Skript zur Vorlesung „Allgemeine Evolutionsbiologie“ | WS 2015/2016 | A. Franzke & M. Koch ♦ Vorlesung 2 ♦ Darwin im historischen Kontext. Hier nur äußerst schlaglicht- und stichwortartig: In der jüdischchristlichen Kultur (größere europaweite Bedeutung etwa seit 7./8. Jahrhundert) entstammt die Lebewelt einem göttlichen Schöpfungsakt („creatio ex nihilo“) und ist in einer, dauerhaften, unveränderlichen großen Kette des Seins („scalae naturae“) nach dem Grad ihrer „Perfektion“ angeordnet – ein Prinzip, das auf den griechischen Philosophen Aristoteles (ca. 350 v. Chr.) zurückgeht. Diese religiös motivierten Ansichten prägen (natürlich) auch lange Zeit die Naturwissenschaften: Der „Vater der Taxonomie“ Carl Nilsson Linnæus (1707–1778, seit 1756 Carl von Linné), auf den die binominale Nomenklatur von wissenschaftlichen Artnamen zurückgeht, ging selbstverständlich davon aus, dass Arten durch Schöpfung entstanden sind („Deus creavit, Linnaeus disposuit“). Linné hatte offensichtlich aber wohl auch schon zaghafte Zweifel an der seinerzeit ebenfalls vorherrschenden Auffassung, dass Arten unveränderlich seien (Artenkonstanz). Der Franzose Jean-Baptiste de Lamarck (1744–1829), der übrigens den Begriff „Biologie“ prägte, war der erste kompromisslose Verfechter der Evolution im Sinne einer Veränderung bzw. Entstehung von Arten: Einfachste Organismen entstehen (auch rezent) durch Urzeugung und haben eine innere Neigung („sentiments interieurs“) sich vom Einfachen zum Komplizierten zu entwickeln. Damit konnte er auch „geschickt“ das von ihm generell abgelehnte Aussterben von Arten erklären. (Für die „großen Tiere, die die trockenen Teile der Erde bewohnen“, wollte er aber die Möglichkeit eines durch Menschen verursachtes Aussterben allerdings nicht völlig ausschließen.) Anpassungen erklärt Lamarck durch sich verändernde (äußere) Umweltbedingungen, die Organismen zu veränderten Gewohnheiten („habitudes“) und damit verändertem Gebrauch von Organen veranlassen. Diese (langsam) durch Gewohnheit erlangten Merkmale werden dann weitervererbt. Als sehr bekanntes Beispiel führt er hier die Entstehung des Giraffenhalses an, die für ihn eine Anpassung an das Abweiden von Bäumen darstellt. (Daneben sollen auch Kreuzungen zwischen bestehenden Formen zu einer Evolution führen). Die Vererbung von erworbenen Eigenschaften war im 18. und auch noch im 19. Jahrhundert weithin – auch von Darwin – anerkannt. Seltsamerweise wird gerade dieser – aus heutiger Sicht irrtümliche Teil seiner Ideen – als Lamarckismus bezeichnet. Die großen Leistungen Lamarcks, der damit auch einen wichtigen Wegbereiter für Darwin darstellt, waren das furchtlose Eintreten für den Evolutionsgedanken an sich und der Versuch Erklärungsansätze für evolutive Veränderungen zu liefern. Der französische Zoologe Étienne Geoffroy Saint-Hilaire (Kollege Lamarcks am Pariser Naturkundemuseum) vertritt ebenfalls das Konzept einer gradualistischen Evolution (nachdem die Lebewelt durch Gott geschaffen wurde). Der Antrieb für Änderungen waren für ihn direkte Umwelteinflüsse, (nicht wie bei Lamarck die Änderungen von Gewohnheiten). Er formuliert das erste Postulat einer evolutionären Verbindung von ausgestorbenen (urzeitlichen Reptilien) zu rezenten Formen (Vögeln) und vertrat 1822 die Idee, dass „alle“ Tiere einen gemeinsamen „Bauplan“ aufweisen („unité de plan“). Ein Aussterben von Arten lehnte er ab. Georges de