Karl-Heinz Bernhardt Thesen zur Klimadebatte

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LIFIS ONLINE [14.12.10]
www.leibniz-institut.de
ISSN 1864-6972
Karl-Heinz Bernhardt
Thesen zur Klimadebatte
Die nachstehenden Thesen – erstmals als Beilage zur „Berliner Wetterkarte“ vom 13. August 2009
veröffentlicht und später auch auf der Homepage der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin zur Diskussion gestellt – sind in den Tagen nach Abschluss der Klimakonferenz von Cancún
unverändert aktuell. Gegen Ende eines Jahrzehnts, das die seit Beginn der weltweiten instrumentellen Beobachtungen höchste globale Mitteltemperatur an der Erdoberfläche aufweist und das zugleich das fünfte Jahrzehnt in einer ununterbrochenen Folge steigender Dezennienmittelwerte
darstellt, haben die Vertreter von 194 Staaten als Ursache der gegenwärtigen Erwärmung die anthropogene Emission von Treibhausgasen als „sehr wahrscheinlich“ ausgemacht und als Zielstellung die Begrenzung des globalen Temperaturanstiegs auf 2 bzw. 1,5 K formuliert.
Die Notwendigkeit, die derzeitige Erwärmung durch Verminderung des anthropogenen Anteils
am Klimawandel zumindest zu verlangsamen bzw. abzuschwächen und andererseits die schädlichen Auswirkungen unvermeidlichen weiteren Wandels zu mildern sowie auch mögliche positive Effekte nutzbar zu machen, bedeutet eine Herausforderung an nahezu alle Disziplinen von
Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften sowie an deren inter- und transdisziplinäres Zusammenwirken. Erinnert sei nur an die im Rahmen des Leibniz-Instituts für interdisziplinäre Studien
(LIFIS) bzw. der Leibniz-Sozietät erörterten Probleme einer neuen Energie- und Stoffwirtschaft
im Solarzeitalter bzw. einer sicheren Energie- und Rohstoffversorgung, die neben physikalischen,
chemischen und montanwissenschaftlichen, technischen und technologischen auch eine Fülle beispielsweise ökonomischer, politischer, medizinischer, philosophischer, ethischer und psychologischer (darunter Akzeptanz-)Aspekte aufweisen. Ähnliches ließe sich für Land- und
Forstwirtschaft, Städtebau und Landschaftsgestaltung, Gesundheitswesen, Verkehr und Touristik
in einer Zeit forcierter Klimaänderungen ausführen, die – wie in der Vergangenheit – auch ihre
Widerspiegelung in Literatur und bildender Kunst finden.
Mit den folgenden 11 Thesen und der angegebenen weiterführenden Literatur sollen einige Aspekte der Klimadiskussion berührt werden, die angesichts einiger markanter Witterungsereignisse
des vergangenen Jahres und deren tiefgreifenden Auswirkungen – so in Mittel-, Ost- und anderen
Teilen Europas, in Pakistan und auf dem amerikanischen Kontinent – wieder verstärkt geführt
wird. Dabei zutage tretende Missverständnisse, wie mit Blick auf die Beziehungen zwischen Wetter und Klima, zwischen Klimaänderungen globalen, regionalen und lokalen Maßstabes in unterschiedlichen Zeitbereichen oder zum Verhältnis von natürlichen und anthropogenen
Einflussfaktoren im hochkomplexen Klimasystem können zu Verunsicherung, zu Vertrauensverlust gegenüber wissenschaftlichen Aussagen und zu unkritischem Verhalten gegenüber scheinbar
einleuchtenden, aber wissenschaftlich nicht begründeten Behauptungen führen. Dies zu verhindern und zu interdisziplinärem Diskurs anzuregen, ist das Anliegen dieses Beitrages.
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1.
Das Klima ist die statistische Gesamtheit atmosphärischer Zustände und Prozesse in ihrer raumzeitlichen Verteilung („Synthese des Wetters“, WMO Vocabulary). Sein Status wird durch die
Komponenten des Klimasystems bestimmt, zu dem neben der Atmosphäre selbst die Hydrosphäre, die Kryosphäre, die Pedo- bzw. die Lithosphäre und die Biosphäre einschließlich der Technosphäre (oder Noosphäre) gehören und das gegenüber dem Weltraum offen ist.
2.
Das Klimasystem ist ein hochgradig nichtlineares komplexes dynamisches System mit zahlreichen positiven und negativen Rückkoppelungsmechanismen, die eine hohe Empfindlichkeit
gegenüber externen Anregungen (veränderlicher solarer Strahlungsfluß, wechselnde Vulkanstaubtrübung, anthropogene Partikel- und Spurengasemission) bedingen, aber auch vielfältige interne Schwankungen hervorbringen. Dies hat Klimaschwankungen in allen Zeitbereichen – von
Megajahren bis herab zu Jahrzehnten und Jahren – zur Folge, so daß der ständige Wandel die „Daseinsweise“ des Klimas ist.
