9 Das klassische ideale Gas 9.1 Unterscheidbare Atome Gleichartige Atome (etwa zwei He-Atome) sind in der Quantenmechanik grundsätzlich nicht unterscheidbar. Wir wollen dies jedoch zunächst ignorieren, um in Abschnitt 9.1.4 den resultierenden Fehler aufzudecken und ihn in Abschnitt 9.2 zu korrigieren. 9.1.1 Mikrozustände und kanonische Zustandssumme Um die kanonische Zustandssumme (250) für ein ideales Gas aus strukturlosen Atomen (i) ohne Spin zu berechnen, setzen wir im Hamilton-Operator (214) ĥintr = w(r̂i , r̂j ) = 0, Ĥ(V, N) = N 2 X p̂ i i=1 2m + (V ) vext (r̂i ) . (270) Dann lassen sich die Eigenzustände aus Einteilchen-Wellenfunktionen φk (r) aufbauen. Diese sind die ebenen Wellen, deren k-Vektoren in dem würfelförmigen Volumen V = L3 periodischen Randbedingungen unterworfen sind, n o 1 k ∈ MV ≡ 2π φk (r) = √ ei k·r , (ν e +ν e +ν e ) ν , ν , ν ∈ Z . (271) x x y y z z x y z L V Für unterscheidbare Atome sind dann die Mikrozustände |σi, also die Eigenzustände von Ĥ(V, N), gegeben durch die Produktwellenfunktionen, N Y N Y 1 √ ei ki (σ)·ri . (272) Ψσ (r1 , ..., rN ) = φk1 (σ) (r1 ) · ... · φkN (σ) (rN ) = φki (σ) (ri ) = V i=1 i=1 ki (σ) ist der k-Vektor des i-ten (unterscheidbaren) Teilchens im N-Teilchenzustand |σi. Anwendung von Ĥ auf Ψσ liefert die zugehörigen N-Teilchen-Energieeigenwerte Eσ (V, N) = N X ~2 ki (σ)2 . 2m i=1 (273) Da die Teilchen (Atome) nicht miteinander wechselwirken sollen, ist Eσ (V, N) die Summe (σ) ~2 ki (σ)2 . Damit ergibt sich die kanonische Zustandssumme der Einteilchenenergien ǫi = 2m ! N X X Y 2 2 (274) Z(T, V, N) = e−Eσ (V,N )/kB T = e−~ ki (σ) /2mkB T . σ σ 61 i=1 9.1.2 Ausnutzung der Unterscheidbarkeit P Im Fall unterscheidbarer Atome ist die Summation σ ... über alle Mikrozustände |σi gleichbedeutend damit, den k-Vektor eines jeden der N Atome, jeweils unabhängig von den N − 1 übrigen k-Vektoren, alle möglichen Werte k ∈ MV durchlaufen zu lassen, ! N X X Y 2 2 e V, N) = Z(T, (275) ··· e−~ ki /2mkB T . k1 ∈MV kN ∈MV i=1 (Die Tilde soll betonen, daß wir die Atome zunächst als unterscheidbar betrachten.) Um diesen Ausdruck zu vereinfachen, beachten wir, daß für K Zahlen x1 , ..., xK gilt !N K X xk ≡ (x1 + ... + xK )N k=1 = K X k1 =1 ··· K X kN =1 xk1 · xk2 · ... · xkN ≡ K X k1 =1 ··· K X kN =1 N Y xki i=1 ! . (276) Durch Vergleich der rechten Seiten von Gl. (276) und Gl. (275) schließen wir e V, N) = z(T, V )N Z(T, (unterscheidbare Atome), wobei z(T, V ) die kanonische Zustandssumme für ein einzelnes Atom ist, X 2 2 e−~ k /2mkB T . z(T, V ) = (277) (278) k∈MV Bem.: Das Resultat (277) gilt immer dann, wenn ein System aus N gleichartigen, aber unterscheidbaren Subsystemen besteht, die nicht miteinander wechselwirken. 