Handbuch der Gesundheitspsychologie und Medizinischen Psychologie Handbuch der P sychologie hrsg. von J. Bengel, H.-W. Bierhoff, V. Brandstätter, M. Eid, D. Frey, P. A. Frensch, J. Funke, S. Gauggel, M. Hasselhorn, M. Herrmann, H. Holling, M. Jerusalem, J. H. Otto, F. Petermann, T. Rammsayer, H. Reinecker, B. Schmitz, W. Schneider, H. Schuler, Kh. Sonntag, M. Steller, R. Volbert und H. Weber. Band 12 Handbuch der Gesundheitspsychologie und Medizinischen Psychologie hrsg. von Jürgen Bengel und Matthias Jerusalem weitere Bände: Handbuch der Allgemeinen Psychologie: Kognition hrsg. von Joachim Funke und Peter A. Frensch Handbuch der Allgemeinen Psychologie: Motivation und Emotion hrsg. von Veronika Brandstätter und Jürgen H. Otto Handbuch der Entwicklungspsychologie hrsg. von Marcus Hasselhorn und Wolfgang Schneider Handbuch der Sozialpsychologie und Kommunikationspsychologie hrsg. von Hans-Werner Bierhoff und Dieter Frey Handbuch der Persönlichkeitspsychologie und Differentiellen Psychologie hrsg. von Hannelore Weber und Thomas Rammsayer Handbuch der Neuro- und Biopsychologie hrsg. von Siegfried Gauggel und Manfred Herrmann Handbuch Statistik, Methoden und Evaluation hrsg. von Heinz Holling und Bernhard Schmitz Handbuch der Psychologischen Diagnostik hrsg. von Franz Petermann und Michael Eid Handbuch der Klinischen Psychologie und Psychotherapie hrsg. von Franz Petermann und Hans Reinecker Handbuch der Arbeits- und Organisationspsychologie hrsg. von Heinz Schuler und Karlheinz Sonntag Handbuch der Pädagogischen Psychologie hrsg. von Wolfgang Schneider und Marcus Hasselhorn Handbuch der Rechtspsychologie hrsg. von Renate Volbert und Max Steller H a n d b u c h d e r P syc h o lo g i e Handbuch der Gesundheitspsychologie und Medizinischen Psychologie herausgegeben von Jürgen Bengel und Matthias Jerusalem Göttingen · Bern · Wien · Paris · Oxford · Prag · Toronto Cambridge, MA · Amsterdam · Kopenhagen · STOCKHOLM Prof. Dr. Dr. Jürgen Bengel, geb. 1955. 1974-1979 Studium der Psychologie in Mannheim, Hamburg, Freiburg, 1979-1986 Studium der Medizin in Freiburg. 1986 und 1987 Promotionen. 1992 Habilitation. 1992-1993 Heisenberg-Stipendiat der DFG. 1993-1994 Professur am Institut für Rehabilitationswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 1994 Professur für Rehabilitationspsychologie und Psychotherapie am Institut für Psychologie, Universität Freiburg. Leitung des Freiburger Ausbildungsinstituts für Verhaltenstherapie und der Ambulanz am Institut für Psychologie. Prof. Dr. Matthias Jerusalem, geb. 1952. 1973-1978 Studium der Psychologie in Aachen. 19781982 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Instituten für Psychologie und Erziehungswissenschaften der RWTH Aachen. 1982-1986 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Psychologie der Freien Universität Berlin. 1983 Promotion. 1987-1989 Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Psychologie der Freien Universität Berlin. 1989 Habilitation. 1989-1992 Vertretungsprofessuren an der Universität Frankfurt/Main, der Freien Universität Berlin und der Universität Kiel. Seit 1992 Inhaber des Lehrstuhls für Pädagogische Psychologie und Gesundheitspsychologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2009 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG Göttingen • Bern • Wien • Paris • Oxford • Prag • Toronto Cambridge, MA • Amsterdam • Kopenhagen • Stockholm Rohnsweg 25, 37085 Göttingen http://www.hogrefe.de Aktuelle Informationen • Weitere Titel zum Thema • Ergänzende Materialien Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Grafik-Design Fischer, Weimar Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Printed in Germany Auf säurefreiem Papier gedruckt ISBN 978-3-8017-1843-5 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I 11 Grundlagen Körperliche Prozesse und Gesundheit Bernadette von Dawans, Clemens Kirschbaum & Markus Heinrichs . . . . . 