A10 Polit. Systeme Demokr. Autokr.

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Einführung in die Politikgeschichte des industriellen
Zeitalters
A. Politische Grundbegriffe
10. Politische Systeme: Demokratien und Autokratien (Stykow, S. 58ff.)
Bei der Suche nach Kriterien für die Einordnung und Typologisierung von
politischen Systemen bietet sich die grobe Unterscheidung von Demokratie und
Autokratie an.
Definition: Autokratie (griechischen Ursprungs) bedeutet Selbstherrschaft ohne freiwillige
Bestätigung durch die Beherrschten.
Diese zwei Grundtypen markieren die Pole eines breiten Spektrums von
politischen Systemen: das Typologisierungskriterium ist der Grad der politischen
Mitwirkungschancen für breite Bevölkerungsschichten.
Um politische Systeme treffsicher in ein typologisches Raster einordnen und
damit vergleichbar machen zu können, müssen eindeutige Einteilungs- und
Unterscheidungskriterien bestimmt werden. Das heißt: für die grobe
Unterscheidung, ob ein System demokratisch oder nicht-demokratisch ist, muss es
Kriterien geben, die einheitlich auf alle Untersuchungsfälle angewendet werden
können. Demnach muss auch eine Definition von Demokratie angeboten werden,
die einen politikwissenschaftlichen Minimalkonsens darstellt.
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Definition von Demokratie
Eine Definition für Demokratie im Sinne eines Minimalkonsenses kann
folgendermaßen aussehen:
Minimale Demokratien sind elektorale Demokratien. Die grundlegenden
Merkmale sind:
§ Bestimmung der Regierenden durch regelmäßig stattfindende, freie und faire
Wahlen
§ Herrschaft auf Zeit durch die Rückbindung an den Wählerwillen
§ Repräsentative Demokratie im Sinne von Elitenherrschaft mit Zustimmung
des Wahlvolkes
§ Systemfunktion der Wahlen für die Personalrekrutierung in der Sphäre der
politischen Führungspositionen (statt Erbfolge, Los, und autoritärer,
hierarchischer Bestellpraxis)
§ Parlamentarische Vertreterkörperschaften des Volkes, die stellvertretend für
das Wahlvolk entscheiden im Unterschied zu einer direkten Demokratie
Der Idee der Repräsentation liegt im 19. Jahrhundert der Siegeszug liberaler und
demokratischer Herrschaftsformen zugrunde. Repräsentation bedeutet aus der
Perspektive der liberalen und demokratischen Norm indirekte Herrschaft im
Interesse der Mehrheit der wahlberechtigten Bevölkerungskreise.
Erst die Idee der Stellvertretung und der Delegationsbeziehung zwischen
Wähler und Gewähltem machte die Demokratie als politisches System für große
moderne Flächenstaaten denkmöglich, im Unterschied zu kleinen Stadtstaaten, in
denen die Vollversammlung überschaubar vieler Bürger das Gemeinwesen direkt
regiert.
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Aber die Koppelung der Volkssouveränität an das Repräsentationsprinzip des
Parlamentarismus wirft das grundsätzliche regulative Problem auf, wie die
Bindung der Gewählten an den Wählerwillen sichergestellt werden kann, ohne
dass es zu einem Missbrauch der Handlungsfreiheit im Eigeninteresse der
Mandatsträger kommt. An dieser Stelle treffen zwei widerstreitende Normen
aufeinander:
einerseits notwendige Entscheidungsspielräume der Gewählten, um
effektives Regieren zu ermöglichen
andererseits die Rückbindung der Mandatsträger an die Interessen der
Gewählten als wichtige Integrationsleistung
Die Gewährung relativer Handlungsspielräume für die Mandatsträger erweist
sich als Notwendigkeit, weil die hochkomplexen Strukturen der Arbeitsteilung
und Spezialisierung in modernen Gesellschaften ähnlich komplexe,
hochspezialisierte Strukturen der Arbeitsteilung in Vertreterkörperschaften und
Führungsgremien erzwingen; d.h. Führungsgremien müssen abbildhaft eine hohe
Problemlösungskapazität ausbilden, die nur von arbeitsteilig arbeitenden, mit einer
gewissen Handlungsfreiheit ausgestatteten Spezialisten bereitgestellt werden kann.