9.1.3 Thermische Wellenlänge und Zustandsintegral Ist die Ausdehnung L = V 1/3 groß im Vergleich zur thermischen Wellenlänge λ(T ) ≡ √ 2π~ 1.75 · 10−9 m p , = 2πmkB T m[u] · T [K] (279) so kann die Summe (278) mit hoher Genauigkeit durch ein Integral angenähert werden, 3 Z L 2 2 z(T, V ) ≈ d3 k e−~ k /2mkB T 2π Z ∞ V V 2 2 = . (280) dk (4πk 2 ) e−~ k /2mkB T = 3 (2π) 0 λ(T )3 62 Der Faktor (L/2π)3 gibt die Dichte an, mit der die diskreten Vektoren der Menge MV im dreidimensionalen kontinuierlichen k-Raum verteilt sind. 2 p Bem.: Mit der klassischen Hamiltonfunktion H(q, p) = 2m + v(q) gilt auch Z Z Z 3 3 d3 p −p2 /2mkB T d q d p −H(q,p)/kB T 3 −v(q)/kB T e = d q e e , (281) z(T, V ) = (2π~)3 (2π~)3 R denn wegen v(q) = 0 für q ∈ V und v(q) = ∞ für q ∈ / V ist d3 q e−v(q)/kB T = V . 9.1.4 Freie Energie und Zustandsgleichungen Mit Gl. (277) folgt für die freie Energie (250) und deren partielle Ableitungen: V , Fe(T, V, N) = −NkB T ln z(T, V ) = −NkB T ln λ(T )3 ! NkB T ∂ Fe = p(T, V, N) ≡ − , ∂V V T,N ! V 3 ∂ Fe e = NkB ln . + S(T, V, N) ≡ − ∂T λ(T )3 2 (282) (283) (284) V,N Mit Gl. (283) haben wir die thermische Zustandsgleichung (15) auf mikroskopischem Wege gewonnen. Für die kalorische Zustandsgleichung (74) finden wir 3 U(T, V, N) ≡ Fe + T Se = NkB T. 2 (285) Während Gln. (283) und (285) mit den empirischen Zustandsgleichungen übereinstimmen, ist jedoch die freie Energie (282), und mit ihr die Entropie (284), nicht extensiv. Ein Behälter mit einem chemisch reinen Gas (Moleküle nur einer Sorte) werde durch eine Wand in zwei gleiche Teile, je mit Volumen V und Teilchenzahl N, getrennt. Da die Moleküle nicht unterscheidbar sind, ist das Herausziehen der Trennwand ein quasistatisch reversibler Vorgang: Die Entropie des Gases darf nicht zunehmen. Gl. (284) liefert jedoch e 2V, 2N) − 2S(T, e V, N) ∆Se ≡ S(T, V 3 3 2V − 2NkB ln + + = 2NkB ln λ(T )3 2 λ(T )3 2 = 2NkB ln 2 > 0. (286) Dieser Fehler kommt daher, daß wir bei der Berechnung der Zustandssumme die Gasmoleküle als unterscheidbare Teilchen behandelt haben. 63 9.2 Korrektur: Nicht-Unterscheidbarkeit der Atome In der Quantentheorie sind gleichartige Teilchen grundsätzlich nicht unterscheidbar. Dann gehören in Gl. (275) zwei Summanden, deren N-Tupel [k1 , ..., kN ] bzw. [k′1 , ..., k′N ] lediglich Permutationen voneinander sind, in Gl. (274) zu ein- und demselben Mikrozustand |σi. Entsprechend ist im Fall nicht-unterscheidbarer Teilchen Gl. (275) für die kanonische Zustandssumme zu ersetzen durch7 Z (s=0) (T, V, N) = X ··· k1 ∈MV X kN ∈MV N Y 1 2 2 e−~ ki /2mkB T . g(k1 , ..., kN ) i=1 (287) Hier bezeichnet g(k1, ..., kN ) die Anzahl der Permutationen der N Vektoren k1 , ..., kN . Als Beispiel mit N = 7 betrachten wir das N-Tupel [k1 , ..., kN ] = [ka , ka , ka , kb , kc , kc , kd ], das nur die vier verschiedenen Vektoren ka , kb , kc und kd enthält, g(ka , ka , ka , kb , kc , kc , kd ) = N! 7! = = 420. Na ! Nb ! Nc ! Nd ! 