ÜBUNG GROßE PROZESSE DER ANTIKE WS 2007/08 D ie Religionsfrevel Zwei Verbrechen durch den Täterkreis verbunden Die Hermen- und Mysterienfrevel HISTORISCHES 425 V.CHR. SPHAKTERIA Athen gelingt es auf der Insel Sphakteria bei Messenien ein spartanisches Heer festzusetzen und gefangen zu nehmen. 421 V.CHR. NIKIASFRIEDE Nach Verlusten auf beiden Seiten kann Nikias einen Frieden mit Sparta erreichen, welcher von Alkibiades sabotiert werden wird. 415 V.CHR. HERMENFREVEL Kurz vor dem Aufbruch nach Sizilien werden fast alle Hermen in Athen verstümmelt und zerstört. Hysterische Zustände lösen eine Prozessflut aus. 415-413 SIZILIENEXPEDITION Ohne den Initiator (Alkibiades) dieser Unternehmung, entwickelt sie sich zur Katastrophe und trägt zur Niederlage Athens entscheidend bei. 404/3 V.CHR. REGIME DER 30 Nach der Kapitulation Athens, wird von Sparta eine Oligarchie installiert, welche sich zu dem Terror- und Blutregime der „30 Tyrannen“ entwickelt. Eine Amnestie ermöglicht es Schuldige von 415 zurückzukehren. FRANZ MORAWETZ Im Jahr 415 v.Chr. wurden einer einzigen Nacht, kurz vor Auslaufen der Flotte nach Sizilien, fast alle Hermen der Stadt zerstört. Athen nahm diesen Vorfall sofort sehr ernst; man sah es als böses Omen für die Expedition und befürchtete eine oligarchische Ver schwörung zum Umsturz der Demokratie. Ratlos, wer diese Taten begangen haben könnte setzte man Belohnungen für Informationen aus - sowohl für diese Tat, als auch für jedes ähnliche Ve r b r e c h e n . M i t e i n i g e r Wahrscheinlichkeit wurde auch sofort eine Untersuchungskommission (zhthvtai) der Boulé als Hilfe beigegeben. Anklagen zum Mysterienfrevel Die erste Anklage erfolgte durch Pythonikos, welcher in einer regulären Beratung zur Sizilienexpedition den Sklaven des Alkibiades als Zeugen vorlud. Dieser Sklave Andromachos gab keine Infor mationen über den Hermenfrevel, aber er berichtete, dass Alkibiades und seine Heterie Kameraden während Symposien die eleusinischen Mysterien - sogar vor Uneingeweihten abhielten. Das Delikt bestand zum einen darin heilige Rituale mit heiligen Gegenständen in Privathäusern von Privatpersonen nachgespielt zu haben, zum anderen diese geheimen Rituale vor Uneingeweihten zelebriert zu haben. Der Umstand, dass augenscheinlich der Hauptstratege der Sizilienexpedition, Alkibiades, Haupttäter war wurde von der Politik willkommen aufgegriffen und aufgebauscht. Die erste Anklage zum Hermenfrevel Die Nächste Anklage (ejpaggevlletai th`/ boulh`)/ erfolgte vom Metöken Teukros, welcher sich von der Boulé Strafsicherheit zusichern ließ, bevor er von Megara nach Athen zurückkehrte. Er nannte 12 Namen zum Mysterienfrevel und 18 Namen zum Hermenfrevel. Auf Teukros folgte die Aussage (mhv n usi~) der Agariste, Frau des Alkmeonides. Sie belastete wieder Alkibiades schwer. Die nächst folgende Aussage (mhvnusi~) stammt vom Sklaven Lydos. Er berichtet von einer Mysterienprofanation, an welcher auch Leogoras, der Vater Andokides‘, anwesend gewesen sein soll. Leogoras konnte offensichtlich dem Prozess entgehen, indem er seinen Ankläger Speusippos wegen „unrechtmäßigen Handelns“ (grafhv paranovmwn). Andokides betont, dass sein Vater diesen Prozess vor 6000 Richtern gewann, wobei Speusippos nur 200 Stimmen erhielt. Diokleides denunziert Unschuldige Der Höhepunkt der Prozesswelle wurde durch die Anklage (eijsaggevllei... eij~ th`n boulh`n) des Diokleides erreicht. Er berichtet, dass er etwa 300 Personen in der Nacht vor der Her menverstümmelung beim Dionysiostheater herumstehen gesehen haben wollte; durch das Mondlicht konnte er etwa 42 erkennen. Am folgenden Tag erfuhr er von dem Verbrechen und entschloss sich, jene zu erpressen. Da sie nicht zahlten, erscheint er nun mit dieser Anklage vor der Boulé. Seine Liste ist lang; unter anderen wurden Andokides, zahlreiche seiner Verwandten und zwei Bouleuten angezeigt. Die Bouleuten „flohen an den Altar“ (Asyl, vgl. „Leo“ in Wien) und konnten nur schwer das Zugeständnis eines Prozesses erwirken; nachdem sie http://web.mac.com/f.morawetz ÜBUNG GROßE PROZESSE DER ANTIKE Bürgen gestellt hatten flohen sie aus der Stadt. Als nun auch noch Nachrichten eintrafen, dass sich ein boiotisches Heer an der Grenze