Zweifel am materialistischen Weltbild?

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Zweifel am materialistischen
Weltbild?
Paul Ablay war so freundlich,
uns einen Textbeitrag zum
materialistischen Weltbild zu
verfassen, in dem er auf die
Probeme
der
quantenphysikalischen Erkenntnis
eingeht (Bild: Phasendiagramm
für Quanten-Einstein-Gravitation
(QEG) in der Einstein-HilbertTrunkierung, wobei typische RGTrajektorien (blau) und die Separatrix (grün) gezeigt sind,
Andreas Nink, Wikimedia Commons – keine Angst, so kompliziert
wird's nicht):
„Ist der ‚primitive Materialismus‘ durch die Quantenphysik
widerlegt?“ oder „Gibt es tatsächlich ‚berechtigte Zweifel‘ am
Realismus?“ waren Fragen, die zuletzt in einer
Diskussionsrunde aufkamen. Fragen, die ich so bedeutsam finde,
dass ich näher auf sie eingehen möchte.
Ja, der ‚primitive Materialismus‘ bedarf der Revision durch
die moderne Physik, wenn man darunter die materialistische
Vorstellungen eines Demokrit (geb. um 460 v.d.Z.) versteht,
der „Atome“ als Grundsubstanz der Welt postuliert hat, die
sich unveränderlich und ohne innere Struktur in einem absolut
leeren Raum bewegen. Zwischenzeitlich findet sich die Lehre
vom Materialismus in recht unterschiedlichen Versionen wieder
– wie
dem Vulgärmaterialismus (einer ethischen Einstellung,
die den materiellen Besitz und den Konsum in den
Vordergrund stellt),
dem dialektischen Materialismus (der vor allem aus dem
Kampf der Gegensätze materielle Gesetzmäßigkeiten
herleitet) oder
dem Physikalismus (der radikal reduktionistisch
qualitativ Neues auf der Ebene der Biologie oder des
Sozialen auf physikalische Gesetze zurückführen möchte).
Die überzeugendste und modernste Form des Materialismus
repräsentiert in meinen Augen der von Mario Bunge und Martin
Mahner*)
vertretene emergentistische bzw. systemische
Materialismus, der in seiner Ontologie über die Physik
hinausgeht und Wirklichkeitswissenschaften wie Biologie,
Psychologie und Sozialwissenschaften mit einbindet, zu Ethik
und Religion klare Stellung bezieht und hohe Übereinstimmung
mit dem Evolutionärem Naturalismus hat.
Da ich vermute, dass dieser Ansatz nicht allzu bekannt ist,
nutze ich die Gelegenheit mit den Thesen des emergentistischen
Materialismus zu argumentieren. Dazu werde ich zuerst acht
seiner Thesen vorstellen, um darauf aufbauend auf die eingangs
gestellten Fragen zur Widerlegung des Materialismus und des
Zweifels an der Realität zurückzukommen:
1. Die Kernthese besagt, dass nur das Physische – nämlich
konkrete bzw. materielle Dinge –
real ist und
immateriellen bzw. ideellen Entitäten keine Realität
zugesprochen wird (Substanzmonismus). Dabei kann ein
konkretes Ding beobachtbar und greifbar sein, wie ein
Stein oder eine Frucht; es kann aber auch unbeobachtbar
und ungreifbar sein, wie ein Elektron, ein Magnetfeld,
eine Handelskette oder ein Ökosystem. Auch Sozialsysteme
wie Familie, Staat oder Religionsgemeinschaften sind
materieller Natur, da ihre Basiskomponenten – die
Organismen – materielle Systeme sind.
2. Konkrete Dinge sind Träger von Eigenschaften wie
elektrische Ladung, Geschwindigkeit, Masse, Energie,
Information,
Lebendigsein,
Neugierde,
Macht,
Kooperativität,
Rechtsverfassung
usw.
(Eigenschaftspluralismus).
3. Materielle Dinge sind nicht passiv, sie sind in steter
Veränderung begriffen . Das gilt sowohl für die
schlichten Photonen, die endlos herumschwirren bis sie
absorbiert oder gestreut werden als auch für die
Protonen, deren drei Quarks über Gluonen permanent
wechselwirken und ihre Eigenschaften austauschen.
Unablässige Veränderungen anderer Art zeigen komplexere
materielle Systeme wie Atome, Moleküle, Zellen,
Pflanzen, Tiere, soziale Systeme bis hin zu ganzen
Gesellschaften oder Galaxien.
4. Eine zentrale Eigenschaft materieller Dinge ist ihre
Veränderbarkeit
–
durch
quantitative
Eigenschaftsänderungen (bspw. in den Beträgen von Länge,
Temperatur oder Alter) oder qualitativ durch Erwerb oder
Verlust
von
Eigenschaften
(wie
Individualentwicklung eines Organismus
bei
oder
der
beim
Zusammenbau bzw. Demontage eines Automobils). Als
Resultat derartiger Veränderungen können sich dann
neuartige Eigenschaften einstellen. In solchem Falle
spricht man von Emergenz, wenn einem Ganzen (System)
eine Eigenschaft zukommt, die keiner seiner Teile
besitzt (wie Flüssigsein des Wassers und nicht seiner
einzelnen H2O-, H2- oder O2-Moleküle; Lebendigsein einer
Zelle und nicht ihrer einzelnen Chromosomen oder
Proteine;
Wahrnehmungsfähigkeit
eines
Zentralnervensystems und nicht seiner einzelnen Neuronen
oder Gliazellen oder Fahrtüchtigkeit eines Automobils
und nicht seines Motors oder Lenkrads).