3! 1! 2! 1! (288) Sind die Vektoren k1 , ..., kN paarweise voneinander verschieden, so ist g = N! Andernfalls, wie in Gl. (288), gilt g < N! Sind gar alle N Vektoren identisch, so gilt g = 1. Wir haben vorausgesetzt, daß beliebig viele Teilchen denselben k-Vektor “besetzen” können. Dies ist allerdings quantenmechanisch nur der Fall, wenn kein Pauli-Verbot gilt, also für Teilchen mit ganzzahliger Spinquantenzahl s = 0, 1, 2, ... Solche Teilchen heißen Bosonen. Außerdem haben wir vorausgesetzt, daß der Quantenzustand eines einzelnen Teilchens durch seinen k-Vektor vollständig charakterisiert ist, was nur im Fall s = 0 stimmt. Gl. (287) stellt also die quantenmechanisch korrekte kanonische Zustandssumme dar für ein ideales Gas aus spinlosen (s = 0) Bosonen, also für die meisten atomaren (He, Ar, etc.) und molekularen Gase (H2 , N2 , O2 , H2 O, etc.) bei Temperaturen T hinreichend weit oberhalb der Verflüssigung. (Bei tieferen Temperaturen ist in den genannten Gasen die Wechselwirkung zwischen den Molekülen nicht mehr vernachlässigbar; sie sind dann keine idealen Gase mehr.) Die Zustandssumme (287) faktorisiert leider nicht mehr in ein Produkt von EinteilchenZustandssummen. Bei hinreichend hohen Temperaturen T allerdings nimmt die Zahl 2 2 e−~ k /2mkB T mit wachsendem k2 nur langsam ab. Dann sind in der überwältigenden Mehrzahl aller N-Tupel [k1 , ..., kN ], die einen nennenswerten Beitrag zur Summe (287) liefern, alle k-Vektoren paarweise voneinander verschieden (g = N!), (s=0) Zkl 7 (T, V, N) ≈ N X Y 1 X z(T, V )N 2 2 ··· e−~ ki /2mkB T = . N! N! i=1 k1 ∈MV kN ∈MV Der Zusatz “(s = 0)” wird sogleich erläutert. 64 (289) Diese Korrektur gilt nur für nicht zu tiefe Temperaturen. Zkl ist der klassische Grenzfall der exakten quantenmechanischen Zustandssumme. Nun erhalten wir anstatt der Ausdrücke (282) und (284) tatsächlich extensive Zustandsfunktionen, sofern wir die Stirlingsche Näherung ln(N!) ≈ N ln N − N (N ≫ 1) einführen, 1 Fkl (T, V, N) = −kB T ln zN N! V = −kB T N − N ln N + N ln z = −NkB T 1 + ln , N λ(T )3 5 V . (290) + Skl (T, V, N) = NkB ln N λ(T )3 2 während die Resultate (283) und (285) von der Korrektur unberührt bleiben. Damit wird zwar auch die aus der Thermodynamik bekannte Entropieformel (??) reproduziert, allerdings ohne deren Diskrepanz mit dem III. Hauptsatz zu beheben: Die Entropie (290) strebt