zu Attika aufhielt und/ oder ein spartanisches Korps sich dem Isthmos näherte (beide Nachrichten könnten schon in der Antike falsch gewesen sein) gingen die Emotionen hoch (man befürchtete Verrat); die Bürger wurden bewaffnet, die Boulé übernachtete auf der Akropolis und die Prytanen in der Tholos auf der Agora (=Staatsnotstand). Andokides und seine Verwandte wurden ins Gefängnis (desmwth;rion) geworfen; Andokides - offenbar Mittäter beim Hermenfrevel - wurde überredet die Wahrheit zu sagen. Nachdem Andokides seine Anklage formuliert hatte, wurde Diokleides vorgeladen, welcher gestand angestiftet worden zu sein; er wurde zum Tode verurteilt. Laut Andokides wurden die Hermenfrevelprozesse damit zu einem guten Ende gebracht. Andokides verschweigt die Anklage des Thessalos, Sohn des Kimon, auf Grund derer Alkibiades verurteilt wurde. Spekulationen, dass Andokides auf jener Anklageliste stand, haben eine gewisse Plausibilität. Plutarch überliefert nur diese Anklage im Detail; selbst die Verurteilungs-Inschrift wurde im Wortlaut überliefert. Über das Juristische Die Prozesse Obschon die Prozesse d. Jahres 415 v.Chr. tiefen Eindruck machten, haben wir keine Quelle, die uns im Detail erläutert, was wie geschehen ist. Thukydides nennt in seiner Darstellung keine Namen. Er versucht nur die Hysterie des Demos in den Fordergrund zu stellen, indem er die Verbrechen bagatellisiert. Plutarch - dessen Hauptquelle meist Thukydides selbst ist - berichtet nur in FRANZ MORAWETZ WS 2007/08 Bezug auf Alkibiades. Die Darstellung der Ereignisse ist äusserst verkürzt, aber die Verurteilungsinschrift ist im Wortlaut erhalten. Andokides ist als Quelle die am ehrlichsten lügende. Er schildert uns die Ereignisse während dem Prozess gegen ihn im Jahr 400 v.Chr. Selbstverständlich versucht er seine Beteiligungen an dem einen oder beiden Delikten zu leugnen. Unangenehme Fakten (z.B.: Thessalos) lässt er aus. Immerhin benutzt er hie und da juristische Termini Technici, welche uns Aufschluss über die juristischen Abläufe geben können. Die Inschriften (Attic Stelai, IG I3 421-430) sind Listen des Versteigerten Vermögens auf Grund der Verurteilungen wegen der Mysterienprozesse. Auf den 10 Stelen sind uns 15 Namen erhalten, welche alle auch von Andokides genannt werden. Ihr Aufstellungsort war mit Sicherheit in unmittelbarer Nähe zum Eleusinion bei der Agora. Weitere Quellen, v.a. die Komödien des Aristophanes, geben uns noch ein paar Informationen. Juristisches Durch die Wortwahl bei Andokides erfahren wir, dass die Anklageform eine eijsaggelliva war. Dabei handelt es sich um ein Sonderverfahren bei besonderen Verbrechen (Beschädigung öffentlicher Gebäude, Vaterlandsverrat, Bestechung von Richtern oder Bouleuten,etc...). Diese Klage kann auch von Nicht-Betroffenen eingebracht werden. Die übliche Strafe ist Tod und Vermögenseinzug. Ebenfalls bei Andokides ist von einer Sonderkommission (zhthvtai) die Rede, welche der Boulé beigegeben ist. Es scheint, als ob die Zeteten die Boulé in der Untersuchung nur unterstützten, nicht selbständig agierten. Leogoras konnte seinem Prozess entgehen, indem er einen Prozess wegen „unrechtmäßigen Handelns“ gegen seinen Ankläger anstrengte. Auswahl-Bibliographie P. Funke, Athen in Klassischer Zeit, München (1999). W. D. Furley, Andokides and the Herms, BICS Supplement 65, London (1996). M. Gagarin & D. M. MacDowell, Antiphon & Andokides, The Oratory of Classical Greece Vol. 1, Austin (1998). F. Graf, Der Mysterienprozess, in: L. Burckhardt, J. von UngernSternberg, Große Prozesse im antiken Athen, München (2000), 114-127. A. R. W. Harrison, The Law of Athens II, London (21998). G. A. Lehmann, Überlegungen zur Krise der attischen Demokratie im peloponnesischen Krieg - vom Ostrakismos des Hyperbolos zum Thargelion 411 v.Chr., in: ZPE 69, 33-73. D. MacDowell, Andokides – On The Mysteries, Oxford (1962). Mann C., Die Demagogen und das Volk, in KLIO 13, Berlin (2007), 244-252. O. Murray, The Affair of the Mysteries: Democracy and the Drinking Group, in: O. Murray (Hrsg.), Sympotika – A Symposium on the Symposion, Oxford (21994). W. K. Pritchett, The Attic Stelai I, in: Hesperia 22/4, Athen (1953), 225-299. http://web.mac.com/f.morawetz