5. Begrifflichen oder abstrakten Objekte, wie Zahlen oder
Theorien, kommt die Eigenschaft der Veränderbarkeit
nicht zu. Abstrakte Objekte (Konstrukte) sind demnach
kein Bestandteil der realen Welt. Die Existenz
begrifflicher Objekte besteht lediglich darin, dass sie
von einem rationalen Lebewesen gedacht werden können.
Ihre Existenz ist fiktiv („Wir tun so, als gäbe es
Mengen, Relationen, Funktionen, algebraische Strukturen,
Theorien usw.“) und als Gedankenprodukt zeitlich
begrenzt – ganz im Gegensatz zu Platons ewigem Reich der
Ideen.
6. Gesetze bzw. Gesetzmäßigkeiten sind objektive Muster im
Verhalten der Dinge, unabhängig davon, ob sie von einem
rationalen Wesen erkannt werden und in Gesetzesaussagen
formuliert werden (ontologischer Realismus).
7. Jedes materielle Ding hat die Eigenschaft, dass es sich
nur gesetzesmäßig und nicht beliebig verändern kann
(Dass es also überall in der Welt mit rechten Dingen
zugeht). Da gesetzmäßiges Verhalten eine Eigenschaft der
Dinge ist, existieren Gesetze nur zusammen mit bzw. in
den Dingen; nicht vor ihnen und nicht nach ihnen. So
mögen bspw. die Gesetze zur Supraleitfähigkeit von
Stoffen erst emergieren, wenn sich hinreichend tiefe
Temperaturen einstellen.
8. Als Gesetzesaussagen bzw. als Hypothesen sind Gesetze
Konstrukte und damit keine realen Eigenschaften von
Dingen. Es wird jedoch davon ausgegangen, dass
wissenschaftliche Gesetzesaussagen mehr oder weniger
gute (d.h. approximative) Repräsentationen objektiver
Gesetze in der Natur sind (erkenntnistheoretischer
Realismus).
Was nun die Infragestellung des Materialismus durch die
Quantenphysik anlangt, so ist dies auf den ersten Blick nicht
ersichtlich. Denn die Quantenphysik stellt neben der
Relativitätstheorie einen Grundpfeiler der modernen Physik
dar. Sie ist die empirisch am besten gestützte Theorie der
Physik. Gesetzesaussagen ihres mathematischen Formalismus
haben sich durch Messungen bis auf eine 10-dezimalstellige
Genauigkeit bestätigt. Wieso sollten also Aussagen der
Quantenphysik den Materialismus widerlegen? Tatsächlich sind
es weniger die Gesetzesaussagen der Quantentheorie in ihrer
mathematischen Formulierung, die den Zweifel nähren, sondern
ihre Interpretation im Lichte unterschiedlicher Philosophien.
Beispielsweise stand die Kopenhagener Deutung der
Quantenmechanik – die wohl bekannteste der Interpretationen –
unter dem Einfluss des damals vorherrschenden logischen
Positivismus, in dem u.a. die phänomenalistische Position
vertreten wurde, dass sich die Erkenntnis eines Gegenstandes
lediglich auf die bewussten Sinneseindrücke beziehen und nicht
auf das Ding an sich. Ihre Vertreter vermuteten deshalb, dass
der physikalische Gegenstand keine vom erkennenden Subjekt
oder Beobachter unabhängige Existenz habe. Es existiere nur
eine geschlossene Einheit, die sich aus dem Beobachter, seiner
Messapparatur und dem Gegenstand der Messung zusammensetzt.
Damit bliebe die Grenzziehung zwischen dem zu beobachteten
Objekt und der Messinstanz dem Beobachter überlassen. Wenn
also die Messeinheit den Beobachter mit einschlösse, hieße
das:
Ein
Quantenobjekt
wechselwirkt
mit
der
makrophysikalischen Messapparatur, die dieses Ereignis in
einem Messwert dokumentiert, von der Messanzeige gelangen im
Anschluss Photonen auf die Netzhaut des Beobachters, werden
dort über einen quantenmechanischen Prozess von Molekülen
absorbiert, worauf ein Nervenimpuls zum Zentralnervensystem
ausgelöst wird, um schließlich im Bewusstsein des Beobachters
– dessen Zustand wiederum durch biologische, psychische und
soziale Einflüsse geprägt ist – eine spezifische Wahrnehmung
hervorzurufen.
