Skript zur Vorlesung

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Skript zur Vorlesung „Allgemeine Evolutionsbiologie“ | WS 2016/2017 | A. Franzke & M. Koch
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Darwin im historischen Kontext. Hier nur äußerst schlaglicht- und stichwortartig: In der jüdischchristlichen Kultur (größere europaweite Bedeutung etwa seit 7./8. Jahrhundert) entstammt die
Lebewelt einem göttlichen Schöpfungsakt („creatio ex nihilo“) und ist in einer, dauerhaften,
unveränderlichen großen Kette des Seins („scalae naturae“) nach dem Grad ihrer „Perfektion“
angeordnet – ein Prinzip, das auf den griechischen Philosophen Aristoteles (ca. 350 v. Chr.)
zurückgeht. Diese religiös motivierten Ansichten prägen (natürlich) auch lange Zeit die
Naturwissenschaften: Der „Vater der Taxonomie“ Carl Nilsson Linnæus (1707–1778, seit 1756 Carl
von Linné), auf den die binominale Nomenklatur von wissenschaftlichen Artnamen zurückgeht, ging
selbstverständlich davon aus, dass Arten durch Schöpfung entstanden sind („Deus creavit, Linnaeus
disposuit“). Linné hatte offensichtlich aber wohl auch schon zaghafte Zweifel an der seinerzeit
ebenfalls vorherrschenden Auffassung, dass Arten unveränderlich seien (Artenkonstanz). Der
Franzose Jean-Baptiste de Lamarck (1744–1829), der übrigens den Begriff „Biologie“ prägte, war der
erste kompromisslose Verfechter der Evolution im Sinne einer Veränderung bzw. Entstehung von
Arten: Einfachste Organismen entstehen (auch rezent) durch Urzeugung und haben eine innere
Neigung („sentiments interieurs“) sich vom Einfachen zum Komplizierten zu entwickeln. Damit konnte
er auch „geschickt“ das von ihm generell abgelehnte Aussterben von Arten erklären. (Für die „großen
Tiere, die die trockenen Teile der Erde bewohnen“, wollte er aber die Möglichkeit eines durch
Menschen verursachtes Aussterben allerdings nicht völlig ausschließen.) Anpassungen erklärt
Lamarck durch sich verändernde (äußere) Umweltbedingungen, die Organismen zu veränderten
Gewohnheiten („habitudes“) und damit verändertem Gebrauch von Organen veranlassen. Diese
(langsam) durch Gewohnheit erlangten Merkmale werden dann weitervererbt. Als sehr bekanntes
Beispiel führt er hier die Entstehung des Giraffenhalses an, die für ihn eine Anpassung an das
Abweiden von Bäumen darstellt. (Daneben sollen auch Kreuzungen zwischen bestehenden Formen
zu einer Evolution führen.) Die Vererbung von erworbenen Eigenschaften war im 18. und auch noch
im 19. Jahrhundert weithin – auch von Darwin – anerkannt. Seltsamerweise wird gerade dieser – aus
heutiger Sicht irrtümliche Teil seiner Ideen – als Lamarckismus bezeichnet. Die großen Leistungen
Lamarcks, der damit auch einen wichtigen Wegbereiter für Darwin darstellt, waren das furchtlose
Eintreten für den Evolutionsgedanken an sich und der Versuch Erklärungsansätze für evolutive
Veränderungen zu liefern. Der französische Zoologe Étienne Geoffroy Saint-Hilaire (Kollege Lamarcks
am Pariser Naturkundemuseum) vertritt ebenfalls das Konzept einer gradualistischen Evolution
(nachdem die Lebewelt durch Gott geschaffen wurde). Der Antrieb für Änderungen waren für ihn
direkte Umwelteinflüsse, (nicht wie bei Lamarck die Änderungen von Gewohnheiten). Er formuliert das
erste Postulat einer evolutionären Verbindung von ausgestorbenen (urzeitlichen Reptilien) zu rezenten
Formen (Vögeln) und vertrat 1822 die Idee, dass „alle“ Tiere einen gemeinsamen „Bauplan“ aufweisen
(„unité de plan“). Ein Aussterben von Arten lehnte er ab. Georges de Cuvier (1769–1832), ein weiterer
