Neue Z}rcer Zeitung FEUILLETON Montag, 17.09.2001 Nr.215 27 Der ethische Status von Embryonen Einige notwendige Differenzierungen Von Wilhelm Vossenkuhl Kein Thema der Ethik hat in jüngster Zeit so viel Dissens erzeugt wie die Frage, ob menschliche Embryonen für die Herstellung von Stammzellen verbraucht werden dürfen. Dies liegt nicht zuletzt an Unklarheiten, welche die Diskussion von Anfang an begleitet haben. Eine der Unklarheiten ist, welchen ethischen Status Embryonen haben. Die Suche nach Klarheit in dieser Frage sollte eine ethisch verantwortbare Entscheidung über den Wunsch nach Forschungen mit embryonalen Stammzellen ermöglichen. Personen haben einen anderen ethischen Status als Sachen. Dies liegt zum einen daran, dass Sachen nicht handeln können; deswegen haben sie auch keine Verantwortung. Personen sind Akteure, haben einen eigenen Willen, sind sich ihrer Rechte und Pflichten bewusst und können autonom entscheiden. Ihr ethischer Status ist durch diese Autonomie und die mit ihr verbundenen Freiheitsrechte gekennzeichnet. Das ist aber nur ein Aspekt ihres ethischen Status. Er würde nicht ausreichen, um Personen zu schützen, die nicht autonom entscheiden können, weil sie z. B. bewusstlos oder geistig behindert sind. Der aktiven Seite des ethischen Status steht eine passive gegenüber. Sie enthält ein ganzes Bündel von Ansprüchen, die wir in ihrer Gesamtheit als «Menschenwürde» bezeichnen. Einer dieser Ansprüche ist der Schutz des Lebens, ein weiterer das Verbot der Diskriminierung: Personen sollen gleichen und ungeteilten Schutz geniessen, unabhängig von ihren Fähigkeiten, ihrem Geschlecht, ihrer Herkunft, von Religion, Beruf und Alter. Ein dritter Anspruch aus der Menschenwürde ist das vor allem von Immanuel Kant betonte Verbot der Instrumentalisierung: Menschen sollen weder sich noch andere missbrauchen. Ich darf – wie Kant sagt – über den Menschen in meiner Person nicht «disponieren», ihn nicht «verstümmeln», «verderben» oder «töten». Wir können diese Ansprüche, das menschliche Leben zu schützen, Personen weder zu instrumentalisieren noch zu diskriminieren und ihre Ansprüche uneingeschränkt zu respektieren, als «Integrität» bezeichnen. Autonomie und Integrität Der ethische Status von Personen ist also durch ihre Autonomie und ihre Integrität bestimmt. Im Unterschied zu Sachen haben Personen ihren ethischen Status unmittelbar als Angehörige der Menschheit. Der ethische Status von Sachen ist dagegen indirekt bestimmt durch Wertzuschreibungen. Das Gleiche gilt für Tiere und Pflanzen. Eine allgemeine und direkt zuschreibbare Lebewesen- und Tierwürde oder eine Pflanzenwürde kennen wir nicht. Tiere und Pflanzen haben keine Autonomie, und ihre Integrität ist abhängig von ihrer Werthaftigkeit. Allerdings haben sowohl Sachen als auch Tiere und Pflanzen durchaus einen eigenen Wert, der Schutz verlangt und auch geschützt ist. Sie haben aber keinen eigenen, sondern lediglich einen abgeleiteten ethischen Status als Güter mit bestimmtem Wert. Auch Tiere sind aber wie Menschen leidensfähig und dürfen nicht gequält und missbraucht werden. Dennoch betrachten wir nur Personen als Angehörige der menschlichen Spezies als Akteure, und nur Akteuren können wir Autonomie zuschreiben. Wenn die Autonomie eingeschränkt ist, wenn Personen z. B. als Schwerkranke oder Behinderte lediglich potenzielle Akteure sind, geniessen sie dennoch Integrität. Es ist eine Integrität, die ihnen so gewährt wird, als ob sie Akteure wären. Sie müssen keine besonderen geistigen Fähigkeiten haben und nicht den Nachweis erbringen, dass sie einen eigenen Willen haben, ihre Rechte und Pflichten kennen und Verantwortung © 2001 Neue Zürcher Zeitung