15 Verhalten und Gesundheit Tabea Reuter & Ralf Schwarzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Gesundheit: körperliche, psychische und soziale Dimensionen Toni Faltermaier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 II Einflussfaktoren auf Gesundheit und Krankheit Selbstwirksamkeitserwartung Cynthia Hohmann & Ralf Schwarzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Optimismus Jürgen Hoyer & Philipp Yorck Herzberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Erwartungen und Überzeugungen Hannelore Weber & Christel Salewski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 Soziale Unterstützung Thomas Klauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Positive und negative Affektivität Heike Eschenbeck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Ziele Christel Salewski & Hannelore Weber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Selbstregulation des Gesundheitsverhaltens Silke Burkert & Falko F. Sniehotta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Defensive und vigilante Informationsverarbeitung Carl-Walter Kohlmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 6 Inhalt Risikowahrnehmung und Risikokommunikation Britta Renner, Harald Schupp & Ralf Schmälzle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Symptomwahrnehmung und Hilfesuchverhalten Christel Salewski & Thomas Klauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Gender Monika Sieverding . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Stress Babette Renneberg, Jana Erken & Gert Kaluza . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Stigma und Stigmabewältigung Heinrich Tröster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Berufliche Bedingungen Gisela Mohr & Thomas Rigotti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Besondere Lebensabschnitte Arnold Lohaus & Johannes Klein-Heßling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 III Gesundheitsförderung und Prävention Ressourcenförderung und Empowerment Matthias Jerusalem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Alkoholkonsum Jennis Freyer-Adam & Ulrich John . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Körperliche Aktivität Ralf Brand & Wolfgang Schlicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 Ernährung und Gewichtskontrolle Petra Warschburger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Rauchen Birte Dohnke & Stefan Keller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Konsum illegaler Drogen Karina Weichold & Rainer K. Silbereisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Inhalt 7 Sexualverhalten Hans Anand Pant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 Aggression und Gewalt Ulrike Petermann & Danielle Reuber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Verhalten im Straßenverkehr Heidi Ittner & Volker Linneweber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Kritische Sonnenexposition und Sonnenschutzverhalten Michael Eid & Natalie Mallach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Stressbewältigung Gert Kaluza & Babette Renneberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Zahnhygiene Amelie U. Wiedemann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Schlaf Hartmut Schulz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Freizeitverhalten Henning Allmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Exzessive Mediennutzung Sabine Meixner & Matthias Jerusalem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 Prävention im Kindes- und Jugendalter Franz Petermann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Prävention im Alter Susanne Wurm & Clemens Tesch-Römer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Prävention in Familie und Partnerschaft Marcel Schaer & Guy Bodenmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 Prävention in Schulen Waldemar Mittag & Sonja Bieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Prävention in Organisationen Dieter Zapf & Sandra Ohly . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 8 IV Inhalt Diagnostik, Behandlung und Rehabilitation Krankheitsverarbeitung Fritz A. Muthny & Jürgen Bengel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Medizinische Entscheidungsfindung, Therapeut-Patienten-Beziehung und Patientenbeteiligung Andreas Loh & Martin Härter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 Behandlungsmotivation Harald Baumeister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 Psychologische Diagnostik bei körperlichen Erkrankungen Christiane Hermann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Psychologische Behandlung bei körperlichen Erkrankungen Hermann Faller, Andrea Reusch & Heiner Vogel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Strukturelle Rahmenbedingungen der Gesundheitsversorgung in der Rehabilitation, im Liaisondienst und im Bereich der Selbsthilfe Erik Farin & Barbara Stein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 Belastungs- und Anpassungsstörungen Katharina Becker & Jürgen Bengel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 Tumorerkrankungen Joachim Weis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 Chronischer Schmerz Birgit Kröner-Herwig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 Herz-Kreislauf-Erkrankungen Oskar Mittag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 Erkrankungen der Atmungsorgane Bernhard Dahme & Thomas Ritz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 Gastroenterologische Erkrankungen Frauke Musial, Kyung-Eun Choi & Paul Enck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 HIV und AIDS Jochen Drewes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 Inhalt V 9 Komplexe Themengebiete und Arbeitsfelder Lebensqualität: Die Bedeutung von Selektion, Optimierung und Kompensation Alexandra M. Freund & Jochen P. Ziegelmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 Healthismus und Wellness Harry Schröder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484 Arbeit und Arbeitslosigkeit, Mitarbeiterzufriedenheit und Burnout Heinz Schüpbach & Andreas Krause . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 Migration, Kultur, Gesundheit Jan Kizilhan & Isaac Bermejo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 Humangenetische Beratung Katharina Kufner, Gerhard Wolff & Jürgen Barth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519 Reproduktionsmedizin Bernhard Strauß & Susanne Goldschmidt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 Medizinische Eingriffe und Operationsstress Claus Vögele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 540 Transplantationspsychologie Karl-Heinz Schulz, Sylvia Kröncke & Uwe Koch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551 Sterben, Tod und Verlusterleben Joachim Wittkowski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 564 Die Autorinnen und Autoren des Bandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575 Autorenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 609 Vorwort Menschliches Erleben und Verhalten nimmt im Kontext von gesundheitlichen Belastungen und Risiken, deren Vermeidung bzw. Bewältigung sowie von Entstehung und Verlauf von Erkrankungen und Behinderungen einen zentralen Stellenwert ein. Dabei sind beispielsweise Themen wie der Zusammenhang zwischen Persönlichkeit, Verhalten und Gesundheit bzw. Krankheit, zwischen Schutzfaktoren der Gesundheit und Stresserleben bzw. Stressbewältigung, aber auch zwischen Krankheitsverarbeitung, Behandlungsmotivation und Therapeut-Patient-Beziehung zu untersuchen. Als theoretische Orientierung dient dabei das biopsychosoziale Modell. Die Gesundheitspsychologie hat die Bedeutung menschlichen Erlebens und Verhaltens für Gesundheit und Krankheit zum Gegenstand. Von Beginn an hat sie auch die Bedeutung psychologischer Aspekte in der Prävention und Gesundheitsförderung betont. Die Gesundheitspsychologie hat sich als Disziplin im Fächerkanon der akademischen Psychologie