Cuvier (1769–1832), ein weiterer Museumskollege und Begründer der Paläontologie hatte hingegen ganz andere Vorstellungen (1825): Wiederholte Katastrophen („jede Fossilschicht“) lassen Arten (lokal) aussterben und aus benachbarten Bereichen erfolgt eine Wiederbesiedlung. Für ihn – als Beweis dienten u.a. ägyptische mumifizierte Katzen – waren Arten unveränderlich und für den Gradualismus von Lamarck konnte er keine Beweise in Fossilien finden. Neben Lamarck und Saint-Hilaire gab es vor dem Artenbuch auch einige andere Autoren – darunter auch Darwins Großvater – die in ihren Arbeiten mehr oder wenig deutlich von einer Veränderlichkeit von Arten ausgingen. Weitere Impulse für Darwin kamen auch aus ganz anderen Wissenschaftsbereichen: Der schottische Naturforscher und Begründer der Geologie James Hutton (1726–1797) formulierte in seinem 1795 erschienenen Buch „Theory of the Earth“ die Prinzipien des „Aktualismus“ und „Gradualismus“: Prozesse, die heute zu beobachten sind, sollten auch in der Vergangenheit gewirkt haben und geologische Prozesse laufen langsam, graduell ab (in alternativen Vorstellungen entstanden z.B. Gebirge durch Katastrophen). Die Ideen des Gradualismus und Aktualismus finden sich auch im dreibändigen Werk „Principles of Geology“ (1830–1833) des britischen Geologen Charles Lyell (1797–1875), dessen ersten Band – ein Geschenk des Kapitäns FitzRoy– studierte Darwin während seiner Beagle-Reise. (Lyell wird später ein wichtiger Freund Darwins.) Kurz nach der Beagle-Reise liest Darwin den „Essay on the Principle of Population“ (1798) des britischen Ökonomen Thomas Robert Malthus (1766–1834). Das hier formulierte „Bevölkerungsgesetz“ (geometrisches Bevölkerungswachstum steht einer (nur) arithmetischen Steigerung des Nahrungsmittelangebots gegenüber) ist gleichsam ein Kristallisationspunkt seiner Selektionstheorie. ♦ 1 Skript zur Vorlesung „Allgemeine Evolutionsbiologie“ | WS 2015/2016 | A. Franzke & M. Koch Darwins Vererbungstheorie. In Darwins Selektionstheorie spielt einerseits die Vererbbarkeit von Merkmalen eine entscheidende Rolle: „Any variation which is not inherited is unimportant for us.“ Andererseits waren die Gesetzmäßigkeiten der Vererbung zu Darwins Zeit unklar bzw. bestehende Konzepte (aus heutiger Sicht) irrig. Tatsächlich hatte Darwin (zeitgeistig) ganz ähnliche Vorstellungen wie Lamarck, ging also von einer Vererbung individuell erworbener Eigenschaften aus, die sich durch Gewohnheit, Gebrauch und Nicht-Gebrauch von Organen ergeben und die für Darwin auch die Ursache für die beobachtbare Variation in Populationen darstellte: „there can be little doubt that use in our domestic animals strengthens and enlarges certain parts, and disuse diminishes them; and that such modifications are inherited, and that this also applied in nature.“ Ernst Mayr (1904–2005), ein bedeutender Repräsentant der Synthetischen Evolutionstheorie (s.u.), prägte für solche Konzepte den Begriff der „soft inheritance“ im Gegensatz zur „harten Vererbung“, die im Einklang mit den Erkenntnissen der modernen (Mendel-)Genetik steht. Als Mechanismus für eine derartige Vererbung schlägt Darwin 1868 seine „provisorische“, spekulative Pangenesis-Hypothese vor: Organzellen schütten kleine (informationstragende) Partikel („gemmules“ oder „pangenes“) aus, die über die Blutbahn in die Keimzellen gelangen. Generell herrschte im 19. Jahrhundert in Bezug auf