Museumskollege und Begründer der Paläontologie hatte hingegen ganz andere Vorstellungen (1825):
Wiederholte Katastrophen („jede Fossilschicht“) lassen Arten (lokal) aussterben und aus benachbarten
Bereichen erfolgt eine Wiederbesiedlung. Für ihn – als Beweis dienten u.a. ägyptische mumifizierte
Katzen – waren Arten unveränderlich und für den Gradualismus von Lamarck konnte er keine
Beweise in Fossilien finden. Neben Lamarck und Saint-Hilaire gab es vor dem Artenbuch auch einige
andere Autoren – darunter auch Darwins Großvater – die in ihren Arbeiten mehr oder wenig deutlich
von einer Veränderlichkeit von Arten ausgingen. Weitere Impulse für Darwin kamen auch aus ganz
anderen Wissenschaftsbereichen: Der schottische Naturforscher und Begründer der Geologie James
Hutton (1726–1797) formulierte in seinem 1795 erschienenen Buch „Theory of the Earth“ die
Prinzipien des „Aktualismus“ und „Gradualismus“: Prozesse, die heute zu beobachten sind, sollten
auch in der Vergangenheit gewirkt haben und geologische Prozesse laufen langsam, graduell ab (in
alternativen Vorstellungen entstanden z.B. Gebirge durch Katastrophen). Die Ideen des Gradualismus
und Aktualismus finden sich auch im dreibändigen Werk „Principles of Geology“ (1830–1833) des
britischen Geologen Charles Lyell (1797–1875), dessen ersten Band – ein Geschenk des Kapitäns
FitzRoy – studierte Darwin während seiner Beagle-Reise. (Lyell wird später ein wichtiger Freund
Darwins.) Kurz nach der Beagle-Reise liest Darwin den „Essay on the Principle of Population“ (1798)
des britischen Ökonomen Thomas Robert Malthus (1766–1834). Das hier formulierte
„Bevölkerungsgesetz“ (geometrisches Bevölkerungswachstum steht einer (nur) arithmetischen
Steigerung des Nahrungsmittelangebots gegenüber) ist gleichsam ein Kristallisationspunkt seiner
Selektionstheorie.
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Darwins Vererbungstheorie. In Darwins Selektionstheorie spielt einerseits die Vererbbarkeit von
Merkmalen eine entscheidende Rolle: „Any variation which is not inherited is unimportant for us.“
Andererseits waren die Gesetzmäßigkeiten der Vererbung zu Darwins Zeit unklar bzw. bestehende
Konzepte (aus heutiger Sicht) irrig. Tatsächlich hatte Darwin (zeitgeistig) ganz ähnliche Vorstellungen
wie Lamarck, ging also von einer Vererbung individuell erworbener Eigenschaften aus, die sich durch
Gewohnheit, Gebrauch und Nicht-Gebrauch von Organen ergeben und die für Darwin auch die
Ursache für die beobachtbare Variation in Populationen darstellte: „there can be little doubt that use in
our domestic animals strengthens and enlarges certain parts, and disuse diminishes them; and that
such modifications are inherited, and that this also applied in nature.“ Ernst Mayr (1904–2005), ein
bedeutender Repräsentant der Synthetischen Evolutionstheorie (s.u.), prägte für solche Konzepte den
Begriff der „soft inheritance“ im Gegensatz zur „harten Vererbung“, die im Einklang mit den
Erkenntnissen der modernen (Mendel-)Genetik steht. Als Mechanismus für eine derartige Vererbung
schlägt Darwin 1868 seine „provisorische“, spekulative Pangenesis-Hypothese vor: Organzellen
schütten kleine (informationstragende) Partikel („gemmules“ oder „pangenes“) aus, die über die
Blutbahn in die Keimzellen gelangen. Generell herrschte im 19. Jahrhundert in Bezug auf
Vererbungsgänge das Konzept einer „Mischhypothese“ („blending inheritance“) vor: Die elterlichen
Merkmale liegen in den Nachkommen gleichsam wie aus zwei Flüssigkeiten gemischt vor.