3.
Wahrscheinlich existierende multiple Gleichgewichtszustände, kritische Schranken und „KippPunkte“ bzw. – Elemente begünstigen abrupte globale Klimaänderungen regionalen bis globalen
Maßstabes, wie sie zumindest für das seit etwa 2,5 Megajahren andauernde pleistozäne Eiszeitalter vielfach nachgewiesen, seit etwa 11.000 Jahren – d.h. seit dem Ende der Altsteinzeit – aber im
globalen Maßstab nicht mehr aufgetreten sind.
4.
Klimaänderungen sind auf Grund längerer (über Jahrzehnte fortgeführter) homogener Datenreihen erst im nachhinein feststellbar, wobei in der Klimadiagnostik entsprechende statistische Testverfahren unter Beachtung von Autokorrelationen („Erhaltungsneigung“) erweisen müssen, ob
die untersuchten Parameter für die betrachtete Beobachtungsperiode („Stichprobe“) einer anderen
statistischen Gesamtheit („Grundgesamtheit“), d.h. einem anderen Klimaregime entstammen als
die gleichen Parameter für eine vorangegangene Vergleichsperiode. Das gilt gleichermaßen für
Mittelwerte, Häufigkeiten und andere statistische Parameter, insbesondere auch für Extremwerte
und -ereignisse, die integrierender Bestandteil eines jeden Klimaregimes sind und deren Auftreten, für sich genommen, nichts über eine Klimaänderung aussagt.
5.
Wetter, Klima und Klimaänderungen an einem gegebenen Ort werden durch das Zusammenwirken ortsgebundener (Beschaffenheit der Unterlage, Strahlungs- und turbulente Flüsse) und zirkulationsbedingter Faktoren (Advektion) bedingt. Dabei werden Abweichungen vom
durchschnittlichen Witterungsverlauf und extreme Ereignisse („Anomalien“) wie auch die Verschiebung von Klimazonen, namentlich in mittleren und höheren geographischen Breiten, hauptsächlich von der Zirkulation der Atmosphäre und deren Schwankungen geprägt und verlaufen
daher in der Regel regional gegenläufig.
6.
Demgegenüber wird gegenwärtig – in der Spätphase einer schon etwa 11.000 Jahre währenden
Warmzeit (Interglazial) und im Anschluß an eine wenige Jahrhunderte umspannende kältere Epoche („Kleine Eiszeit“) – an der Erdoberfläche eine globale, wenn auch regional unterschiedliche
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und schubweise verlaufende Erwärmung beobachtet, die im vergangenen Jahrhundert laut IPCC
weltweit ca. 0,74 (0,56...0,92) K, in Mitteleuropa aber mehr als 1 K betragen hat. Vornehmlich
durch Zirkulationsänderungen bedingte regionale Klimaänderungen können nach Betrag und Vorzeichen deutlich vom globalen Muster abweichen. Auf Grund der Komplexität des Klimasystems
und seiner vielfältigen internen Wechselwirkungen, die monokausale Zusammenhänge in der Regel ausschließen, reichen einfache Plausibilitätsbetrachtungen im allgemeinen nicht aus, um Veränderungen des Zirkulationsregimes und damit zusammenhängende Besonderheiten des
regionalen Klimawandels schlüssig zu erklären.
7.
Anthropogene Einflüsse auf das Klimasystem werden durch Veränderungen der Erdoberfläche
(Landnutzung), Eingriffe in den (Spuren)Stoffhaushalt oder in die Energiebilanz (z.B. Abwärme)
der Atmosphäre und andere Komponenten des Klimasystems bewirkt. Sie umfassen schon seit
Jahrhunderten den mikro-, lokal- und regionalklimatischen Bereich (Beispiele: Frostschutz Stadtklima - Rodung, Bewässerung u.ä.), betreffen aber mit der Einwirkung auf globale Stoffbilanzen (Aerosole, Kohlendioxid, Methan und andere atmosphärische Spurengase) spätestens seit
der industriellen Revolution auch das globale Klima.
8.
Der gegenwärtige wie der künftige Klimawandel vollzieht sich daher unter dem gemeinsamen
Einfluß natürlicher (solarer Strahlungsfluß, Vulkanstaub) und anthropogener Faktoren (Aerosolund „Treibhaus“gasemission, Landnutzung); menschliche Gesellschaft und (globales) Klimasystem entwickeln sich damit erstmals in interaktiver Wechselwirkung. Auf Grund der in den Thesen
2 und 5 umrissenen Eigenschaften des Klimasystems ist die Rolle systeminterner Schwankungen
einerseits und der genannten externen (natürlichen und/oder anthropogenen) Antriebe andererseits
für die Klimaänderungen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Regelfall nur unter Verwendung zuverlässigen Datenmaterials und hochleistungsfähiger Simulationsmodelle und nicht
durch simple additive Verknüpfung einzelner Effekte abzuklären.
