8 Das klassische ideale Gas 8.1 Unterscheidbare Atome Gleichartige Atome (etwa zwei He-Atome) sind in der Quantenmechanik grundsätzlich nicht unterscheidbar. Wir wollen dies jedoch zunächst ignorieren, um in Abschnitt 8.1.4 den resultierenden Fehler aufzudecken und ihn in Abschnitt 8.2 zu korrigieren. 8.1.1 Mikrozustände und kanonische Zustandssumme Um die kanonische Zustandssumme (225) für ein ideales Gas aus strukturlosen Atomen (i) ohne Spin zu berechnen, setzen wir im Hamilton-Operator (198) ĥintr = w(r̂i , r̂j ) = 0, Ĥ(V, N) = N 2 X p̂ i i=1 2m + (V ) vext (r̂i ) . (245) Dann lassen sich die Eigenzustände aus Einteilchen-Wellenfunktionen φk (r) aufbauen. Diese sind die ebenen Wellen, deren k-Vektoren in dem würfelförmigen Volumen V = L3 periodischen Randbedingungen unterworfen sind, n o 1 k ∈ MV ≡ 2π φk (r) = √ ei k·r , (ν e +ν e +ν e ) ν , ν , ν ∈ Z . (246) x x y y z z x y z L V Im Fall unterscheidbarer Atome sind dann die Mikrozustände |σi, also die Eigenzustände von Ĥ(V, N), gegeben durch die Produktwellenfunktionen, N Y N Y 1 √ ei ki (σ)·ri . (247) Ψσ (r1 , ..., rN ) = φk1 (σ) (r1 ) · ... · φkN (σ) (rN ) = φki (σ) (ri ) = V i=1 i=1 ki (σ) ist der k-Vektor des i-ten (unterscheidbaren) Teilchens im N-Teilchenzustand |σi. Anwendung von Ĥ auf Ψσ liefert die zugehörigen N-Teilchen-Energieeigenwerte Eσ (V, N) = N X ~2 ki (σ)2 . 2m i=1 (248) Da die Teilchen (Atome) nicht miteinander wechselwirken sollen, ist Eσ (V, N) die Summe (σ) ~2 ki (σ)2 . Damit ergibt sich die kanonische Zustandssumme der Einteilchenenergien ǫi = 2m Z(T, V, N) = X −Eσ (V,N )/kB T e = σ N X Y σ 57 i=1 e−~ 2k 2 i (σ) /2mkB T . (249) 8.1.2 Ausnutzung der Unterscheidbarkeit P Im Fall unterscheidbarer Atome ist die Summation σ ... über alle Mikrozustände |σi gleichbedeutend damit, den k-Vektor eines jeden der N Atome, jeweils unabhängig von den N − 1 übrigen k-Vektoren, alle möglichen Werte k ∈ MV durchlaufen zu lassen, !N N X X Y X 2 2 2 2 e V, N) = e−~ k /2mkB T . (250) e−~ ki /2mkB T ≡ ··· Z(T, k1 ∈MV kN ∈MV i=1 k∈MV (Die Tilde erinnert daran, daß wir die Atome hier zunächst als unterscheidbar betrachten.) Im letzten Schritt wurde der Limes K → ∞ einer elementaren Identität ausgenutzt, !N K K Y N K X X X xki = ··· xk . (251) k1 =1 kN =1 i=1 k=1 Zusammenfassend folgt also e V, N) = z(T, V )N Z(T, (unterscheidbare Atome), wobei z(T, V ) die kanonische Zustandssumme für ein einzelnes Atom ist, X 2 2 e−~ k /2mkB T . z(T, V ) = (252) (253) k∈MV Das Resultat (252) gilt immer dann, wenn ein System aus N gleichartigen, aber unterscheidbaren Subsystemen besteht, die nicht miteinander wechselwirken. 8.1.3 Thermische Wellenlänge und Zustandsintegral Ist die Ausdehnung L = V 1/3 groß im Vergleich zur thermischen Wellenlänge λ(T ) ≡ √ 2π~ , 2πmkB T (254) so kann die Summe (253) mit hoher Genauigkeit durch ein Integral angenähert werden, 3 Z L 2 2 d3 k e−~ k /2mkB T z(T, V ) = 2π Z ∞ V V 2 2 = . (255) dk (4πk 2 ) e−~ k /2mkB T = 3 (2π) 0 λ(T )3 Der Faktor (L/2π)3 gibt die Dichte an, mit der die diskreten Vektoren der Menge MV im dreidimensionalen kontinuierlichen k-Raum verteilt sind. 58 Bemerkung: z(T, V ) = Z d3 q d3 p −H(q,p)/kB T e , (2π~)3 (256) 2 p . Tatsächlich ist dies mit der klassischen Hamiltonfunktion H(q, p) = 2m Z Z 1 2 d3 q d3 p e−p /2mkB T . z(T, V ) = 3 (2π~) V | {z } (257) =V 8.1.4 Freie Energie und Zustandsgleichungen Mit Gl. (252) folgt für die freie Energie (225) und deren partielle Ableitungen: i . h 3 3/2 e (2π~) , (258) F (T, V, N) = −NkB T ln z(T, V ) = −NkB T ln V (2πmkB T ) ! ∂ Fe NkB T p(T, V, N) ≡ − = , (259) ∂V V T,N ! ∂ Fe e V, N) ≡ = 32 NkB − T1 Fe(T, V, N). S(T, − (260) ∂T V,N Mit Gl. (259) haben wir die thermische Zustandsgleichung (??) auf mikroskopischem Wege gewonnen. Für die kalorische Zustandsgleichung (??) finden wir U(T, V, N) ≡ Fe + T Se = 3 NkB T. 2 (261) Während Gln. (259) und (261) mit den empirischen Zustandsgleichungen übereinstimmen, ist jedoch die freie Energie (258), und mit ihr die Entropie (260), nicht extensiv. 