Konsequenterweise würde Variation innnerhalb der Population mit der Zeit „verwaschen“. Inhaltlich
gegenüber steht die „particulate inheritance“: Nachkommen haben kombinierte elterliche
Eigenschaften, die als separate Einheiten vererbt werden. Variation in Populationen kann so erhalten
werden.
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Moderne Genetik. Entscheidend für die Weiterentwicklung der Evolutionstheorie war die Begründung
und Etablierung einer modernen Genetik (Vererbungslehre). Als „Vater der Genetik“ gilt – sicherlich
etwas mythenhaft – bekanntermaßen der Augustinermönch Gregor Mendel (1822–1884), der 1856 im
Garten der Abtei St. Thomas in Alt Brünn (Tschechien) mit seinen systematischen, zahlreichen
Kreuzungsexperimenten insbesondere mit Erbsensorten begann: ca. 350 Kreuzungen mit 13.000
Nachkommen. Eine Veröffentlichung seiner Ergebnisse und entsprechender statistischer
Auswertungen erfolgte 1866: „Versuche über Pflanzen-Hybriden. Verhandlungen des
naturforschenden Vereines in Brünn, Bd. IV.“. Mendels Motivation für diese Arbeiten war nicht – wie
Lehrbücher meist suggerieren – die Aufklärung allgemeingültiger „Vererbungsgesetze“. Er war an der
Bildung und Entwicklung von Hybriden aus gekreuzten Varietäten/Sorten interessiert. Ob es ihm dabei
evtl. auch – so wurde vermutet – um die Bedeutung von Hybriden bei Artbildung/umwandlung oder
doch eher „nur“ um Züchterisches ging, ist unklar. Es wurde interessanterweise auch folgende
zusätzliche, persönliche Motivation für seine langwierigen (8 Jahre) und aufwändigen Experimente
spekuliert: Seinerzeit „Befruchtungsvorgang-Debatte“ (Embryo nur aus Pollenschlauch versus Embryo
aus Pollenschlauch und Eizelle). 1856 fällt Mendel bei Lehramtsprüfung durch, weil er auf seine
(richtige) Meinung beharrt. Mit seinen Experimenten zeigt er schließlich gleichgewichtige/wertige
Beteiligung von Vater und Mutter beim Befruchtungsvorgang. Die Arbeit Mendels, die nur in kleiner
Auflage erschien, wenig zitiert wurde und deren Inhalt und Tragweite von Zeitgenossen – z.B. dem
seinerzeit bedeutenden Schweizer Botaniker Carl Wilhelm von Nägeli, dem Mendel Sonderdrucke
zugesandt hat – nicht verstanden wurde, blieb bis zu ihrer „Wiederentdeckung“ um 1900 faktisch
wirkungslos. Die sich dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts etablierende klassische Genetik
(Transmissionsgenetik) erlaubte dann den langwierigen Prozess einer Synthese von Mendelvererbung
und Darwinismus. Mendel selbst hatte (natürlich) noch kein heutiges Verständnis der partikulären
Erbanlagen (Gene), auch wenn die von ihm verwendeten Begriffe, wie „Factoren“ oder „Zellelemente“
dies möglicherweise (aus heutiger Sicht) nahelegen. Die Uniformitäts-, Spaltungs- und
Unabhängigkeitsregel Mendels sind zunächst auch zwanglos mit einer Pangenesistheorie (s.u.)
vereinbar, wie sie Hugo de Vries (1848–1935), einer der Wiederentdecker Mendels, vertrat. Soweit
man weiß, kannte Darwin (1809–1882) die Arbeit des Zeitgenossen Mendels (1822–1884) nicht. Ob er
es verstanden hätte? Andererseits las der „Priester, der den Schlüssel zur Evolution in Händen hielt“
(Eiseley 1958) aber das Artenbuch, wie Anmerkungen und Kritzeleien in seinem Exemplar zeigen.