entwickelt. In Deutschland ist sie in der Fachgruppe Gesundheitspsychologie innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs) organisiert. In ihr begegnen sich Vertreter der Allgemeinen Psychologie, der Pädagogischen Psychologie, der Sozialpsychologie, der Entwicklungspsychologie, der Biologischen Psychologie, der Differentiellen Psychologie, der Klinischen Psychologie und der Arbeits- und Organisationspsychologie. Die Bedeutung psychologischer Fragestellungen für das Gesundheitswesen und die Ausbildung von Ärzten wurde in Deutschland 1970 mit der Verankerung der Medizinischen Psychologie im Studium der Medizin dokumentiert. Das Fach vereinigt in der Fachgesellschaft Deutsche Gesellschaft für Medizinische Psychologie (DGMP) Psychologen und Mediziner. Die Medizinische Psychologie kooperiert einerseits eng mit den Disziplinen der Medizin und trägt beispielsweise zur Psychoonkologie und Psychokardiologie bei. Daneben hält sie intensiven Kontakt mit der Klinischen Psychologie, der Psychosomatik, der Psychiatrie und der Medizinischen Soziologie. Die Entstehung der Disziplinen der Gesundheitspsychologie und Medizinischen Psychologie dokumentiert die Notwendigkeit, psychologische Konzepte und Ergebnisse für die Gesundheitsversorgung fruchtbar zu machen. Beide Disziplinen tragen zur Prävention und Gesundheitsförderung, zur Krankheitsbewältigung, zur Therapie sowie zur Rehabilitation und Nachsorge bei. Das Wissen dieser Disziplinen ist in der Regel in getrennten Lehr- und Handbüchern niedergelegt, obwohl die Themenbereiche sich überschneiden. Daher sollen in diesem Handbuch wesentliche Themen dieser Fächer in einem Band zusammen dargestellt werden. 12 Vorwort Konzepte und Befunde aus diesen Disziplinen sind für viele Zielgruppen relevant: nicht nur für Psychologen in verschiedenen Arbeitsfeldern, sondern auch für Ärzte und alle anderen Berufsgruppen in der Gesundheitsversorgung. Dieses Handbuch ist somit gedacht als übersichtliches und gut verständliches Nachschlagewerk für Angehörige verschiedener Berufsgruppen und Nachbardisziplinen der Psychologie, für Studierende der Psychologie in unterschiedlichen Studienabschnitten sowie für alle darüber hinaus an diesem Fachgebiet Interessierten. Das vorliegende Handbuch informiert anhand ausgewählter Schlüsselbegriffe über Grundlagen, Konzepte und Anwendungsbereiche der Gesundheitspsychologie und der Medizinischen Psychologie. Die Inhalte sind in fünf Bereiche gegliedert. Zunächst werden physiologische, verhaltensbezogene und psychologische Grundlagen beider Fächer dargestellt (Teil I). Danach geht es um Einflussfaktoren auf Gesundheit und Krankheit, beispielsweise um verschiedene Protektiv- und Vulnerabilitätsfaktoren (Teil II). Der dritte Teil bezieht sich auf Ansätze der Gesundheitsförderung und Prävention bei verschiedenen Schutz- und Risikoverhaltensweisen (z. B. Stressbewältigung, Alkoholkonsum, Sexualverhalten) sowie in verschiedenen Lebensabschnitten und gesellschaftlichen Kontexten wie Familie, Schule und Betrieb (Teil III). Aspekte der psychologischen Diagnostik, Behandlung und Rehabilitation bei verschiedenen körperlichen Erkrankungen (z. B. Tumorerkrankungen, AIDS) werden im vierten Teil des Buches beschrieben (Teil IV). Abschließend werden komplexe Themengebiete und Arbeitsfelder der Medizinischen und Gesundheitspsychologie (u. a. Migration, Reproduktionsmedizin, Transplantationsmedizin) dargestellt (Teil V). Besonderer Wert wurde darauf gelegt, die ausgewählten Schlüsselbegriffe für Berufsgruppen aus der Gesundheitsversorgung verständlich aufzubereiten. Dem Leser werden weiterführende Literaturhinweise vorgeschlagen und Verknüpfungen innerhalb des Buches sowie zu anderen Teilgebieten der Psychologie aufgezeigt, wie beispielsweise der Klinischen Psychologie und Psychotherapie oder der Neuro- und Biopsychologie, die in den anderen 12 Bänden der Reihe „Handbuch der Psychologie“ behandelt werden. Dieses Handbuch konnte nur Dank des Einsatzes vieler Personen realisiert werden. Herzlicher Dank gilt unseren Autorinnen und Autoren, die sich mit den didaktischen und zeitlichen Vorgaben der Reihe arrangieren mussten. Für die umsichtige und kluge redaktionelle Arbeit danken wir Frau Dipl.