Anders ist sachorientierte, zweckrationale, auf Stetigkeit, Planbarkeit und
Berechenbarkeit ausgelegte Leitungstätigkeit nicht denkbar.
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Dieses Erfordernis trifft auf die Partizipationsnorm der Rückbindung an den
Wählerwillen, der nur über das Instrument der periodischen
Rechenschaftspflichtigkeit Berücksichtigung finden kann. Die Wählerbasis über
alle Einzelheiten der Leitungstätigkeit abstimmen zu lassen, würde das Wahlvolk
angesichts der Komplexität moderner Arbeitsteilung und Spezialisierung
systematisch überfordern.
Die soziologische Systemtheorie verbindet diese Einsicht mit dem Theorem, dass
hochkomplexe Gesellschaften zur Vermeidung von Überlastung ähnlich
hochkomplexe Delegationsstrukturen ausbilden müssen. Das heißt:
Delegationsbeziehungen, die über demokratische Wahlen vermittelt sind, dienen
der Selbstentlastung des delegierenden Wahlvolkes.
Zwischen den Wahlen muss der Vertrauensmechanismus um der Selbstentlastung
der Wählerbasis willen greifen. Der Soziologe Niclas Luhmann nennt das
Wählervertrauen gegenüber den Gewählten einen systemnotwendigen
Mechanismus der Reduktion von sozialer Komplexität um der
Überlastungsvermeidung willen.
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Die elektorale Demokratie-Definition der Politikwissenschaft, die den
Wahlmechanismus in den Mittelpunkt rückt, lässt sich weiter ausdifferenzieren.
Demnach müssen die folgenden institutionellen Minimalvoraussetzungen erfüllt
sein:
§ Politische Entscheidungen sind ausschließlich von gewählten
Repräsentanten zu treffen, was verfassungsmäßig abzusichern ist.
§ Amtsinhaber werden in regelmäßig abzuhaltenden Wahlen bestimmt, bei
denen kein Druck auf das Wahlvolk ausgeübt werden darf. Nur dann sind
Wahlen fair und frei.
§ Die Bürger haben das Recht auf freie politische Meinungsäußerung und
Kritik an politischen Amtsträgern, ohne gravierende persönliche Nachteile
befürchten zu müssen.
§ Die Bürger haben das Recht auf ungehinderten Zugang zu alternativen,
unabhängigen Informationsquellen, die nicht von den Regierenden
kontrolliert werden.
§ Um ihre Rechte wahrzunehmen, können die Bürger unabhängige
Vereinigungen gründen, z. B. Parteien und Interessenverbände.
§ Jeder volljährige Bürger muss die Möglichkeit haben, ohne Beschränkungen
sein aktives oder passives Wahlrecht wahrzunehmen.
Die tatsächlich existierenden demokratischen Systeme sind eher als „Polyarchien“
zu bezeichnen, da sie den genannten Anforderungen nur graduell genügen.
Polyarchie meint die „Herrschaft der Vielen“, wobei damit ein unterschiedlich
großer Kreis von Personen gemeint sein kann, der aktiv an den politischen
Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen teilnimmt.
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Demokratie-Definitionen arbeiten häufig mit Zusätzen, um besondere
Spezifizierungen zu bezeichnen. Gebräuchlich ist die Bezeichnung
„Parteiendemokratie“ für die heutigen Demokratien westlich-atlantischen
Zuschnitts. Gemeint ist damit, dass Parteien die zentrale Vermittlungsinstanz
zwischen Bürger und Staat sind. Parteien bilden die Grundlage ideologischprogrammatischer Wahlalternativen und offerieren damit dem Wähler alternative
Politikoptionen.
Die Entwicklung der modernen pluralistischen Demokratie ist in Deutschland
lange Zeit durch ein romantisch-harmonistisches Politikverständnis behindert
worden, das die Parteien eher negativ betrachtet im Sinne von egoistischer
Verantwortungslosigkeit, Patronagepolitik und Selbstbedienungsmentalität.
