Liebe Gemeinde Sind Sie ein Kopfmensch? Oder doch eher ein Bauchmensch? Und wie steht es um Ihre Herzensanliegen? Ja, was brauchen Christinnen und Christen denn nun am meisten: Kopf, Bauch oder Herz – oder gar etwas anderes? Wenn ich nun Universitätstheologinnen fragen würde, wäre wohl der Kopf das Wichtigste: nüchternes theologisches Denken und klares, nachvollziehbares Argumentieren, darauf kommt es an. Dagegen antworteten Teilnehmer einer Meditationswoche vielleicht: selbstverständlich der Bauch; hier läuft „das Eigentliche“ ab, die lebenstragenden Erfahrungen sind diejenigen, die du tief in dir drinnen spürst, Widriges wie auch Wohliges, ganz unmittelbar. Sozialdiakone oder Diakonissen würden schliesslich nicht lange reden, sondern anpacken, wo es nötig ist, herzlich und praktisch. Natürlich, so platt ist die Wirklichkeit nicht, genauso wenig, wie es „reinen“ Kopfmenschen oder Bauchmenschen gibt. Im Grunde genommen ist jede dieser Schubladen viel zu schmal, als dass sich darin ein Leben einrichten liesse. Allerdings stehen Schubladen oft schnell parat, wenn es um den Glauben geht. Da haben wir dann einerseits die „Gefühligen“, „Frommen“ und auf der anderen Seite diejenigen, die „sophisticated“ daher reden und bis ins letzte Detail diskutieren müssen. Oder wiederum die Praktischen, die weder theologischen Debatten noch persönlicher Innerlichkeit etwas abgewinnen können. Wie steht es also mit dem Glauben? Ja, was von all dem ist dann eigentlich „wahrer Glaube“? Das fragt auch der Heidelberger Katechismus in seiner 21. Frage. Dort heisst es: Was ist wahrer Glaube? Wahrer Glaube ist nicht allein eine zuverlässige Erkenntnis, durch welche ich alles für wahr halte, was uns Gott in seinem Wort geoffenbart hat, sondern auch ein herzliches Vertrauen, welches der Heilige Geist durchs Evangelium in mir wirkt, dass nicht allein anderen, sondern auch mir Vergebung der Sünden, ewige Gerechtigkeit und Seligkeit 1 von Gott geschenkt ist, aus lauter Gnade, allein um des Verdienstes Christi willen. Da habe ich eine überraschende Antwort auf meine platten Alternativen: Wahrer Glaube ist ein fröhliches „Sowohl-als-auch-und-noch-dazu“! Denn so ist diese zweiteilige Antwort des Heidelberger Katechismus zu verstehen, die mir klar sagt, dass wahrer Glaube eine zuverlässige Erkenntnis und ein herzliches Vertrauen ist. Oder anders gesagt: „Kopf voran, und das mit totalem Bauchgefühl.“ Kopf voran, das heisst: Glaube schliesst Denken ein, ja evangelischer Glaube darf und will nicht stehen bleiben bei einem blossen „Für-wahrhalten“ von irgend etwas. Es geht um das eigene Erkennen, das eigene Nachsinnen und Nachdenken dessen, was uns in der Bibel entgegen kommt. Wir plappern weder theologische Lehrmeinungen noch kirchliche Dogmen nach, schliesslich sind sie häufig allzu menschliche Wortgespinste. Nein, der Dreh- und Angelpunkt des Glaubens ist Gottes Wort, die Bibel, das Evangelium. Hier findet sich Erkenntnis und Verlässlichkeit. Dies jedoch nicht in allgemeinen Wahrheiten, sondern in sehr persönlichen Zeugnissen, aus denen wiederum die eigene zuverlässige Erkenntnis gespeist werden kann. Vier Evangelien nebeneinander erzählen die Geschichte Jesu jeweils auf vier verschiedene Weisen. Die Unterschiede im Detail können interessant sein, manchmal völlig nebensächlich, manchmal höchst bedeutsam. Eine