründeten Handelsgesellschaften in Ostindien. Die Holländer nutzen ebenfalls die Schwäche Portugals. Sie landeten erfolgreich in Indonesien, wo die Portugiesen seit 1522 einen Stützpunkt besaßen. Das portugiesische Brasilien aber, das angesichts dieses Machtvakuums mit all seinen Reichtümern in die Hände Spaniens hätte fallen können, profitierte davon, dass Spanien sich im Größenwahn verzettelte. Nachdem die Holländer 1604 in Bahía im Nordosten Brasiliens gelandet und bald auch in den unteren Amazonas eingedrungen waren, als sie 1624 Bahía erobert und statt auf Guyana ihre Begehrlichkeiten nun auf Brasilien richteten, rüstete sich Spanien-Portugal zur Abwehr. Portugal allein hätte dies niemals vermocht. 1642 besaßen die Holländer Brasilien zwischen Maranhão und São Vicente. Aufstände der Portugiesen gemeinsam mit den Indianern gegen die Spanier, parallel auch die Vertreibung der Holländer aus der portugiesischen Kolonie Angola, legten die Basis für den Freiheitskampf Portugals und bewiesen ein erstes Gemeinschaftsgefühl der Brasilianer. Spanien blieb dabei recht passiv. Die Gelegenheit, ganz Südamerika unter spanische Kontrolle zu bringen, wurde vertan. Nach der Niederlage seiner Armada hatte Spanien genug damit zu tun, die eigenen Kolonien zu verteidigen. 6 Und blieb dies bis zum Zweiten Weltkrieg 1939 bis 1945. Dann stiegen die USA und die Sowjetunion zu ’Supermächten’ auf, die sich bis 1990 den berüchtigten ’Kalten Krieg’ lieferten. 17 Bandeirantes. (Zeichnung von Jean-Baptiste Debret, 1834) Karte Brasiliens aus dem 17. Jahrhundert. (Zeichnung von Jean-Baptiste Debret, 1834) Die Bandeirantes hatten freie Bahn und kämpften sich rücksichtslos vor in die Wildnis. Von privaten Kaufleuten finanziert, trieben sie ihre ’Expeditionen’ in die Indianergebiete voran, versklavten und mordeten. Aber Brasilien wuchs dabei.7 Spanien glaubte zu profitieren und verlor. Aufstände in Katalonien bewogen die Spanier, Truppen aus Portugal abzuziehen. Als Spanien portugiesische Truppen zur Unterstützung forderte, ging ein Sturm der nationalen Entrüstung durch Portugal und 7 So ist es zu erklären, dass die Bandeirantes als ruhmreich in die brasilianische Geschichte eingingen. In São Paulo wurde ihnen 1921 ein pompöses Denkmal errichtet und der Sitz der Staatsverwaltung im Bundesstaat São Paulo ist ebenfalls nach ihnen benannt. 18 man erkor Herzog João von Bragança, Portugals Retter zu werden. Da nun auch noch Frankreich in Person des Kardinals Richelieu Unterstützung zusagte, brach Ende des Jahres 1640 in Lissabon die Revolution gegen den spanischen Unterdrücker los. Tief saß die nationale Schmach, und zudem war das Volk durch die erdrückende Steuerlast der Spanier in unerträgliche Armut gestürzt worden. Die Spanier wurden rasch entwaffnet und aus dem Land geworfen, João wurde als João IV. zum portugiesischen König gekrönt und begründete die Dynastie der Bragança, die in Portugal bis 1910 regierten. Flucht nach Brasilien Je stärker sich der Gegensatz England-Frankreich im Zuge der Französischen Revolution und der Kriege Napoleons entwickelte, umso schwieriger wurde die portugiesische Politik. Die Gefahr revolutionärer französischer Propaganda, die mit ihrer Ablehnung der Monarchie diese auch in Portugal hätte gefährden können, ließ die portugiesische Regierung zu entsprechenden Maßnahmen greifen – es wurden nicht nur revolutionäre Literatur und Flugblätter verboten, sondern französische Seeleute durften nicht einmal mehr portugiesische Häfen betreten. Es gab Ausweisungen französischer Bürger und die diplomatischen Vertreter des französischen Nationalkonvents wurden von Lissabon abgelehnt. Die von Portugal angestrebte Allianz mit Spanien und England gegen Napoleon war aber ohne große Erfolgsaussichten, denn Spanien war noch nicht bereit, die Unabhängigkeit Portugals hinzunehmen, hegte vielmehr die Hoffnung einer Wiederherstellung der Iberischen Union. Als Napoleon den Portugiesen zubilligte, ihre Neutralität anzuerkennen, um England eines Bündnispartners zu berauben, konnte João VI. auch dies nicht akzeptieren, denn die dann ebenfalls 19 notwendige Neutralität gegenüber England war nicht einzuhalten. Zu sehr war Portugal wirtschaftlich auf England angewiesen. England wusste wiederum Portugals Abhängigkeit zu schätzen und forderte im Gegenzug Bündnistreue. Portugal war also in der Zwickmühle und Napoleon war das Land zunehmend ein Dorn im Auge. 1793 hatte ein portugiesisches Hilfskorps den Spaniern noch mit 6000 Mann an der katalanischen Front gegen Frankreich ausgeholfen. Nun aber, nach dem Frieden von Basel, wo er die Spanier überraschend gut davonkommen ließ, wollte Napoleon Nägel mit Köpfen. Er machte den Spaniern die erneute Eroberung Portugals schmackhaft. 