-Psych. Katharina Becker. Wir danken außerdem unserer Ansprechpartnerin im Verlag, Frau Susanne Weidinger, die das Projekt dieses Handbuchs von Beginn an kompetent unterstützt hat. Freiburg und Berlin, im Februar 2009 Jürgen Bengel Matthias Jerusalem I Grundlagen Körperliche Prozesse und Gesundheit Physiological Processes and Health Bernadette von Dawans, Clemens Kirschbaum & Markus Heinrichs 1 Einleitung Der enorme Wissenszuwachs in den Bio- und Neurowissenschaften hat in den letzten Jahren dazu geführt, dass sowohl bei der Beurteilung von Ursachen (Ätiologie) sowie Entstehung und Verlauf (Pathogenese) unterschiedlicher Störungsbilder ein Gesamtverständnis der biopsychosozialen Zusammenhänge unverzichtbar geworden ist. Eine verstärkte Einbeziehung biologischer Mechanismen hat unmittelbare Implikationen für die Weiterentwicklung vorhandener sowie die Prüfung neuer Ansätze der Diagnostik, Prävention und Therapie im Kontext der Gesundheitspsychologie und Medizinischen Psychologie. Im vorliegenden Kapitel sollen die biologischen Grundlagen körperlicher und psychischer Prozesse beschrieben und deren Bedeutung für die Erhaltung von Gesundheit sowie die Entstehung von Krankheit an klinisch relevanten Beispielen erläutert werden. Das zentrale Anliegen dieses Kapitels ist vor allem ein integratives Verständnis der einzelnen Subsysteme (Zentrales Nervensystem, Autonomes Nervensystem, Hormonsystem und Immunsystem), welche sich im lebenden Organismus kaum als autonome Teilbereiche voneinander abgrenzen lassen. Ein weitergehender Überblick über die neurobiologischen Grundlagen des Verhaltens findet sich bei Kirschbaum und Heinrichs (2006). Die im Kontext der Gesundheitspsychologie, Medizinischen Psychologie und Verhaltensmedizin relevanten peripherphysiologischen, zentralnervösen und psychoneurendokrinologischen Messmethoden werden bei Heinrichs und Kaiser (2003) genauer vorgestellt. 2 Das Nervensystem Ein komplizierter, vielzelliger Organismus, dessen einzelne Organe perfekt organisiert den vielfältigsten Anforderungen gerecht werden müssen, kommt nicht ohne eine übergeordnete Steuerzentrale aus. Das Nervensystem übernimmt diese Aufgabe. Es regelt die verschiedensten Bedürfnisse, integriert Informationen über innere Zustände mit Anforderungen aus der Umwelt und zielt darauf ab, den bestmöglichen Status zu erhalten bzw. in Zeiten hoher Belastung diesen wieder herzustellen. 16 2.1 Bernadette von Dawans, Clemens Kirschbaum & Markus Heinrichs Aufbau des Nervensystems Auf der Makroebene lässt sich das Nervensystem zunächst in zentrale und periphere Anteile gliedern (vgl. Abb. 1). Zum zentralen Nervensystem (ZNS) gehören das Gehirn sowie das Rückenmark. Das periphere Nervensystem (PNS) schließt alle Nervenstrukturen ein, die nicht im ZNS liegen und lässt sich wiederum unterteilen in das somatische Nervensystem und das autonome (oder vegetative) Nervensystem (ANS). Sowohl das somatische wie auch das autonome Nervensystem empfangen Informationen vom ZNS über efferente Nerven (Efferenzen), senden aber auch ihrerseits über afferente Nerven (Afferenzen) an das ZNS zurück. Dabei übernimmt das somatische Nervensystem die Kommunikation mit der Umwelt (Sensorik und Motorik), während das autonome Nervensystem die Organfunktionen und Drüsen reguliert und damit das funktionelle Gleichgewicht aufrechterhält. Das ANS lässt sich in zwei funktional und anatomisch abgrenzbare Einheiten unterteilen, den Sympathikus und den Parasympathikus. Sie stellen in ständigem Wechselspiel die Organfunktionen auf die verschiedensten Anforderungen ein, wobei der Sympathikus in Stresssituationen mobilisierend und aktivierend in den Vordergrund tritt und der Parasympathikus in Zeiten der Ruhe