Vererbungsgänge das Konzept einer „Mischhypothese“ („blending inheritance“) vor: Die elterlichen Merkmale liegen in den Nachkommen gleichsam wie aus zwei Flüssigkeiten gemischt vor. Konsequenterweise würde Variation innnerhalb der Population mit der Zeit „verwaschen“. Inhaltlich gegenüber steht die „particulate inheritance“: Nachkommen haben kombinierte elterliche Eigenschaften, die als separate Einheiten vererbt werden. Variation in Populationen kann so erhalten werden. ♦ Moderne Genetik. Entscheidend für die Weiterentwicklung der Evolutionstheorie war die Begründung und Etablierung einer modernen Genetik (Vererbungslehre). Als „Vater der Genetik“ gilt – vielleicht etwas mythenhaft – bekanntermaßen der Augustinermönch Gregor Mendel (1822–1884), der 1856 im Garten der Abtei St. Thomas in Alt Brünn (Tschechien) mit seinen systematischen, zahlreichen Kreuzungsexperimenten insbesondere mit Erbsensorten begann: ca. 350 Kreuzungen mit 13.000 Nachkommen. Eine Veröffentlichung seiner Ergebnisse und entsprechender statistischer Auswertungen erfolgte 1866: „Versuche über Pflanzen-Hybriden. Verhandlungen des naturforschenden Vereines in Brünn, Bd. IV.“. Mendels Motivation für diese Arbeiten war nicht – wie Lehrbücher meist suggerieren – die Aufklärung allgemeingültiger „Vererbungsgesetze“. Er war an der Bildung und Entwicklung von Hybriden aus gekreuzten Varietäten/Sorten interessiert. Ob es ihm dabei evtl. auch – so wurde vermutet – um die Bedeutung von Hybriden bei Artbildung/umwandlung oder doch eher „nur“ um Züchterisches ging, ist unklar. Es wurde interessanterweise auch folgende zusätzliche, persönliche Motivation für seine langwierigen (8 Jahre) und aufwändigen Experimente spekuliert: Seinerzeit „Befruchtungsvorgang-Debatte“ (Embryo nur aus Pollenschlauch versus Embryo aus Pollenschlauch und Eizelle). 1856 fällt Mendel bei Lehramtsprüfung durch, weil er auf seine (richtige) Meinung beharrt. Mit seinen Experimenten zeigt er schließlich gleichgewichtige/wertige Beteiligung von Vater und Mutter beim Befruchtungsvorgang. Die Arbeit Mendels, die nur in kleiner Auflage erschien, wenig zitiert wurde und deren Inhalt und Tragweite von Zeitgenossen – z.B. dem seinerzeit bedeutenden Schweizer Botaniker Carl Wilhelm von Nägeli, dem Mendel Sonderdrucke zugesandt hat – nicht verstanden wurde, blieb bis zu ihrer „Wiederentdeckung“ um 1900 faktisch wirkungslos. Die sich dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts etablierende klassische Genetik (Transmissionsgenetik) erlaubte dann den langwierigen Prozess einer Synthese von Mendelvererbung und Darwinismus. Mendel selbst hatte (natürlich) noch kein heutiges Verständnis der partikulären Erbanlagen (Gene), auch wenn die von ihm verwendeten Begriffe, wie „Factoren“ oder „Zellelemente“ dies möglicherweise (aus heutiger Sicht) nahelegen. Die Uniformitäts-, Spaltungs- und Unabhängigkeitsregel Mendels sind zunächst auch zwanglos mit einer Pangenesistheorie (s.u:) vereinbar, wie sie Hugo de Vries (1848–1935), einer der Wiederentdecker Mendels, vertrat. Soweit man weiß, kannte Darwin (1809–1882) die Arbeit des Zeitgenossen Mendels (1822–1884) nicht. Ob er es verstanden hätte? Andererseits las der „Priester, der den Schlüssel zur Evolution in Händen hielt“ (Eiseley 1958) aber das Artenbuch, wie Anmerkungen und Kritzeleien in seinem Exemplar zeigen. ♦ Wiederentdeckung Mendels (†1882). Einer der Wiederentdecker