Typologie der Herrschaftsformen zwischen Demokratie und Autokratie
Zwischen den Begriffspolen Demokratie und Autokratie gibt es eine breite
Grauzone von Herrschaftssystemen, die Elemente beider Grundformen
kombinieren. Solche hybriden (gemischten) Herrschaftsformen verbinden
o demokratische und liberal-repräsentative Wahlprozeduren mit autoritären
Regierungsformen oder
o parlamentarisch-pluralistische Elitenrekrutierung mit eingeschränkten Wahlund Partizipationsrechten für benachteiligte Bevölkerungsgruppen.
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Die Kombination von demokratischen und liberal-repräsentativen
Wahlprozeduren mit autoritären Regierungsformen kann darin bestehen, dass
zum einen unabhängige Parteien und formal freie Wahlen bestehen, zum anderen
aber genau diese Träger und Institutionen unabhängiger politischer Willensbildung
manipuliert werden. Systeme, die zwar Wahlen und Kandidatenwettbewerb
zulassen, aber den Wahlprozess systematisch zu manipulieren suchen, können als
kompetitiver Autoritarismus bezeichnet werden; d.h. autoritäres Regieren und
offener Austrag von Machtkonkurrenz sind hier kombiniert.
Zu den hybriden Formen, die demokratische und liberal-repräsentative
Wahlprozeduren mit autoritären Regierungsformen kombinieren, zählten auch
teilweise die konstitutionellen Monarchien des Deutschen Kaiserreichs von
1871. Diese Formen kombinierten teilweise die monarchisch legitimierte
Regierungsweise mit freien und fairen Wahlen zu parlamentarischen
Vertretungskörperschaften. Teils hatten die Wahlen besitzbürgerlich-liberalen
Charakter (auf der bundesstaatlichen und kommunalen Ebene), teils
demokratischen Charakter (Reichstag).
Ebenso zählen zu den hybriden Formen liberal-repräsentative parlamentarische
Herrschaftsordnungen, die vor allem im 19. Jahrhundert parlamentarischpluralistische Elitenrekrutierung mit eingeschränkten Wahl- und
Partizipationsrechten für minderbemittelte und benachteiligte
Bevölkerungsgruppen verbanden, das heißt: Sie verbanden eingeschränktes
Wahlrecht und eingeschränkte Mitwirkungsrechte mit pluralistischem
Meinungswettstreit und Parteienkonkurrenz.
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Autokratische Herrschaftsformen sind dadurch bestimmt, dass die politischen
Schlüsselämter nicht über freie und faire Wahlen besetzt werden. Wie bereits oben
beschrieben, zählt dazu ein Teil der hybriden Formen, aber mehr noch ein breites
Spektrum autoritärer und totalitärer Regierungsformen, die sich nach dem
Kriterium der Elitenrekrutierung und nach dem Grad pluralistischer
Konkurrenz klassifizieren lassen. Nach dem Kriterium der Elitenrekrutierung
lässt sich der Typ der Herrschaftsorganisation klar bestimmen, z. B. die
Militärjunta, das Einparteienregime oder die absolutistische oder konstitutionelle
Monarchie. Mit dem Grad pluralistischer Konkurrenz ist der Grad der politischer
Unterdrückung und Gleichschaltung gemeint.
Nach dem II. Weltkrieg etablierte sich in der Auseinandersetzung mit dem
Nationalsozialismus, Faschismus und Stalinismus der Begriff der „totalitären
Herrschaft“, der sich von anderen autokratischen Formen durch sechs miteinander
verbundene Merkmale abgrenzen lässt:
§ eine umfassende legitimitätsstiftende Ideologie, die für alle
gesellschaftlichen Sphären höchste Weltdeutungskompetenz beansprucht
§ Legitimation grenzenloser Gewaltanwendung und Verletzung von
Menschenrechten auf der Basis beanspruchter höchster
Weltdeutungskompetenz (Der erhabene, höchste Zweck heiligt jedes Mittel.)
§ eine alleinregierende, nicht abwählbare Partei
§ ein Monopol auf das Informationssystem der Gesellschaft
§ zentralistischer Zugriff auf die Wirtschaft
§ terroristische Geheimpolizei
§ hoher politischer Mobilisierungsgrad der Gesellschaft
Im Unterschied zu totalitärer Herrschaft zeichnen sich traditionale autoritäre
Regimes eher durch eine entpolitisierte Gesellschaft, begrenzten Pluralismus und
traditionelle Obrigkeitshörigkeit aus.
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