für T → 0 nicht gegen einen endlichen, von V unabhängigen Grenzwert, sondern divergiert logarithmisch. Dieses Problem läßt sich offenbar nur lösen, wenn die quantenmechanische Ununterscheidbarkeit gleichartiger Teilchen auch bei tiefen Temperaturen ohne Näherung (d.h.: nicht einfach durch einen Faktor 1/N!) berücksichtigt wird. Da hierdurch die Berechnung der kanonischen Zustandssumme sehr kompliziert würde, gehen wir zur großkanonischen Gesamtheit (Abschnitt 8.5.1) über. 9.3 Gasgemische Ein Behälter mit Volumen V , in thermischem Kontakt mit der Umgebung der Temperatur T , enthalte N1 bzw. N2 Gasmoleküle der Sorten 1 bzw. 2 (z.B. H2 und He), N1 NX 1 +N2 X p̂2i p̂2i (V ) (V ) Ĥ = + vext (r̂i ) + + vext (r̂i ) ≡ Ĥ1 + Ĥ2 . (291) 2m 2m 1 2 i=1 i=N +1 1 Wir sprechen von einem idealen Gasgemisch, da die Moleküle nicht wechselwirken. 9.3.1 Zustandssumme Die Eigenzustände |σi von Ĥ sind Produkte |σ1 i|σ2 i aus Eigenzuständen von Ĥ1 bzw. Ĥ2 , h i (2) Ĥ|σ1 i|σ2 i = Ĥ1 |σ1 i |σ2 i + |σ1 i Ĥ2 |σ2 i = Eσ(1) (V, N (V, N ) + E ) 1 2 |σ1 i|σ2 i. (292) σ2 1 Daher ist die kanonische Zustandssumme des Gemischs (mit β = kB1T ), X X X (2) (1) (2) (1) e−βEσ2 (V,N2 ) , (293) e−β[Eσ1 +Eσ2 ] = e−βEσ1 (V,N1 ) · Z(T, V, N1 , N2 ) = σ1 ,σ2 σ1 65 σ2 gleich dem Produkt der Zustandssummen der Einzelgase. Entsprechend setzen sich Freie Energie und Entropie des Gemischs additiv aus den Größen der Einzelgase zusammen, F (T, V, N1 , N2 ) = −kB T ln Z(T, V, N1 , N2 ) = F1 (T, V, N1 ) + F2 (T, V, N2 ), ∂ S(T, V, N1 , N2 ) = − F (T, V, N1 , N2 ) ∂T = S1 (T, V, N1 ) + S2 (T, V, N2 ) V V 5 5 + N k ln , (294) = N1 kB ln + + 2 B N1 λ1 (T )3 2 N2 λ2 (T )3 2 mit der thermischen Wellenlänge der i-ten Gassorte, λi (T ) = √ 9.3.2 2π~ 2πmi kB T (i = 1, 2). (295) Das Gibbssche Paradoxon Ein Behälter werde durch eine Wand in zwei gleichgroße Teile, je mit Volumen V , getrennt. Im Teil i ∈ {1, 2} befinden sich jeweils Ni Gasmoleküle der Sorte i. Dann ist die Entropie vor Herausziehen der Trennwand gegeben durch Gl. (294) Sini = S1 (T, V, N1 ) + S2 (T, V, N2 ). (296) Es spielt offenbar keine Rolle, ob sich beide Gase, wie in Abschnitt 9.3.1, im selben Behälter oder, wie jetzt, in zwei getrennten Behältern mit gleichen Volumina befinden. Nach Herausziehen der Trennwand verteilt sich jedes Gas auf das doppelte Volumen 2V , und die Entropie steigt an auf den Wert Sfin = S(T, 2V, N1 , N2 ) = Sini + (N1 + N2 )kB ln 2. (297) Könnte man den Unterschied der beiden Molekülsorten kontinuierlich gegen null gehen lassen, so müsste der Mischungsterm Sfin − Sini = (N1 + N2 )kB ln 2 (298) im Fall N1 = N2 abrupt verschwinden. Dieser Umstand heißt Gibbssches Paradoxon. 66