der Arbeit Mendels war der niederländische Botaniker Hugo de Vries (1848–1935), der in den 1890er Jahren – zunächst ohne Kenntnis der Arbeit Mendels – ebenfalls Kreuzungsexperimente an 17 verschiedenen Pflanzenarten durchführte und zu den gleichen Ergebnissen wie Mendel kam. Trotz zwischenzeitlicher Kenntnis der Arbeit Mendels „vergisst“ er diesen allerdings in einer Arbeit von 1900 entsprechend zu zitieren. Auf Drängen des deutschen Botanikers Carl Correns (1864–1933), der ein Schüler Nägelis (s.o.) war – räumt de Vries Mendels Priorität dann aber ein. Als weiterer Wiederentdecker gilt auch der österreichische Botaniker Erich Tschermak (1871–1962), dessen Großvater übrigens Mendel in Botanik unterrichtete, der aber die Arbeit Mendels inhaltlich wohl aber nicht (komplett) richtig 2 Skript zur Vorlesung „Allgemeine Evolutionsbiologie“ | WS 2015/2016 | A. Franzke & M. Koch verstanden hat. In seinem Buch „Intrazelluläre Pangenesis“ (1889) entwickelt de Vries eine Pangenesis-Theorie, die der von Darwin ähnelt und postuliert hier unter anderem, dass bestimmte Merkmale durch selbstständige Teilchen „Pangene“ vererbt werden; etwas was der dänische Botaniker Wilhelm Johannsen (1857–1927) dann 1909 erstmals als „Gene“ – ohne Hypothese zur Struktur – bezeichnen wird. (Hugo de Vries war übrigens 1871 für ein Semester als Post-Doc bei Wilhelm Hofmeister in Heidelberg.) ♦ De Vries‘sche Mutationstheorie – Saltatorische Artbildung. Für de Vries erschien die, für den Darwinismus entscheidende, Variation von Populationen nicht ausreichend verstanden. Er suchte daher nach Arten, bei denen die Nachkommen völlig eindeutig nicht konstant sind, aber „fast alle Arten erwiesen sich als immutabel. Nur eine einzige Art entsprach meinen Erwartungen“: In sieben Jahren fand er unter etwa 50 000 untersuchten Individuen der Rotkelchigen Nachtkerze (Oenothera lamarckiana) eine größere Anzahl neuer Formen, von denen einige ihre – von den Eltern unterschiedlichen – Eigenschaften unverändert an ihre Nachkommen weitergaben. (Durch umfangreiche Nachkommenschaftsanalysen konnte er dabei wirklich vererbte „Mutationen“ von umweltbedingten Modifikationen unterscheiden.) Seine Schlussfolgerungen fasst er in einem zweibändigen Werk (1900, 1903) zusammen: „Die Mutationstheorie, Versuche und Beobachtungen über die Entstehung der Arten im Pflanzenreich“. Diese Theorie besagt, dass Arten durch eine einzelne „Mutation“ („Sprung“) entstehen und nicht über graduelle Veränderungen, die durch die natürliche Selektion getrieben werden. Da seine Untersuchungen die erste groß angelegte experimentelle Studie zur Evolution darstellte, fand die Mutationstheorie breite Akzeptanz und führte auch zu den Drosophila-Kreuzungsversuchen des US-Amerikaners Thomas Hunt Morgan (1866– 1945), die zur grundlegenden Strukturaufklärung der Chromosomen beitrugen (Nobelpreis 1933). Es stellte sich in der Folgezeit allerdings heraus, dass die de Vries’schen „Mutanten“ ihre Ursache in einer besonderen (komplizierten) Genetik der O. lamarckiana haben und nicht in (Punkt)Mutationen im eigentlichen (heutigen) Sinne: Diese Art ist hybridogenen Ursprungs, vereint also zwei vormals getrennte Genome. Durch einen Austausch von Chromosomen-Segmenten zwischen Chromosomen, die nicht zum selben homologen Paar gehören (reziproke Translokation) kann es letztendlich zu gestörten Meiosen und (reproduktiv isolierten) Chromosomenzahl-Varianten