Konsequenterweise müssten all die
Einflussgrößen auf diesem Wege in den mathematischen
Formalismus mit einfließen, um auch das Verhalten des
Beobachters beschreiben zu können. Das hieße die
Heisenberg'sche Unschärferelation oder die SchrödingerGleichung müsste ergänzt werden um Variablen mit biologischen,
psychologischen und sozialen Inhalt! Da dem nicht so ist,
folgert Bunge, dass „die Quantenmechanik eine strikt
physikalische Theorie ist und sie völlig in Einklang mit dem
Materialismus steht: Sie liefert keine subjektivistischen,
antirealistischen oder antimaterialistischen Argumente.“
Auch wenn für diesen Deutungsfall der Zweifel am Materialismus
ausgeräumt scheint, so bleibt die Berechtigung zum Zweifel ein
elementares Moment im modernen Materialismus. Denn
entsprechend der achten These haben alle Gesetzesaussagen
lediglich hypothetischen Charakter, die also jederzeit auch
revidiert werden können. Umso mehr gilt dies natürlich für
weiterführende Interpretationen. Am Beispiel der Fern- und
Nahwirkung sei auf eine aktuelle Diskussion hingewiesen, die
die wiederholte Revision eines bedeutsamen physikalischen
Konzepts zum Inhalt hat: Zu Newtons Zeiten stand die
Fernwirkung für ein allgemein akzeptiertes Modell, das der
Gravitationskraft eine Wirkung fern von ihrer Ursache und ohne
Zeitverzögerung zusprach. Dagegen forderten Maxwells
Gleichungen zum Elektromagnetismus sowie Einsteins
Relativitätstheorie zwei Jahrhunderte später eine auf die
Lichtgeschwindigkeit
begrenzte
Wirkungsausbreitung
(Nahwirkung), was dann allgemeiner Konsens wurde. In den
letzten Jahrzehnten scheinen nun weiterführende theoretische
Überlegungen (Bell) und empirische Befunde (Zeilinger) das
Nahwirkungsmodell wiederum in Frage zu stellen, indem sie
aufzeigen, dass quantenverschränkte Teilchen über große
räumliche Entfernungen augenblicklich und ohne materiellen
Zwischenträger, der zur Informationsübertragung Voraussetzung
ist miteinander wechselwirken.
Was auch immer aus dem „Gärungsprozess“ der wissenschaftlichen
Auseinandersetzung über die Stimmigkeit zwischen der
Relativitätstheorie und der quantenmechanischen Nichtlokalität
am Ende herauskommen wird, so erwarte ich ein Ergebnis, das
eine weitere faszinierende Eigenschaft unserer Grundsubstanz,
der Materie, offenbaren wird und damit das Fenster zur
ontologischen Realität ein Stückchen weiter öffnet. Es ist
beruhigend zu wissen, dass derartige Korrekturen in den
Gesetzesaussagen von Einzeldisziplinen an den Pfeilern des
Materialismus nicht rütteln können. Es sei denn, eines Tages
gelänge der überprüfbare Nachweis, dass immaterielle Objekte
wie Zahlen, Götter oder Feen existierten. Insbesondere würde
dann interessieren, wie die Interaktion zwischen einem
immateriellen und einem materiellen Objekt aussehen könnte.
Bekanntlich braucht es ja für jede Art von Wechselwirkung eine
Energieübertragung und eine solche wurde bislang weder von
einer mathematischen Zahl noch von einem Geist oder von einem
Gott in einem der vielen vermeintlichen „Zwiegesprächen“ mit
den Menschen nachgewiesen.
Was hat es nun, um auf die zweite Eingangsfrage zu kommen, mit
dem ‚berechtigten Zweifel‘ am Realismus auf sich? Allgemein
gesehen ist der Zweifel eine Eigenschaft, die gut zum
Materialismus passt, denn er ist oft Auslöser zum Ergänzen
oder Korrigieren von vorhandenem Wissen und trägt so zu einem
besseren Verständnis der materiellen Welt bei. Doch auf
welcher Realität gründet der Realismus? Für den Materialisten
ist der ontologische Realismus (Es existiert eine Welt
unabhängig von unserer Vorstellung oder unserer Existenz)
eine notwendige doch nicht hinreichende Annahme, denn dieses
Realitätsverständnis beanspruchen auch Immaterialisten, für
die die immateriellen Objekte wie die platonischen Ideen real
sind. Immaterialisten verstehen sich demnach auch als
Realisten. Der Materialist geht deshalb einen Schritt weiter
und postuliert: Ein Objekt ist genau dann real, wenn es
materiell ist (siehe 1. These). Definiert man nun, wie Bunge
und Mahner es tun, „Realität“ als die „Menge aller realen
Objekte“, so wird „real“ und „materiell“ gleichgesetzt und es
gilt:
Realität = Materie
Wenn also das zentrale Postulat des modernen Materialismus
wahr ist, so ist sein Gegenstand die Realität und ich wüsste
keine guten Gründe, die dagegen sprechen.
*) Mario Bunge, Martin Mahner „Über die Natur der Dinge“, S.
Hirzel Verlag 2004
Dr. Paul Ablay ist Physiker und Wirtschaftswissenschaftler.
Interessant zum Thema ist auch Anton Zeilinger: Einsteins Spuk
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