9.
Der Simulation des gegenwärtigen und (in Gestalt von „Szenarien“ oder „Projektionen“) des künftigen Klimas dienen derzeit hochentwickelte Modelle der atmosphärisch-ozeanischen Zirkulation
(GCMs). Während die numerische Integration der entsprechenden Modellgleichungen über kurze
Zeiträume (bis zu mehreren Tagen) eine Wettervorhersage – die Berechnung eines künftigen Zustandes der Atmosphäre aus der Kenntnis des Anfangszustandes – gestattet, liefern Langzeitintegrationen aus bekannten Gründen (Chaoscharakter der atmosphärischen Bewegungen) keine
verwertbaren Informationen über einzelne atmosphärische Zustände zu bestimmten Zeitpunkten,
wohl aber über deren statistische Verteilung – eben das Klima. Belegen die tagtäglich verifizierbaren Ergebnisse der Wetterprognose ebenso wie die befriedigende Simulation des derzeitigen
Klimaregimes die prinzipielle Richtigkeit der zugrundeliegenden Modelle einschließlich ihrer
einzelnen Module, so erheben die Modelle zur Zeit keinen Anspruch auf deterministische Vorhersagbarkeit des Witterungscharakters einzelner Jahre, dessen Analyse folglich nicht als Argument
gegen Aussagen zur längerfristigen Klimaentwicklung gebraucht werden sollte.
10.
Prognostische Aussagen über das künftige Klima im Zeitbereich von Jahrzehnten bis zu wenigen
Jahrhunderten liegen für unterschiedliche Szenarien künftiger Wirtschafts- und Bevölkerungsent-
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wicklung, Energiegewinnung und Ressourcennutzung vor. Abgesehen von der Ungewißheit hinsichtlich der in Zukunft tatsächlich realisisierten Entwicklungspfade, sind auch die
Klimasimulationen selbst mit Unsicherheiten behaftet. Diese liegen in der notwendigen Modellierung noch unzureichend erforschter Prozesse im Klimasystem (z.B. Aerosol-Wolken-Strahlungsund troposphärisch-stratosphärische Wechselwirkung, Abschmelzvorgänge kontinentaler Eisschilde und des Meereises), in Problemen der Modellvalidierung (für vergangene und für vorausberechnete künftige Klimaregime), in der möglichen Reaktion systeminterner Prozeßabläufe
(natürlicher Kohlendioxidzyklus, Methanfreisetzung) auf eintretende Klimaänderungen, ferner in
möglichen Einflüssen ungenügend vorhersagbarer äußerer Faktoren (solare Wellen- und Partikelstrahlung, eruptive Vulkanausbrüche u.a.) auf die künftige Klimaentwicklung und letztlich auch
in Grundproblemen der Vorhersagbarkeit komplexer dynamischer Systeme begründet.
11.
Die nicht zu unterschätzenden Unsicherheiten der Klimaprognose berühren nicht die Notwendigkeit einer sinnvollen Doppelstrategie von Vermeidung und Anpassung. Die infolge anthropogener
Einwirkung derzeit bei weitem höchste und noch weiter anwachsende atmosphärische Konzentration von Kohlendioxid und Methan seit mindestens 800.000 Jahren stellt auf Grund ihrer Auswirkungen auf den (langwelligen) Strahlungshaushalt einen klimaverändernden Faktor dar, der
selbst dann langfristig wirksam bliebe, wenn die jetzige weltweite Erwärmung zeitweilig zum
Stillstand käme oder, wie im 20. Jahrhundert geschehen, vorübergehend rückläufig würde. „Das
Unbeherrschbare vermeiden, das Unvermeidbare beherrschen“ erscheint angesichts Bevölkerungswachstum und -konzentration in gegenüber Klimaveränderungen hochsensiblen Regionen,
weltweiter Verteilungskämpfe um begrenzte Ressourcen, schärfster sozialer Gegensätze und politischer Rivalitäten unumgänglich. Das „Unbeherrschbare“ könnte mit einem Abdriften des Klimasystems in Bereiche verknüpft sein, für die es in der jüngeren geologischen Vergangenheit
keine Analoga gibt – verbunden vielleicht mit dem Erreichen eines „Kipp-Punktes“ und dem Eintritt einer abrupten Klimaänderung globalen Maßstabes.
Literatur
Bernhardt, K.-H.: „Dialektik des Klimas“, Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin, Band 102 (2009), S. 123-157;
www.leibniz-sozietaet.de/archiv%20sb/102/08_bernhardt.pdf
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Anschrift des Autors:
Prof. Dr. Karl-Heinz Bernhardt
Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin
Platz der Vereinten Nationen 3
D – 10249 Berlin
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