kommen. ♦ Anfang 20. Jahrhundert – Eclipse of Darwinism. Der Beginn des letzten Jahrhunderts – also vor den Konzepten der Synthetischen Evolutionstheorie – war gleichsam eine „Dunkelzeit des Darwinismus“ (Huxley 1942): Evolution an sich war akzeptiert, viele Biologen waren aber nicht von der natürlichen Selektion als entscheidende Triebkraft evolutionären Wandels und dem Darwinschen Konzept einer gradualistisch verlaufenden Evolution überzeugt. Diskutierte Alternativen zur natürlichen Selektion waren z.B. theistische und neo-Lamarckistische Ansätze. Motiviert durch die Mutationstheorie (s.o.) und Mendelgenetischen Analysen mit ihren deutlichen (sprunghaften) Unterschieden zwischen Eltern und Nachkommen vertraten viele Biologen den Mutationismus (oder auch Mendelismus) in dem insbesondere Mutationen – und nicht die natürliche Selektion – evolutionäre Änderungen hervorbrachten und/oder vertraten (einen resultierenden) Saltationismus (sprunghafte Evolution) statt des Darwinschen Gradualismus. Der Brite William Bateson (1861–1926), auf den der Begriff „Genetik“ zurückgeht, war seinerzeit ein bekannter Vertreter des Mutationismus bzw. Saltationismus (1902: Mendel's Principles of Heredity: A Defence). „Seine“ Wiederentdeckung der Arbeit Mendels und eigene Experimente waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein wichtiger Motor für die rasante Entwicklung der Genetik. Erbittert gegenüber stand der englische Zoologe und Biometriker Walter Frank Raphael Weldon (1860–1906), der für das Lager eines durch natürliche Selektion getriebenen Gradualismus stand: Bis zu seinem frühen Tod versuchte er mit zahlreichen Experimenten die Mendelschen Regeln zu widerlegen. Solche „Feindschaften“ ergaben (und ergeben) sich zum Gutteil wohl (menschlicherweise) einfach auch dadurch, dass verschiedene methodische Ansätze und deren Eigenheiten gleichsam die eigene „Weltanschauung“ stark beeinflussen können: Ein (Mendel-)Genetiker arbeitet nun mal mit diskreten Merkmalen und ein Biometriker insbesondere auch mit kontinuierlichen. Dieser − aus heutiger Sicht − scheinbare Konflikt zwischen Mendelgenetik und Darwinismus wurde dann später durch Konzepte der Synthetischen Evolutionstheorie (s.u.) aufgelöst. ♦ Exkurs: Modelle/Theorien „passen sich an“. In der Wissenschaft müssen sich Modelle und Theorien weiterentwickeln um neuere Beobachtungen in Einklang zu bringen: Das Atommodell Daltons (1803) konnte das Gesetz der konstanten Proportionen aber nicht die „Ladungsphänomene“ (Streuversuch), die zum Rutherford’schen Atommodell (1911) führten, erklären. Das darauf aufbauende Bohr’sche Atommodell (1913) ist in der Lage auch elektromagnetische Strahlung zu erklären und das Orbitalmodell (1928) kann sicherlich auch etwas erklären, was vorher nicht ging, 3 Skript zur Vorlesung „Allgemeine Evolutionsbiologie“ | WS 2015/2016 | A. Franzke & M. Koch aber beobachtet werden kann. Ganz genauso musste (und muss) auch „die“ Evolutionstheorie immer weiter evolvieren um neuen Erkenntnissen und Beobachtungen, die sich oft durch die Anwendung neuer Techniken und Ansätze ergeben, zu integrieren. Das bedeutet natürlich nicht, dass z.B. die Theorien Darwins komplett widerlegt sind, sondern dass diese eben in vielen Aspekten erweitert und verfeinert werden mussten bzw. konnten. ♦ Neodarwinismus im engeren Sinne. Meist wird der Begriff „Neodarwinismus“ heute gleichgesetzt