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Wiederentdeckung Mendels (†1882). Einer der Wiederentdecker der Arbeit Mendels war der
niederländische Botaniker Hugo de Vries (1848–1935), der in den 1890er Jahren – zunächst ohne
Kenntnis der Arbeit Mendels – ebenfalls Kreuzungsexperimente an 17 verschiedenen Pflanzenarten
durchführte und zu den gleichen Ergebnissen wie Mendel kam. Trotz zwischenzeitlicher Kenntnis der
Arbeit Mendels „vergisst“ er diesen allerdings in einer Arbeit von 1900 entsprechend zu zitieren. Auf
Drängen des deutschen Botanikers Carl Correns (1864–1933), der ein Schüler Nägelis (s.o.) war –
räumt de Vries Mendels Priorität dann aber ein. Als weiterer Wiederentdecker wurde/wird auch
häufiger der österreichische Botaniker Erich Tschermak (1871–1962) – dessen Großvater übrigens
Mendel in Botanik unterrichtete – genannt, der aber die Arbeit Mendels inhaltlich aber wohl nicht
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(komplett) richtig verstanden hat. In seinem Buch „Intrazelluläre Pangenesis“ (1889) entwickelt de
Vries eine Pangenesis-Theorie, die der von Darwin ähnelt und postuliert hier unter anderem, dass
bestimmte Merkmale durch selbstständige Teilchen „Pangene“ vererbt werden; etwas was der
dänische Botaniker Wilhelm Johannsen (1857–1927) dann 1909 erstmals als „Gene“ – ohne
Hypothese zur Struktur – bezeichnen wird. (Hugo de Vries war übrigens 1871 für ein Semester als
Post-Doc bei Wilhelm Hofmeister in Heidelberg.)
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De Vries‘sche Mutationstheorie – Saltatorische Artbildung. Für de Vries erschien die, für den
Darwinismus entscheidende, Variation von Populationen nicht ausreichend verstanden. Er suchte
daher nach Arten, bei denen die Nachkommen völlig eindeutig anders waren (und so blieben), aber
„fast alle Arten erwiesen sich als immutabel. Nur eine einzige Art entsprach meinen Erwartungen“: In
sieben Jahren fand er unter etwa 50 000 untersuchten Individuen der Rotkelchigen Nachtkerze
(Oenothera lamarckiana) eine größere Anzahl neuer Formen, von denen einige ihre – von den Eltern
unterschiedlichen – Eigenschaften unverändert an ihre Nachkommen weitergaben. (Durch
umfangreiche Nachkommenschaftsanalysen konnte er dabei wirklich vererbte „Mutationen“ von
umweltbedingten Modifikationen unterscheiden.) Seine Schlussfolgerungen fasst er in einem
zweibändigen Werk (1900, 1903) zusammen: „Die Mutationstheorie, Versuche und Beobachtungen
über die Entstehung der Arten im Pflanzenreich“. Diese Theorie besagt, dass Arten durch eine
einzelne „Mutation“ („Sprung“) entstehen und nicht über graduelle Veränderungen, die durch die
natürliche Selektion getrieben werden. Da seine Untersuchungen die erste groß angelegte
experimentelle Studie zur Evolution darstellte, fand die Mutationstheorie breite Akzeptanz und führte
auch zu den Drosophila-Kreuzungsversuchen des US-Amerikaners Thomas Hunt Morgan (1866–
1945), die zur grundlegenden Strukturaufklärung der Chromosomen beitrugen (Nobelpreis 1933). Es
stellte sich in der Folgezeit allerdings heraus, dass die de Vries’schen „Mutanten“ ihre Ursache in
einer besonderen (komplizierten) Genetik der O. lamarckiana haben und nicht in (Punkt)Mutationen im
eigentlichen (heutigen) Sinne: Diese Art ist hybridogenen („europäischen“) Ursprungs, vereint also
zwei vormals getrennte Genome. (Die Elternarten waren zwei im 17. Jahrhundert nach Europa
eingeführte Arten aus N-Amerika.) Durch einen Austausch von Chromosomen-Segmenten zwischen
Chromosomen, die nicht zum selben homologen Paar gehören (reziproke Translokation) kann es
letztendlich zu gestörten Meiosen und (reproduktiv isolierten) Chromosomenzahl-Varianten kommen.