Person, für die Jesus ohnehin keine Bedeutung hat, steht ratlos vor der vierfältigen Vielfältigkeit, findet sich doch wenig „Eindeutiges“ oder „Exaktes“ im naturwissenschaftlichen Sinn. Wer jedoch die Evangelien im Licht des Glaubens liest, erfährt Vielseitiges über Jesus, mehr als ein historisch exakter Bericht jemals bieten könnte. Die Kernaussage „Jesus ist Gottes Sohn“ kann gar nicht wissenschaftlich exakt verifiziert oder falsifiziert werden. Sie ist einzig den Glaubenden eine zuverlässige Erkenntnis. Gerade deswegen – und das mag für manche eine Zumutung sein – entbindet mich Glauben nicht des Denkens, sondern fordert dazu heraus, regt mich an, „geht mir durch den Kopf“; d.h. Gottes Wort geht mir durch den Kopf – aber dadurch selbstverständlich und natürlich auch ins Herz! Kopf voran, heisst auch , dass etwas hinterher kommt. Glaube ist eben „nicht allein eine zuverlässige Erkenntnis […], sondern auch ein herzliches Vertrauen“. Wer glaubt, springt wirklich und denkt nicht nur über das Springen nach. Und dieses Springenkönnen ist das grösste Geschenk unseres Glaubens. Wie Kinder, die sich ohne gross zu überlegen, voll Vertrauen von einer Mauer herab in die Arme ihrer Mutter oder ihres Vaters fallen lassen, so können wir uns in den Glauben stürzen. 2 Die Rede vom „Urvertrauen“ ist uns aus der Entwicklungspsychologie bekannt. „Urvertrauen“ ist wichtig, damit ein Mensch gesund heranwachsen kann. Interessant ist, dass es keine biologische Gegebenheit oder eine Art Naturgesetz ist. Anders als beim Schreien nach Nahrung oder beim Saugreflex ist ein Baby nicht „automatisch“ mit Urvertrauen ausgestattet oder auf Vertrauen programmiert. Vertrauen entwickelt sich mit und durch ein Gegenüber, das stabil und treu ist, das liebt und vertraut, ganz ohne jedes eigene Zutun des Babys. Hier wird die Rede von Gott als Vater + Mutter ganz elementar: Gottes Liebe geht nicht nur unsrer Liebe voraus, sondern unserem Lieben-Können überhaupt. Auf Gott zu vertrauen, in herzlichem Vertrauen an Gott zu glauben, das kann ich nicht machen oder durch religiöse Übungen einüben – es ist und bleibt das grösste Geschenk, vom „Heiligen Geist durchs Evangelium in mir“ gewirkt. Dann aber ist das Springen einfach und leicht, dann kann ich aus tiefstem Herzen mit den Worten aus Psalm 18 bekennen: Mit dir erstürme ich Wälle, mit meinem Gott überspringe ich Mauern. (Zürcher Bibel, Ps 18,30) Dieses herzliche Vertrauen, die fiducia, gilt zu Recht als Herzstück des (evangelischen) Glaubens. Es rückt mir nämlich den Kopf zurecht. Der Kopf gehört zwar zum Glauben; die Inhalte freilich, die durchdacht und erkannt werden können, das Wort Gottes, die Offenbarung Gottes, dies alles wird in seinem eigentlichen Gehalt erst durch das Herz, durch den ganzen Mensch erfasst. Es gibt Dinge, die müssen schlicht verstanden, nicht „geglaubt“ werden – z.B. das Gesetz der Schwerkraft. Auch wenn ich nicht daran glaube: wenn ich mein Predigtmanuskript aus der Hand lasse, werden die Zettel nach unten fallen – auch wenn ich sie nach oben werfe. Das muss ich einfach verstehen oder zumindest akzeptieren, es ist keine Herzenssache. Ganz anders der Glaube: Hier gibt es auch einiges zu verstehen. Aber doch keine Naturgesetze oder andere Regelmässigkeiten; nein das rechte Verstehen hier, oder eben einfach das Glauben, das kann mir nicht erklärt