mit „Synthetische Evolutionstheorie“ (s.u.), die sich (grob) in den 1930er bis 40er Jahren entwickelte, die auch „Moderne Synthese“, „Moderne Evolutionssynthese“ oder „Neue Synthese“ genannt wird. Der Begriff „Neodarwinismus“ im ursprünglichen Sinne bezog sich aber auf die Keimplasmatheorie des Freiburger Zoologen August Weismann (1834–1914), die eine (lamarckistische) Vererbung erworbener Eigenschaften zurückweist (die er vorher auch selber vertrat); 1885: „Die Continuität des Keimplasmas als Grundlage einer Theorie der Vererbung“ und 1892: „Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung“. In dieser Theorie trennt er (bei Mehrzellern mit sexueller Fortpflanzung) die Keimbahn räumlich strikt vom „Soma“. (Von einer ausdifferenzierten Körperzelle „geht also kein Weg zurück“ zu Keimzellen). Diese Ablehnung des Lamarckismus war somit ein wichtiger Beitrag zur Entwicklung einer modernen Genetik. Weismann nahm aber durchaus an, dass das Keimplasma selbst, direkt durch äußere Faktoren veränderbar war. (So ganz „hard“ war seine „inheritance“ wohl also auch nicht, bzw. die Konzepte zur Vererbung und Evolution dieser Zeit sind oft nicht wirklich klar eindeutigen Kategorien zuzuordnen). Ein „legendäres“ Experiment Weismanns, das die somatische Unbeeinflussbarkeit der Keimbahn demonstriert, bestand darin Mäusen wiederholt über einige Generationen hinweg den Schwanz zu entfernen: Alle 849 Nachkommen schwanzloser Eltern besaßen Schwänze. (Weismann räumte wohl aber auch selber ein, dass dieses Experiment keinen wirklichen Gegenbeweis zum Lamarckismus lieferte, da hier ja nicht Verletzungen, sondern neue Gewohnheiten zu Veränderungen führen sollten.) ♦ 1930/40er: Synthetische Evolutionstheorie. Dieses in der ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts entwickelte Evolutionstheoriegebäude ist eine Erweiterung des Darwinismus, welche die seinerzeit neuen Erkenntnisse der Genetik, Populationsbiologie, Paläontologie und Systematik integriert (altgriech. „Synthese“ = „Zusammensetzung“,“ Zusammenfassung“,“ Verknüpfung“). Wesentlich (!) war vor allem, dass sie die Mendelgenetik in Einklang mit natürlicher Selektion und gradueller Evolution brachte. Hierbei waren insbesondere Pionierarbeiten (1918–1932) der Populationsgenetik – die Allelfrequenzen in Populationen und deren Veränderungen untersucht bzw. (zum Teil auch sehr theoretisch) erklärt – von entscheidender Bedeutung. ♦ Beiträge zur Synthetischen Evolutionstheorie – Populationsgenetik. Hier sollen zunächst für einen groben Überblick „nur“ wichtige Personen und deren Beiträge zur Synthese namedropping- und stichwortartig genannt werden. Die erwähnten Buch- oder Aufsatztitel beinhalten oft schon die entscheidenden Schlagworte. Sewall (Green) Wright (1889–1988, US-Amerikaner): Mitbegründer der Populationsgenetik, Theorie der genetischen Drift, Wechselwirkung von genetischer Drift und natürlicher Selektion, Inzuchtkoeffizient, „Fitnesslandschaft“ (1920/30er Jahre). Sir Ronald Aylmer Fisher (1890–1962, Brite): Theoretische Grundlagen der Populationsgenetik, populationsstatistisches Fundament der Synthese, Hauptwerk: “The Genetical Theory of Natural Selection“ (1930). John Burdon Sanderson Haldane (1892–1964, Brite): Bezug von Teilen der Populationsgenetik zu Mendel-Regeln und deren Vereinbarkeit mit Darwinismus, Hauptwerk: „The Causes of Evolution“ (1932). Theodosius Dobzhansky (1900–1975, russisch-US-amerikanisch): theoretische und praktische Populationsgenetik (erste Untersuchungen an natürlichen Taufliegenpopulationen), epochales Werk: „Genetics and the Origin of Species“ (1937) *. ♦ Beiträge zur Synthetischen Evolutionstheorie – “Haupt-Popularisierer”. Julian Sorell Huxley (1887–1975, Brite): Großvater Unterstützer Darwins („Darwin's Bulldog“ ), Bruder Aldous Huxley (Schriftsteller), wichtiges Werk: „Evolution: The Modern Synthesis“ (1942), bedeutende Beiträge zur sexuellen Selektion und ökologischen Genetik. Ernst Walter Mayr (1904–2005, Deutscher, ab 1931 in USA tätig): einflussreichster Evolutionsbiologe des 20. Jahrhunderts, weniger mathematischtheoretisch ausgerichtet, Biologisches Artkonzept, Artbildung durch reproduktive Isolation, epochales Buch "Systematics and the Origin of Species“ (1942) *. George Gaylord Simpson (1902–1984): einflussreicher Paläontologe (insbesondere fossile Pferde), wichtige Bücher: „Tempo and Mode in Evolution“ (1944)*, Principles of Classification and a Classification of Mammals" (1945). George Ledyard Stebbins (1906–2000, US-Amerikaner): Artbildung bei Pflanzen, epochales Werk: „Variation and Evolution in Plants“ (1950)*. (Die vier mit Stern gekennzeichneten Bücher gelten als die entscheidenden Schlüsselwerke der Synthetischen Evolutionstheorie.) ♦ 4 Skript zur Vorlesung „Allgemeine Evolutionsbiologie“ | WS 2015/2016 | A. Franzke & M. Koch Hauptaussagen der Synthese – Beiträge der experimentellen Laborgenetik. Die Kernaussagen der Synthese entstammen aus verschiedenen Disziplinen/Ausrichtungen der (Evolutions)biologie (siehe folgende Abschnitte). Beiträge der Laborgenetik: Unterscheidung von Phäno- und Genotyp. Phänotyp als Summe der manifestierten Eigenschaften (Morphologie, Physiologie, Biochemie, Verhalten) des Organismus, die durch die Wirkung der Gene und Umwelt bestimmt sind; auch Untergruppe solcher Eigenschaften, insbesondere solche, die durch bestimmte Allele (s.u.) oder andere Genotypanteile beeinflusst sind. Genotyp als Summe der Gene eines Organismus; oft auch die genetische Zusammensetzung an einem bestimmten oder einer Gruppe von Genorten („Campbell“: Abb. 14.6). Entscheidend (!) ist, dass die Umwelt (direkt) nur den Phänotyp beeinflusst, also durch Umwelteinflüsse erworbenen Eigenschaften nicht vererbt werden können. Vererbbare Variationen haben ihren Ursprung in Genen mit „Teilchencharakter“, die langsam zu alternativen Formen mutieren, den Allelen. Durch DNA-Sequenzierungen detektierte Genvarianten werden meist Haplotypen genannt. Die genetische Rekombination (Neukombination ganzer Chromosomen durch Sexualität, intrachromosomale Allel-Neukombination durch Crossing-over) erhöht die genetische Variation, im Sinne einer Vielfalt von Kombinationen („Campbell“: Abb. 13.11 u. 12). (Die Begriffe Geno- und Phänotyp gehen auch auf Wilhelm Johannsen, 1909 − zunächst in z.T. etwas anderer Bedeutung − zurück, der aber klar erkannte, dass der Genotyp nicht direkt in Erscheinung tritt.) ♦ Hauptaussagen der Synthese – Beiträge der mathematischen Theorie der Populationsgenetik. Evolution findet in Populationen statt und bedeutet eine Änderung von Genotypfrequenzen, die dazu führen kann, dass ein Genotyp alle anderen der Population bzw. Art ersetzt. Mutationsraten selbst sind zu klein um eine populationsweite Genotypänderung zu bewirken. Dies geschieht durch genetische Drift (Zufallsprozesse) und/oder