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Anfang 20. Jahrhundert – Eclipse of Darwinism. Der Beginn des letzten Jahrhunderts – also vor
den Konzepten der Synthetischen Evolutionstheorie – war gleichsam eine „Dunkelzeit des
Darwinismus“ (Huxley 1942): Evolution an sich war akzeptiert, viele Biologen waren aber nicht von der
natürlichen Selektion als entscheidende Triebkraft evolutionären Wandels und dem Darwinschen
Konzept einer gradualistisch verlaufenden Evolution überzeugt. Diskutierte Alternativen zur
natürlichen Selektion waren z.B. theistische und neo-Lamarckistische Ansätze. Motiviert durch die
Mutationstheorie (s.o.) und Mendelgenetischen Analysen mit ihren deutlichen (sprunghaften)
Unterschieden zwischen Eltern und Nachkommen vertraten viele Biologen den Mutationismus (oder
auch Mendelismus) in dem insbesondere Mutationen – und nicht die natürliche Selektion –
evolutionäre Änderungen hervorbrachten und/oder vertraten (einen resultierenden) Saltationismus
(sprunghafte Evolution) statt des Darwinschen Gradualismus. Der Brite William Bateson (1861–1926),
auf den der Begriff „Genetik“ zurückgeht, war seinerzeit ein bekannter Vertreter des Mutationismus
bzw. Saltationismus (1902: Mendel's Principles of Heredity: A Defence). „Seine“ Wiederentdeckung
der Arbeit Mendels und eigene Experimente waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein wichtiger
Motor für die rasante Entwicklung der Genetik. Erbittert gegenüber stand der englische Zoologe und
Biometriker Walter Frank Raphael Weldon (1860–1906), der für das Lager eines durch natürliche
Selektion getriebenen Gradualismus stand: Bis zu seinem frühen Tod versuchte er mit zahlreichen
Experimenten die Mendelschen Regeln zu widerlegen. Solche „Feindschaften“ ergaben (und ergeben)
sich zum Gutteil wohl (menschlicherweise) einfach auch dadurch, dass verschiedene methodische
Ansätze und deren Eigenheiten gleichsam die eigene „Weltanschauung“ stark beeinflussen können:
Ein (Mendel-)Genetiker arbeitet nun mal mit diskreten Merkmalen und ein Biometriker insbesondere
auch mit kontinuierlichen. Dieser − aus heutiger Sicht − scheinbare Konflikt zwischen Mendelgenetik
und Darwinismus wurde dann später durch Konzepte der Synthetischen Evolutionstheorie (s.u.)
aufgelöst.
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Exkurs: Modelle/Theorien „passen sich an“. In der Wissenschaft müssen sich Modelle und
Theorien weiterentwickeln um neuere Beobachtungen in Einklang zu bringen: Das Atommodell
Daltons (1803) konnte das Gesetz der konstanten Proportionen aber nicht die „Ladungsphänomene“
(Streuversuch), die zum Rutherford’schen Atommodell (1911) führten, erklären. Das darauf
aufbauende Bohr’sche Atommodell (1913) ist in der Lage auch elektromagnetische Strahlung zu
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erklären und das Orbitalmodell (1928) kann sicherlich auch etwas erklären, was vorher nicht ging,
aber beobachtet werden kann. Ganz genauso musste (und muss) auch „die“ Evolutionstheorie immer
weiter evolvieren um neuen Erkenntnissen und Beobachtungen, die sich oft durch die Anwendung
neuer Techniken und Ansätze ergeben, zu integrieren. Das bedeutet natürlich nicht, dass z.B. die
Theorien Darwins komplett widerlegt sind, sondern dass diese eben in vielen Aspekten erweitert und
verfeinert werden mussten bzw. konnten.