werden und ich kann es nicht erklären. Jesus hat seine Jüngerinnen und Jünger nicht zu Wissenden gemacht, sondern zu Glaubenden. Glaube ist Gewissheit, weniger Inhalt, als eigentlich eine Haltung, die aus der Liebe Gottes in Jesus Christus wächst. Und Glaube ist beides zugleich: Erkenntnis und Vertrauen, zuverlässig und herzlich. Beim einen bin ich aktiv, beim anderen empfange ich: Zuverlässige Erkenntnis, durch die ICH Gottes Wort für wahr halte, und herzliches Vertrauen, das Gottes Geist IN MIR wirkt. Egal, ob Sie sich eher als Kopf- oder als Bauchmensch einschätzen: Solche Alternativen sind vor Gott nutzlos, denn hier gehts ums Ganze: mit Haut und Haar, Kopf und Bauch, Herz, Mund und Händen, von Kindesbeinen an. 3 Kopf voran, aber mit totalem Bauchgefühl heisst, dass es um jeden und jede einzelne von uns geht, ganz Ich, ganz Sie, ganz Frau, ganz Mann, ganz Mensch. Und prompt geht es auch in der 21. Frage um die einzelne, den einzelnen: Wenn es nämlich heisst, dass das herzliche Vertrauen darin besteht, zu glauben dass die Vergebung und Seligkeit nicht nur anderen, sondern gleichermassen mir gilt. Das einzelne Herz, der einzelne Kopf, der einzelne ganz und gar unverwechselbare Mensch ist von Gott geliebt. Eine Glaubensaussage ist nämlich keine allgemeine Auskunft, kein allgemeines Wissen über „den Menschen an sich“ oder eben über „die anderen“. Nein, es geht um mich, denn Glaube ist etwas höchst Persönliches. Persönlich und subjektiv werde ich aber nicht gegenüber anderen herabgesetzt, auch nicht isoliert, noch soll ich mich über sie erheben. Wenn der Heilige Geist mich berührt, schliesst dies nicht ab oder aus, sondern schliesst mich auf für die neben mir. Die Frauen und Männer, die Gott ebenfalls von Kindesbeinen an liebt – und ihnen auch ein herzliches Vertrauen schenken will. Mit diesem Seitenblick – gilt Gottes Vergebung nur den anderen? - kommt etwas zur Sprache, was für uns Heutige wesentlich zum Glauben gehört: Der Zweifel. Viel genereller als vor 450 Jahren treibt uns die Frage um, wie es denn steht mit dem Heil Gottes in unserer unheilen Welt. Ja wie es überhaupt steht mit der Frage nach Gott, hat diese noch Sinn in unserer oft so gottlosen Zeit? Und ist die Antwort „Gott“ die richtige? Zweifel können an mir nagen, meinen Kopf in Beschlag nehmen und sich durch ein unangenehmes Gefühl im Bauch bemerkbar machen. Dagegen ist niemand gefeit. So sagt man auch oftmals „Zweifel gehört eben zum Glauben“. Dagegen hat der Heidelberger Katechismus etwas erfrischend Unbedingtes, Unzweifelhaftes, Klares – das in unserer heutigen pluralen Gesellschaft fremd ist: Er kapriziert sich nicht auf den Zweifel, sondern konzentriert sich auf den Glauben. Und diese Klarheit empfinde ich als einen starken Zuspruch, auch im Zweifel: Gottes Wort wird uns zugesprochen, es zu erkennen und zu verstehen, wird uns zugetraut. Und es wird auf den Heiligen Geist vertraut, der seinerseits herzliches Vertrauen in uns wirken möge. Dank dieses Zuspruchs möchte ich mich mit Kopf und Herz und allem, was ich bin, fallen lassen in die Liebe Gottes, die höher ist als jede menschliche Vernunft und grossherziger als jedes menschliche Lieben. Amen. Dr. Christine Stark, Zürich Predigt am 3. Februar 2013 im Rahmen einer Predigtreihe zum Heidelberger Katechismus in der St. Katharinenkirche in Frankfurt am Main 4