1796 erklärte Spanien England den Krieg und 1801 rückten die Spanier schließlich in Portugal ein. Das war der „Orangenkrieg“, der Spanien nicht mehr einbrachte als eine Fracht von Südfrüchten und die Grenzstadt Olivença8. Napoleon aber war seinem Ziel, der Isolation Englands, ein Stück näher gekommen. Frankreich erhielt außerdem Französisch-Guyana und hohe Tributzahlungen aus Portugal für dessen angeblich von Napoleon geachtete Neutralität. Auf die Niederlage seiner Flotte bei Trafalgar9 reagierte Napoleon, seit 1804 selbsternannter „Kaiser der Franzosen“, 1806 mit der Kontinentalsperre: Das Ziel, England von seinen Absatzmärkten abzuschneiden, verlangte die französische Annexion sämtlicher maßgeblicher Länder und überdies auch eine Allianz mit Zar Alexander von Russland. Das Unterfangen erwies sich schnell als allzu unrealistisch. Schon nach vier Tagen konnten die Engländer in Kopenhagen die erste Bresche schlagen. Die Engländer tobten sich daraufhin auf brutalste Weise in Dänemark aus, welches mit Napoleon gemeinsame Sache gemacht hatte und dafür büßen musste. Ähnliches hätte Portugal bevorgestanden, wenn es sich unter Napoleons „Schutz“ begeben hätte. Außerdem konnte nur das Bündnis mit England den Portugiesen die Kolonie Brasilien sichern. Ansonsten wären die Engländer ohne Zögern in Rio de Janeiro einmarschiert, wie sie es in Buenos Aires, also in der spanischen Kolonie Argentinien, bereits getan hatten. England tat alles, um sich als Welt8 Seitdem gehört sie zu Spanien und heißt Olivenza. 9 Seeschlacht von Trafalgar 1805 (ganz weit im Süden Spaniens, nah der Straße von Gibraltar): Die Engländer unter Vizeadmiral Nelson schlugen die vereinten Spanier und Franzosen. Nelson, der Sieger, fand in der Schlacht den Tod. Auf dem Trafalgar Square im Zentrum von London steht ihm zu Ehren die Nelson-Säule. 20 macht zu behaupten. Handelsengpässe in Europa mussten in Übersee ausgeglichen werden, nur so war der Konkurrenzkampf mit Frankreich zu gewinnen. Napoleon aber, der „zu Lande Unbezwingliche“ (zur See nicht mehr, wie oben ersichtlich wurde), konnte Portugal nun der Verletzung seiner Neutralität bezichtigen und ein altes Versprechen wahrmachen, dass die portugiesische Nation nämlich einen hohen Blutzoll dafür werde zahlen müssen, dass sie sich mit der Französischen Republik angelegt hatte. Im Vertrag von Fontainebleau sicherte er sich das Recht, jederzeit durch Spanien zu marschieren. Er richtete ein Ultimatum an die portugiesische Regierung, von dem er sehr wohl wusste, dass es für Portugal aus oben genannten Gründen unannehmbar war: Schließung der Häfen für die Engländer, Gefangennahme aller englischen Bürger, die sich auf portugiesischem Boden befanden, Konfiszierung ihrer Habe sowie der englischen Schiffe und Abbruch aller diplomatischen Beziehungen zu England. Hätte Portugal akzeptiert, hätte die englische Flotte, die bereits vor Lissabon lag, den Angriff auf die Stadt begonnen. Dies aber hätte dann wiederum den französischen Einmarsch nach sich gezogen. Die Franzosen wollten offenbar auf jeden Fall Portugal einkassieren und bestrafen. Die Einhaltung der Allianz mit England aber ermöglichte dem Prinzregenten João10, das englische Angebot anzunehmen, ihn mit seinem Hofstaat sicher nach Brasilien zu geleiten. João zog damit die aus persönlicher Sicht beste Option. Was die Franzosen seit ihrer Revolution von ausländischen Monarchen hielten (es sei denn, sie waren mit Napoleon verwandt oder seine willfährigen Marionetten), wusste die ganze Welt. Die Flucht war also für den portugiesischen Monarchen lebensnotwendig. Es lohnt sich, nun zunächst einen genaueren Blick auf das Denken und die Pläne des Napoleon Bonaparte zu werfen. 10 Seine Mutter, Königin Maria I., war nach dem Tod ihres Gatten zunehmend wahnsinnig geworden und verstarb, seit 1792 entmündigt, im Jahre 1816. João war bis dahin Prinzregent und wurde erst nach dem Tod seiner Mutter als João VI. König von Portugal und Brasilien. 21