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Neodarwinismus im engeren Sinne. Meist wird der Begriff „Neodarwinismus“ heute gleichgesetzt
mit „Synthetische Evolutionstheorie“ (s.u.), die sich (grob) in den 1930er bis 40er Jahren entwickelte,
die auch „Moderne Synthese“, „Moderne Evolutionssynthese“ oder „Neue Synthese“ genannt wird.
Der Begriff „Neodarwinismus“ im ursprünglichen Sinne bezog sich aber auf die Keimplasmatheorie
des Freiburger Zoologen August Weismann (1834–1914), die eine (lamarckistische) Vererbung
erworbener Eigenschaften zurückweist (die er vorher auch selber vertrat); 1885: „Die Continuität des
Keimplasmas als Grundlage einer Theorie der Vererbung“ und 1892: „Das Keimplasma. Eine Theorie
der Vererbung“. In dieser Theorie trennt er (bei Mehrzellern mit sexueller Fortpflanzung) die Keimbahn
räumlich strikt vom „Soma“. (Von einer ausdifferenzierten Körperzelle „geht also kein Weg zurück“ zu
Keimzellen.) Diese Ablehnung des Lamarckismus war somit ein wichtiger Beitrag zur Entwicklung
einer modernen Genetik. Weismann nahm aber durchaus an, dass das Keimplasma selbst, direkt
durch äußere Faktoren veränderbar war. (So ganz „hard“ war seine „inheritance“ wohl also auch nicht,
bzw. die Konzepte zur Vererbung und Evolution dieser Zeit sind oft nicht wirklich klar eindeutigen
Kategorien zuzuordnen). Ein „legendäres“ Experiment Weismanns, das die somatische
Unbeeinflussbarkeit der Keimbahn demonstriert, bestand darin Mäusen wiederholt über einige
Generationen hinweg den Schwanz zu entfernen: Alle 849 Nachkommen schwanzloser Eltern
besaßen Schwänze. (Weismann räumte wohl aber auch selber ein, dass dieses Experiment keinen
wirklichen Gegenbeweis zum Lamarckismus lieferte, da dort ja nicht Verletzungen, sondern neue
Gewohnheiten zu Veränderungen führen sollten.)
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1930/40er: Synthetische Evolutionstheorie. Dieses in der ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts
entwickelte Evolutionstheoriegebäude ist eine Erweiterung des Darwinismus, welche die seinerzeit
neuen Erkenntnisse der Genetik, Populationsbiologie, Paläontologie und Systematik
integriert (altgriech. „Synthese“ = „Zusammensetzung“,“ Zusammenfassung“,“ Verknüpfung“).
Wesentlich (!) war vor allem, dass sie die Mendelgenetik in Einklang mit natürlicher Selektion und
gradueller Evolution brachte. Hierbei waren insbesondere Pionierarbeiten (1918–1932) der
Populationsgenetik – die Allelfrequenzen in Populationen und deren Veränderungen untersucht bzw.
(zum Teil auch sehr theoretisch) erklärt – von entscheidender Bedeutung.
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Beiträge zur Synthetischen Evolutionstheorie – Populationsgenetik. Hier sollen zunächst für
einen groben Überblick „nur“ wichtige Personen und deren Beiträge zur Synthese namedropping- und
stichwortartig genannt werden. Die erwähnten Buch- oder Aufsatztitel beinhalten oft schon die
entscheidenden Schlagworte. Sewall (Green) Wright (1889–1988, US-Amerikaner): Mitbegründer der
Populationsgenetik, Theorie der genetischen Drift, Wechselwirkung von genetischer Drift und
natürlicher Selektion, Inzuchtkoeffizient, „Fitnesslandschaft“ (1920/30er Jahre). Sir Ronald Aylmer
Fisher (1890–1962, Brite): Theoretische Grundlagen der Populationsgenetik, populationsstatistisches
Fundament der Synthese, Hauptwerk: “The Genetical Theory of Natural Selection“ (1930). John
Burdon Sanderson Haldane (1892–1964, Brite): Bezug von Teilen der Populationsgenetik zu
Mendel-Regeln und deren Vereinbarkeit mit Darwinismus, Hauptwerk: „The Causes of Evolution“
(1932). Theodosius Dobzhansky (1900–1975, russisch-US-amerikanisch): theoretische und
praktische Populationsgenetik (erste Untersuchungen an natürlichen Taufliegenpopulationen),
epochales Werk: „Genetics and the Origin of Species“ (1937) *.