AG übernehmen können. Wer immer Mensch ist, geniesst die Solidarität aller Menschen – eine Art Gattungssolidarität. Der ethische Status von Schwerkranken oder Behinderten steht also nicht zur Disposition. Für die Frage nach dem ethischen Status von Embryonen ist der Unterschied zwischen einer direkten und einer indirekten Zuschreibung eines ethischen Status wichtig. Embryonen sind keine Akteure. Sie sind auch noch keine Menschen, sondern in einer genauer zu charakterisierenden Weise potenzielle Personen oder künftige Menschen. Wir können ihnen keine Autonomie und nicht ohne weiteres Integrität zuschreiben. Wir wollen ihnen aber auch nicht nur einen indirekten ethischen Status wie Sachen, Tieren oder Pflanzen zubilligen. Immerhin handelt es sich um künftige Menschen, also um ein Stadium der Entwicklung zum Menschen, das wir alle durchlaufen haben. Wir können an dieser Stelle wenigstens indirekt von Kants Konzept der Menschenwürde einen Schutz der Stufen der Menschwerdung ableiten. Denn Kant versteht die Menschenwürde als Verpflichtung, «die Menschheit als Zweck an sich» zu erhalten. Diese Verpflichtung kann ohne den Schutz der embryonalen Entwicklung des Menschen sicherlich nicht eingehalten werden. Die Frage ist allerdings, welchen Schutz Embryonen geniessen sollten. Denn Kant fordert ebenso nachdrücklich, dass die menschlichen «Anlagen zu grösserer Vollkommenheit» entwickelt werden sollten. Eine Befreiung von Krankheiten und lebensbedrohlichen Erbanlagen gehört wohl ebenso zu dieser Verpflichtung wie die individuelle Entwicklung anderer geistiger und körperlicher Fähigkeiten. Aus Kants Konzept der Menschenwürde lässt sich durchaus die Verpflichtung zur Erforschung aller Möglichkeiten, die menschlichen Erbanlagen zu vervollkommnen, ableiten. Für ein Verbot der Forschung mit embryonalen Stammzellen kann die Menschenwürde, wie Kant sie verstanden hat, nicht herangezogen werden. Die Frage ist nun, was es bedeutet, dass Embryonen künftige Menschen sind. Der ethische Status Bevor wir uns dieser Frage zuwenden, sollten wir uns einen Augenblick vergewissern, was wir unter einem «ethischen Status» verstehen und unter welchen Bedingungen wir jemandem oder einer Sache einen solchen Status zuschreiben können. Jede Status-Zuschreibung, sei sie ethisch, politisch oder rechtlich, setzt Normen voraus. Der politische Status einer Person ist etwa durch die Menschen- und Bürgerrechte gekennzeichnet, die sie zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem Land geniesst. Der rechtliche Status ist entsprechend durch die geltenden Gesetze des Landes bestimmt. Diese Status-Zuschreibungen sind gewöhnlich unstrittig, haben aber nicht immer den gleichen Umfang. Von Staat zu Staat variieren die Bürgerrechte und die Gesetze. Auch innerhalb eines Landes unterliegen der politische und der rechtliche Status von Menschen Veränderungen. Eine Person kann einen Teil ihrer Rechte, z. B. das passive Wahlrecht oder einen Teil ihrer Frei- heitsrechte, verwirken. Ihr rechtlicher und politischer Status ist dann eingeschränkt. Das bedeutet nicht, dass ein Teil der rechtlichen oder politischen Normen ausser Kraft gesetzt würde. Sie gelten nur nicht alle in gleicher Weise für jeden Einzelnen. Für ethische Normen gilt einerseits dasselbe, andererseits aber nicht. Wir können einen eingeschränkten ethischen Status für Personen nicht billigen, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen gelten ethische Grundnormen im Unterschied zu rechtlichen oder politischen Normen universal; zum andern hat kein Mensch die Lizenz, einem anderen den ethischen Status des Personseins abzusprechen. Aus diesen beiden Gründen kann niemand seine Autonomie