und Entspannung dominiert. Vorderhirn Basalganglien Limbisches System Thalamus Dienzephalon Hypothalamus Mesenzephalon-Mittelhirn Rautenhirn Hirn (Enzephalon) Zentralnervensystem Neokortex Telenzephalon (Hemisphären) Zerebellum Metenzephalon Brücke Myelenzephalon-Medulla oblongata peripheres Nervensystem Rückenmark Somatosensorische und motorische Nerven Sympathikus Autonome Ganglien und Nerven Parasympathikus Abbildung 1: Organisation des Nervensystems mit den wichtigsten Hirnabschnitten und Kerngebieten (aus Kirschbaum & Heinrichs, 2006, S. 166, Original aus Birbaumer & Schmidt, 2006. Mit freundlicher Genehmigung von Springer Science and Business Media) 2.2 Zelltypen und Informationsübermittlung Aufgebaut ist das Nervensystem hauptsächlich aus Neuronen (Nervenzellen), die der Informationsverarbeitung dienen, und aus Gliazellen, die vor allem Stütz- und Versorgungsaufgaben übernehmen. Gliazellen regulieren außerdem Stoff- und Körperliche Prozesse und Gesundheit 17 Flüssigkeitsaustausch, beseitigen totes oder auch überflüssiges Zellmaterial im Gehirn, schützen das Nervensystem vor toxischen Substanzen und können Verletzungen im Nervengewebe wieder reparieren, was ihre neuroprotektive Funktion unterstreicht. Die Informationsverarbeitung und -weiterleitung im menschlichen Organismus wird weitgehend von Neuronen ausgeführt. Neurone sind nicht nur im Gehirn, sondern im gesamten Körper vorhanden und weisen alle einen Basisbauplan auf. Sie besitzen einen Zellkörper (Soma) sowie davon abgehende Neuronenfortsätze (Axon und Dendriten). Dendriten bilden Kontaktstellen zu vielen anderen Zellen und dienen vor allem der Signalaufnahme. Am Soma wird dann die Information verarbeitet, integriert und schließlich über die Informationsweiterleitung entschieden. Falls diese positiv ausfällt wird das Endsignal (Aktionspotenzial) bis zum Ende eines Axons, dem synaptischen Endknöpfchen weitergeleitet. Es lassen sich folgende Neuronentypen unterscheiden: • Motoneurone (dienen der efferenten Informationsübertragung), • sensorische Neurone (dienen der afferenten Informationsübertragung) und • Interneurone (dienen der Verknüpfung zwischen Neuronen im ZNS). Erreicht ein Aktionspotenzial ein synaptisches Endknöpfchen, findet die Weiterleitung des Signals zur nächsten Zelle über die Synapse statt. Eine Synapse besteht aus dem präsynaptischen Endknöpfchen, dem synaptischen Spalt und der postsynaptischen Membran. Die direkte elektrische Übertragung zwischen Nervenzellen über sogenannte „gap junctions“ (nah aneinander liegende Ionenkanäle) kann z. B. an bestimmten Zellen am Herzen beobachtet werden. In den meisten Fällen wird die Übertragung aber von chemischen Botenstoffen übernommen, sogenannten Neurotransmittern. Sämtliche Übertragung findet also bis zum Endknöpfchen über niedrige elektrische Impulse (Aktionspotenziale) statt. An der Synapse erfolgt nun durch den elektrischen Impuls eine Freisetzung von Neurotransmittern in den synaptischen Spalt. Diese gelangen über den synaptischen Spalt zur postsynaptischen Membran und können dort aktivierende oder hemmende Wirkung auf die Nachbarzelle ausüben. Daraufhin wird in dieser Nachbarzelle wieder die Information weiterverarbeitet und je nach Input ein Impuls in Form eines Aktionspotenzials ausgelöst oder nicht. Eine schematische Darstellung der Synapse zeigt Abbildung 2. Die Membrandurchlässigkeit wird beeinflusst, indem Ionenkanäle ihre Durchlässigkeit für bestimmte Ionen (geladene Teilchen) verändern. Die ausgeschütteten Neurotransmitter werden im Anschluss entweder insgesamt wieder in die präsynaptische Zelle rückabsorbiert (Reuptake) oder enzymatisch aufgespalten und in ihren Einzelbestandteilen wieder aufgenommen. So stehen bei einem neuen Aktionspotenzial wieder genug Moleküle zur Verfügung. Eine bestimmte Konzen- 18 Bernadette von Dawans, Clemens Kirschbaum & Markus Heinrichs Axon 1. Das Aktionspotenzial wird über die präsynaptische Membran verbreitet Myelin 2. Depolarisation des präsynaptischen Terminals führt zum Einfluss von Kalzium. 