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Beiträge zur Synthetischen Evolutionstheorie – “Haupt-Popularisierer”. Julian Sorell Huxley
(1887–1975, Brite): Großvater Unterstützer Darwins („Darwin's Bulldog“ ), Bruder Aldous Huxley
(Schriftsteller), wichtiges Werk: „Evolution: The Modern Synthesis“ (1942), bedeutende Beiträge zur
sexuellen Selektion und ökologischen Genetik. Ernst Walter Mayr (1904–2005, Deutscher, ab 1931
in USA tätig): einflussreichster Evolutionsbiologe des 20. Jahrhunderts, weniger mathematischtheoretisch ausgerichtet, Biologisches Artkonzept, Artbildung durch reproduktive Isolation, epochales
Buch "Systematics and the Origin of Species“ (1942) *. George Gaylord Simpson (1902–1984):
einflussreicher Paläontologe (insbesondere fossile Pferde), wichtige Bücher: „Tempo and Mode in
Evolution“ (1944)*, Principles of Classification and a Classification of Mammals" (1945). George
Ledyard Stebbins (1906–2000, US-Amerikaner): Artbildung bei Pflanzen, epochales Werk: „Variation
and Evolution in Plants“ (1950)*. (Die vier mit Stern gekennzeichneten Bücher gelten als die
entscheidenden Schlüsselwerke der Synthetischen Evolutionstheorie.)
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Hauptaussagen der Synthese – Beiträge der experimentellen Laborgenetik. Die Kernaussagen
der Synthese entstammen aus verschiedenen Disziplinen/Ausrichtungen der (Evolutions)biologie
(siehe folgende Abschnitte). Beiträge der Laborgenetik: Unterscheidung von Phäno- und Genotyp.
Phänotyp als Summe der manifestierten Eigenschaften (Morphologie, Physiologie, Biochemie,
Verhalten) des Organismus, die durch die Wirkung der Gene und Umwelt bestimmt sind; auch
Untergruppe solcher Eigenschaften, insbesondere solche, die durch bestimmte Allele (s.u.) oder
andere Genotypanteile beeinflusst sind. Genotyp als Summe der Gene eines Organismus; oft auch
die genetische Zusammensetzung an einem bestimmten oder einer Gruppe von Genorten
(„Campbell“: Abb. 14.6). Entscheidend (!) ist, dass die Umwelt (direkt) nur den Phänotyp beeinflusst,
also durch Umwelteinflüsse erworbenen Eigenschaften nicht vererbt werden können. Vererbbare
Variationen haben ihren Ursprung in Genen mit „Teilchencharakter“, die langsam zu alternativen
Formen mutieren, den Allelen. Durch DNA-Sequenzierungen detektierte Genvarianten werden meist
Haplotypen genannt. Die genetische Rekombination (Neukombination ganzer Chromosomen durch
Sexualität, intrachromosomale Allel-Neukombination durch Crossing-over) erhöht die genetische
Variation im Sinne einer Vielfalt von Kombinationen („Campbell“: Abb. 13.11 u. 12). (Die Begriffe
Geno- und Phänotyp gehen auch auf Wilhelm Johannsen, 1909 − zunächst in z.T. etwas anderer
Bedeutung − zurück, der aber klar erkannte, dass der Genotyp nicht direkt in Erscheinung tritt.)
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Hauptaussagen der Synthese – Beiträge der mathematischen Theorie der Populationsgenetik.
Evolution findet in Populationen statt und bedeutet eine Änderung von Genotypfrequenzen, die dazu
führen kann, dass ein Genotyp alle anderen der Population bzw. Art ersetzt. Mutationsraten selbst
sind zu klein um eine populationsweite Genotypänderung zu bewirken. Dies geschieht durch
genetische Drift (Zufallsprozesse) und/oder natürliche Selektion. Kleine „Selektionsintensitäten“
können unter Umständen in kurzer Zeit große evolutionäre Änderungen bewirken.