und Integrität grundsätzlich verwirken. Das ist das eine; das andere ist, dass der rechtliche und politische Status von Personen Einfluss auf ihren ethischen Status hat. Ich spreche nicht von der Todesstrafe, die Personen ihrer Integrität beraubt. Der ethische Status von Kindern und Jugendlichen ist in unserer Rechtsprechung ein anderer als der von Erwachsenen. Kindern wird eine geringere Autonomie zugeschrieben; deshalb sind sie nicht im vollen Umfang verantwortlich für ihre Handlungen. Ihre Integrität gilt dagegen als besonders schützenswert. Recht und Ethik greifen ineinander und beeinflussen sich wechselseitig, dasselbe gilt für Politik und Ethik. Ein besonders markantes Beispiel dieses wechselseitigen Einflusses von Recht und Ethik kennen wir von der Regelung des Schwangerschaftsabbruchs in Deutschland. Die Integrität des Fötus wurde anerkannt, sein Leben ausdrücklich vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe als Rechtsgut gewürdigt. Die Autonomie der Schwangeren und deren Integrität wurden aber indirekt höher gewichtet. Der schwangeren Frau wurde das Recht zugebilligt, sich in einer ausweglos erscheinenden Zwangslage gegen die Schwangerschaft und damit gegen das Leben des Fötus zu entscheiden. Der Gesetzgeber und die Verfassungsrichter haben also den ethischen Status des Fötus einerseits geschützt, ihn andererseits aber der Entscheidung der Schwangeren überantwortet. Auf indirekte Weise wurde damit der ethische Status des werdenden menschlichen Lebens ähnlich mittelbar wie der ethische Status einer Sache von einer Wertzuschreibung abhängig gemacht. Das Verfassungsgericht hat zwar am widerrechtlichen Charakter der Tötung von Föten festgehalten, sie aber straffrei gestellt. Die Gesetzgebung hat in diesem Zusammenhang also indirekt den ethischen Status künftiger Menschen beeinflusst. Diese Beispiele zeigen, dass das werdende menschliche Leben und die Menschen in einem bestimmten Alter allein auf Grund der geltenden Gesetze und der Rechtsprechung einen eingeschränkten ethischen Status haben können. Bevor wir über ähnliche Einschränkungen für Embryonen nachdenken, sollten wir uns noch einmal daran erinnern, dass Menschen einen Anspruch auf einen uneingeschränkten ethischen Status haben. Die Frage, was es bedeute, dass Embryonen Blatt 1 Neue Z}rcer Zeitung künftige Menschen seien, ist wichtig. Ihre Beantwortung entscheidet darüber, in welcher Weise Embryonen eine «vorweggenommene» Integrität haben und ihnen damit Lebensschutz zu gewähren ist. Der deutsche Gesetzgeber hat im Embryonenschutzgesetz indirekt den ethischen Status von Embryonen bestimmt, indem er die Kernverschmelzung, also den Zeitpunkt der Befruchtung einer Ei- durch eine Samenzelle, als Beginn des menschlichen Lebens bezeichnete. Bei genauer Betrachtung ist diese Festlegung des ethischen Status unbegründet, zumindest aber voreilig. Die befruchtete Eizelle ist so wenig ein künftiger Mensch wie die unbefruchtete. Von einem künftigen Menschen oder einer potenziellen Person können wir erst dann sprechen, wenn wir die Gewissheit haben, dass die Entwicklung zum Menschen begonnen hat. Diese Gewissheit können wir unmittelbar nach der Kernverschmelzung nicht haben. Es ist weder gewährleistet, dass sich die befruchtete Eizelle einnistet, noch können wir anhand einer befruchteten Eizelle beurteilen, wie viele künftige Personen sich entwickeln und ob sie lebensfähig sind. Höchstens zehn Prozent aller befruchteten menschlichen Eizellen nisten sich in der Gebärmutter ein. Identität und Lebensfähigkeit des künftigen Menschen sind zumindest bis zur Nidation offen. Künftige Menschen schützen Die Zuschreibung eines ethischen Status setzt