natürliche Selektion. Kleine „Selektionsintensitäten“ können unter Umständen in kurzer Zeit große evolutionäre Änderungen bewirken. ♦ Hauptaussagen der Synthese – Beiträge aus (“Naturkundler”)-Studien realer Populationen. Die natürliche Selektion kann Populationen über den ursprünglichen Variationsbereich verändern (Beitrag aus der Züchtungsforschung). Natürliche Populationen zeigen genetische Variation und enthalten Varianten, die beobachteten „Labor-Mutanten“ entsprechen. Geographisch getrennte Populationen unterscheiden sich in Merkmalen mit genetischer Basis; seltene Genotypen einer Population können dominant in anderen sein. Phänotypische Unterschiede von Arten (Populationen) haben oft eine genetische Basis (versus Umweltmodifikationen). Diese Merkmalsunterschiede sind oft polygen: ein phänotypisches Merkmal wird nicht durch ein einzelnes Gen (Monogenie), sondern durch mehrere Gene bestimmt (Polygenie). Die natürliche Selektion wirkt in realen Populationen „auch heute“. ♦ Hauptaussagen der Synthese – Beiträge von Kennern bestimmter Gruppen. Geographische Populationsunterschiede sind (wegen unterschiedlicher Umwelteinflüsse) oft adaptiv. Arten sind eher als Genpool mit reproduktiver Isolation zu begreifen (Biologische Art), weniger als bestimmte Phänotypausprägungen. Es gibt Übergänge von kaum reproduktiv isolierten phänotypisch sehr ähnlichen Populationen bis zu komplett reproduktiv isolierten Arten mit deutlichen phänotypischen Unterschieden (Hinweis auf Gradualismus). Artbildung (Speziation) erfolgt meist durch geographische Trennung von Populationen. Die Tatsache, dass sich Arten einer Gattung oft graduell unterscheiden, ist ein Hinweis darauf, dass auch die höheren taxonomischen Einheiten, zu denen die Arten bzw. Gattungen gehören (Familien, Ordnungen, etc.), schrittweise (graduell) entstanden sind; neue „Typen“ entstanden also nicht „plötzlich“. ♦ Hauptaussagen der Synthese – Beiträge Paläontologie. Teilweise vorhandene lückenlose Fossilfunde bezeugen graduelle Evolution höherer Taxa. „Lücken“ werden als Unvollständigkeit des Fossilberichts gedeutet. Es gibt keine paläontologischen Befunde, die nicht in Einklang mit der Synthese sind. Die oben kurz umrissenen Hauptaussagen der Synthese sind gleichsam die Grundlage der (orthodoxen) modernen Evolutionstheorie, die etwa um 1940 so formuliert wurden und die weitgehend akzeptiert sind, wenngleich auch einige Sichtweisen in der Folgezeit mehr oder weniger stark herausgefordert wurden (s.u.). ♦ Aufgaben ♦ Ging es im so genannten Pariser Akademiestreit um Evolution? ♦ Wohl die allerwenigsten haben sie wirklich mal gesehen. Mendels Arbeit finden Sie z.B. hier: http://www.mendelweb.org oder (viel schöner) hier: http://vlp.mpiwgberlin.mpg.de/library/data/lit26745? 5 Skript zur Vorlesung „Allgemeine Evolutionsbiologie“ | WS 2015/2016 | A. Franzke & M. Koch ♦ Welche Bedeutung hatte Weismanns Keimplasmatheorie für die Synthetische Evolutionstheorie? ♦ Haben Samenpflanzen eine Keimbahn? ♦ Die oben aufgeführten Hauptaussagen der Synthetischen Evolutionstheorie sind (mehr oder weniger gut) frei aus dem „Futuyma“ (Seite 11) übersetzt. Unbedingt dort studieren! ♦ Kann ein Phänotyp erworbene Eigenschaften aufweisen? ♦ Zum Reinziehen: In diesem Interview rekapituliert der Zeitzeuge Ernst Mayr die „Evolution“ der Synthetischen Evolutionstheorie: http://www.youtube.com/watch?v=In-FR-euCL8 6