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Hauptaussagen der Synthese – Beiträge aus (“Naturkundler”)-Studien realer Populationen. Die
natürliche Selektion kann Populationen über den ursprünglichen Variationsbereich verändern (Beitrag
aus der Züchtungsforschung). Natürliche Populationen zeigen genetische Variation und enthalten
Varianten, die beobachteten „Labor-Mutanten“ entsprechen. Geographisch getrennte Populationen
unterscheiden sich in Merkmalen mit genetischer Basis; seltene Genotypen einer Population können
dominant in anderen sein. Phänotypische Unterschiede von Arten (Populationen) haben oft eine
genetische Basis (versus Umweltmodifikationen). Diese Merkmalsunterschiede sind oft polygen: ein
phänotypisches Merkmal wird nicht durch ein einzelnes Gen (Monogenie), sondern durch mehrere
Gene bestimmt (Polygenie). Die natürliche Selektion wirkt in realen Populationen „auch heute“.
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Hauptaussagen der Synthese – Beiträge von Kennern bestimmter Gruppen. Geographische
Populationsunterschiede sind (wegen unterschiedlicher Umwelteinflüsse) oft adaptiv. Arten sind eher
als Genpool mit reproduktiver Isolation zu begreifen (Biologische Art), weniger als bestimmte
Phänotypausprägungen. Es gibt Übergänge von kaum reproduktiv isolierten phänotypisch sehr
ähnlichen Populationen bis zu komplett reproduktiv isolierten Arten mit deutlichen phänotypischen
Unterschieden (Hinweis auf Gradualismus). Artbildung (Speziation) erfolgt meist durch geographische
Trennung von Populationen. Die Tatsache, dass sich Arten einer Gattung oft graduell unterscheiden,
ist ein Hinweis darauf, dass auch die höheren taxonomischen Einheiten, zu denen die Arten bzw.
Gattungen gehören (Familien, Ordnungen, etc.), schrittweise (graduell) entstanden sind; neue „Typen“
entstanden also nicht „plötzlich“.
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Hauptaussagen der Synthese – Beiträge Paläontologie. Teilweise vorhandene lückenlose
Fossilfunde bezeugen graduelle Evolution höherer Taxa. „Lücken“ werden als Unvollständigkeit des
Fossilberichts gedeutet. Es gibt keine paläontologischen Befunde, die nicht in Einklang mit der
Synthese sind. Die oben kurz umrissenen Hauptaussagen der Synthese sind gleichsam die Grundlage
der (orthodoxen) modernen Evolutionstheorie, die etwa um 1940 so formuliert wurden und die
weitgehend akzeptiert sind, wenngleich auch einige Sichtweisen in der Folgezeit mehr oder weniger
stark herausgefordert wurden (s.u.).
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Aufgaben
♦ Ging es im so genannten Pariser Akademiestreit um Evolution?
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Skript zur Vorlesung „Allgemeine Evolutionsbiologie“ | WS 2016/2017 | A. Franzke & M. Koch
♦ Wohl die allerwenigsten haben sie wirklich mal gesehen. Mendels Arbeit finden Sie z.B. hier:
http://www.mendelweb.org oder (viel schöner) hier: http://vlp.mpiwgberlin.mpg.de/library/data/lit26745?
♦ Welche Bedeutung hatte Weismanns Keimplasmatheorie für die Synthetische Evolutionstheorie?
♦ Haben Samenpflanzen eine Keimbahn?
♦ Die oben aufgeführten Hauptaussagen der Synthetischen Evolutionstheorie sind (mehr oder weniger
gut) frei aus dem „Futuyma“ (Seite 11) übersetzt. Unbedingt dort studieren!
♦ Kann ein Phänotyp erworbene Eigenschaften aufweisen?
♦ Zum Reinziehen: In diesem Interview rekapituliert der Zeitzeuge Ernst Mayr die „Evolution“ der
Synthetischen Evolutionstheorie: http://www.youtube.com/watch?v=In-FR-euCL8
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