3. Kalzium verursacht, dass die Vesikel mit der präsynaptischen Membran verschmelzen und Transmitter in den synaptischen Spalt freisetzen. 4. Bei schnellen Synapsen öffnet die Bindung von Transmittern an Rezeptormoleküle auf der postsynaptischen Membran Kanäle, wodurch Ionen einfließen und ein exzitatorisches oder inhibitorisches Potenzial entsteht. 5. Exzitatorische oder inhibitorische postsynaptische Potenziale verteilen sich passiv über die Dendriten und den Zellkörper zum Axonhügel. Enzyme und Vorläufer für die Synthese von Transmittern und Vesikelmembranen werden kontinuierlich durch Mikrotubuli zum Axonende transportiert. Ca2+ Transmittermoleküle Synaptischer Vesikel Autorezeptor Transporter Entlang Dendriten EPSP oder IPSP EPSP oder IPSP 6. Enzyme, die sich im extrazellulären Bereich befinden, spalten überschüssige Transmitter. 7. Die Wiederaufnahme von Transmittern verlangsamt die synaptische Aktivität und stellt Transmitter für nachfolgende Transmissionen zur Verfügung. 8. Transmitter binden an Autorezeptoren, die sich an der Membran synaptischer Endknöpfchen befinden. Entlang Entlang Dendriten Dendriten Abbildung 2: Schematische Darstellung einer Synapse und der chemischen Signalüber- tragung zwischen Neuronen (aus Kirschbaum & Heinrichs, 2006, S. 169, Original aus Ehlert, 2003. Mit freundlicher Genehmigung von Springer Science and Business Media) tration eines Transmitters im synaptischen Spalt kann auch über sogenannte Autorezeptoren der präsynaptischen Membran die weitere Ausschüttung kontrollieren. Über 70 verschiedene Neurotransmitter sind bereits identifiziert worden und laufend werden weitere Transmitter und Rezeptoren entdeckt. Gamma-Amino-Buttersäure (GABA) stellt den wichtigsten hemmenden Transmitter dar, während Glutamat ein wichtiger und weit verbreiteter aktivierender Transmitter ist. Andere Transmitter können (je nach Ort der Ausschüttung) sowohl hemmende wie auch aktivierende Wirkung haben. Die Gruppe der Monoamine (z. B. Dopamin, Serotonin, Noradrenalin) stellt eine sehr prominente Gruppe von Neurotransmittern dar, die auch bei verschiedenen physischen und psychischen Erkrankungen von Bedeutung Körperliche Prozesse und Gesundheit 19 sind. In jüngster Zeit treten sogenannte Neuropeptide (z. B. Oxytocin, Vasopressin), die früher „nur“ als Hormone bekannt waren, immer stärker in den Fokus des Interesses. Auch sie können die Funktion von Neurotransmittern übernehmen und direkte Verhaltenseffekte haben. 2.3 Schutzmechanismen des zentralen Nervensystems Eine bestimmte Art von Gliazellen (Astrozyten) sind maßgeblich am Aufbau der sogenannten Blut-Hirn-Schranke beteiligt. Diese bildet eine enorm wichtige Schutz-Barriere, die verhindert, dass alle Substanzen, die im Blut zirkulieren, auch das Gehirn erreichen können. Andererseits hängt die Wirksamkeit von Psychopharmaka davon ab, wie gut sie die Blut-Hirn-Schranke überwinden können, also aus dem Blut durch die flüssigkeitsgefüllten extrazellulären Spalträume (Interstitium) der Neuronen und Gliazellen in ein Neuron gelangen. Das ZNS ist zusätzlich in eine Flüssigkeit gebettet, die Liquor oder auch Zerebrospinalflüssigkeit heißt. Der Liquor wird in einem bestimmten Blutgefäßgeflecht (Plexus chorioidei) in den Ventrikeln des Gehirns gebildet und regelmäßig erneuert. Er übernimmt Stoffwechselfunktionen und schützt darüber hinaus das Gehirn vor Erschütterung. Arachnoides Dura mater mit Sinus sagittalis linke Hemisphäre Kalotte Kopfhaut ⎧ Frontallappen Großhirn ⎨ ⎩ Temporallappen Medulla obloganta Kleinhirn Medulla spinalis vordere und hintere Spinalwurzel Wirbelkanal Arachnoidalraum Dura mater spinalis Wirbelkörper Spinalganglion A. vertebralis Abbildung 3: Überblick über die Lage von Gehirn und Rückenmark (aus Kirschbaum & Heinrichs, 2006, S. 171, Original aus Birbaumer & Schmidt, 2006. Mit freundlicher Genehmigung von Springer Science and Business Media)