voraus, dass wir wissen, wem oder was wir diesen Status zuschreiben. Der Schutz der Integrität ist erst von der Phase der Entwicklung des menschlichen Lebens an sinnvoll, in der wir erkennen, dass die Entwicklung zu einer oder mehreren Personen begonnen hat. Schützenswert kann nur das © 2001 Neue Zürcher Zeitung AG FEUILLETON Leben sein, das tatsächlich geschützt werden kann. Es gilt der ethische Grundsatz, dass Sollen Können einschliesst. Nicht geschützt werden kann die Phase zwischen Befruchtung und Nidation im Mutterleib; ebenso wenig kann eine unbefruchtete, lediglich befruchtbare Eizelle geschützt werden. Also kann es auch keine Verpflichtung zum Schutz befruchteter Eizellen vor der Nidation geben. Geschützt werden können befruchtete Eizellen lediglich in vitro im Rahmen eines Prozesses der künstlichen Befruchtung; und dies tut das Embryonenschutzgesetz in hinreichendem Mass. In vivo kann die befruchtete Eizelle aber vor dem Zeitpunkt der Nidation nicht geschützt werden. Wer sollte zur Verantwortung gezogen werden, wenn sich eine befruchtete Eizelle nicht einnistet? Ein besonderes Problem sind in diesem Zusammenhang die Nidationshemmer. Sie nutzen die risikoreiche Entwicklungsphase vor der Nidation aus. Aus dieser Ausnutzung der natürlichen Risiken kann aber nicht geschlossen werden, dass diese Risiken vermieden werden könnten. Nidationshemmer sind übrigens rechtlich erlaubt. Das erinnert uns erneut an die ethische Doppelzüngigkeit der Gesetzgebung. Wenn wir dem künftigen Menschen vom Zeitpunkt der Nidation an den ethischen Status einer Person zuschreiben, bedeutet dies nicht, dass alles, was davor an Entwicklungen stattfindet, ungeschützt wäre. Die befruchtete Eizelle darf so wenig missbraucht werden wie das menschliche Erbgut allgemein. Wir schreiben dem Erbgut einen Wert zu, der sich an der Menschenwürde orientiert und sich aus unseren Vorstellungen von Gesundheit, Lebensqualität und Selbstbestimmung zusammensetzt. Ähnliche Wertzuschreibungen kennen wir aus der Organtransplantation. Montag, 17.09.2001 Nr.215 27 Wir schreiben einem Spenderorgan auf dieselbe Weise einen Wert relativ zu Gesundheit, Lebensqualität und Selbstbestimmung zu. Ein Organ, das auf Grund seiner Schädigung diese Wertzuschreibung nicht erlaubt, hat einen eingeschränkten Wert. Dasselbe gilt für das menschliche Erbgut. Die befruchtete Eizelle vor der Nidation sollte ethisch so eingeschätzt werden wie das menschliche Erbgut oder ein Spenderorgan. Sie sollte so wenig missbraucht oder instrumentalisiert werden wie ein Spenderorgan. Damit wird die Herstellung von befruchteten Eizellen für beliebige Zwecke ausgeschlossen. Der einzige erlaubte Zweck, befruchtete Eizellen zu verbrauchen, wäre analog zum Gebrauch von Spenderorganen zu bestimmen: zur Ermöglichung eines gesunden und selbstbestimmten Lebens künftiger oder bereits lebender Personen. Die mitmenschliche Solidarität darf sich nicht nur auf die Interessen künftiger Menschen beschränken, sondern muss auch die Interessen Schwerkranker und Behinderter berücksichtigen, die mit der Forschung an embryonalen Stammzellen die Hoffnung auf Heilung oder Linderung ihrer Leiden verbinden. Die Einsicht in den unterschiedlichen ethischen Status embryonaler Zellen vor und nach der Nidation ist kein Freibrief für eine Instrumentalisierung menschlichen Erbguts. Es ist eine solide ethische Grundlage für Forschungen mit embryonalen Zellen, die allein dem Ziel dienen, künftigen Menschen und jetzt lebenden Kranken die Möglichkeit zu geben, ein gutes und menschenwürdiges Leben zu führen. Wilhelm Vossenkuhl ist als Professor für Ludwig-Maximilians-Universität in München tätig. Philosophie an der Blatt 2