8.2 Korrektur: Nicht-Unterscheidbarkeit der Atome Dieser Fehler kommt daher, daß wir die Gasatome als unterscheidbare Teilchen behandelt haben. In der Quantentheorie sind aber gleichartige Teilchen grundsätzlich nicht unterscheidbar. Dann gehören in Gl. (250) zwei Summanden, deren N-Tupel [k1 , ..., kN ] bzw. [k′1 , ..., k′N ] lediglich Permutationen voneinander sind, in Gl. (249) zu ein- und demselben Mikrozustand |σi. Entsprechend ist im Fall nicht-unterscheidbarer Teilchen Gl. (250) für die kanonische Zustandssumme zu ersetzen durch Z (s=0) (T, V, N) = X ··· k1 ∈MV X kN ∈MV N Y 1 2 2 e−~ ki /2mkB T . g(k1 , ..., kN ) i=1 59 (262) [Der Zusatz “(s = 0)” wird sogleich erläutert.] Hier bezeichnet g(k1 , ..., kN ) die Anzahl der Permutationen der N Vektoren k1 , ..., kN . Als Beispiel mit N = 7 betrachten wir das N-Tupel [k1 , ..., kN ] = [ka , ka , ka , kb , kc , kc , kd ], das nur die vier verschiedenen Vektoren ka , kb , kc und kd enthält, g(ka , ka , ka , kb , kc , kc , kd ) = N! 7! = = 420. Na ! Nb ! Nc ! Nd ! 3! 1! 2! 1! (263) Sind die Vektoren k1 , ..., kN paarweise voneinander verschieden, so ist g = N! Andernfalls, wie in Gl. (263), gilt g < N! Sind gar alle N Vektoren identisch, so gilt g = 1. Wir haben vorausgesetzt, daß beliebig viele Teilchen denselben k-Vektor “besetzen” können. Dies ist allerdings quantenmechanisch nur der Fall, wenn kein Pauli-Verbot gilt, also für Teilchen mit ganzzahliger Spinquantenzahl s = 0, 1, 2, ... Solche Teilchen heißen Bosonen. Außerdem haben wir vorausgesetzt, daß der Quantenzustand eines einzelnen Teilchens durch seinen k-Vektor vollständig charakterisiert ist, was nur im Fall s = 0 stimmt. Gl. (262) stellt also die quantenmechanisch korrekte kanonische Zustandssumme dar für ein ideales Gas aus spinlosen (s = 0) Bosonen, also für die meisten atomaren (He, Ar, etc.) und molekularen Gase (H2 , N2 , O2 , H2 O, etc.) bei Temperaturen T hinreichend weit oberhalb der Verflüssigung. (Bei tieferen Temperaturen ist in den genannten Gasen die Wechselwirkung zwischen den Molekülen nicht mehr vernachlässigbar; sie sind dann keine idealen Gase mehr.) Die Zustandssumme (262) faktorisiert leider nicht mehr in ein Produkt von EinteilchenZustandssummen. Bei hinreichend hohen Temperaturen T allerdings nimmt die Zahl 2 2 e−~ k /2mkB T mit wachsendem k2 nur langsam ab. Dann sind in der überwältigenden Mehrzahl aller N-Tupel [k1 , ..., kN ], die einen nennenswerten Beitrag zur Summe (262) liefern, alle k-Vektoren paarweise voneinander verschieden (g = N!), (s=0) Zkl (T, V, N) N X Y 1 X z(T, V )N 2 2 ≈ e−~ ki /2mkB T = ··· . N! k ∈M k ∈M i=1 N! 1 V N (264) V (s=0) Diese Korrektur gilt nur für nicht zu tiefe Temperaturen. Zkl ist der klassische Grenzfall der exakten quantenmechanischen Zustandssumme. Nun erhalten wir anstatt der Ausdrücke (258) und (260) tatsächlich extensive Zustandsfunktionen, sofern wir die Stirlingsche Näherung ln(N!) ≈ N ln N − N (N ≫ 1) einführen, n h io . 3 3/2 V Fkl (T, V, N) = −NkB T 1 + ln N (2πmkB T ) , (265) (2π~) h . io n V (2πmkB T )3/2 (2π~)3 , (266) Skl (T, V, N) = NkB 52 + ln N während die Resultate (259) und (261) von der Korrektur unberührt bleiben. Damit wird zwar auch die aus der Thermodynamik bekannte Entropieformel (??) reproduziert, allerdings ohne deren Diskrepanz mit dem III. Hauptsatz zu beheben: Die 60 Entropie (266) strebt für T → 0 nicht gegen einen endlichen, von V unabhängigen Grenzwert, sondern divergiert logarithmisch. Dieses Problem läßt sich offenbar nur lösen, wenn die quantenmechanische Ununterscheidbarkeit gleichartiger Teilchen auch bei tiefen Temperaturen ohne Näherung (d.h.: nicht einfach durch einen Faktor 1/N!) berücksichtigt wird. Da hierdurch die Berechnung der kanonischen Zustandssumme sehr kompliziert würde, gehen wir zur großkanonischen über. 61