Wenn sich Afrika unter Europa schiebt

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Nummer 37 · 13. September 2012
Ostfildern aktuell
Expertengespräch mit dem Erdbebenforscher Manfred Joswig zum Erdbeben in Mirandola
Wenn sich Afrika unter Europa schiebt
Wenn in Mirandola die Erde bebt, Häuser einstürzen und Menschen sterben,
hat das seine Ursache in den Bewegungen der afrikanischen und eurasischen
Kontinentalplatten.
Mehrere Beben der Stärke bis 5,9 auf der
nach oben offenen Richterskala haben Ende
Mai innerhalb von kurzer Zeit Norditalien
erschüttert. In der Partnerstadt von Ostfildern, Mirandola, in der Provinz Modena in
der Region Emilia Romagna gab es nicht nur
viele zerstörte und beschädigte Gebäude, es
starben auch fünf Menschen in den Trümmern der Häuser und Fabriken. Mehrere
tausend Menschen wurden obdachlos.
Die Stadtrundschau Ostfildern hat mit dem
Erdbebenforscher Manfred Joswig über
die wissenschaftlichen Hintergründe des
Bebens gesprochen. Joswig ist Professor
an der Universität Stuttgart und Leiter des
Instituts für Geophysik. Joswig ist auch im
Vorstand der der Deutschen Gesellschaft für
Erdbebeningenieurwesen und Baudynamik.
„Im Tyrrhenischen Meer taucht die afrikanische Platte unter die eurasische. Die Schiebbewegungen dieser Platte falten letztlich die
Alpen auf, so wie der indische Subkontinent
den Himalaya auffaltet“, erklärt Joswig die
unruhigen Gegenden im Mittelmeerraum.
Einen weiteren Schub erhalten die Erdkrustenbewegungen in Richtung Osten, wo
Europa gegen den Balkan drückt. Daher sei
die Erdkruste in Südeuropa, vornehmlich
in Italien, Griechenland und auf dem Balkan, in vielfältiger Weise aufgefaltet und
mehr oder weniger ständig in Bewegung.
So kommt es zu enormen Spannungen in
der Erdkruste. Reißt sich die vorgespannte
Erdkruste frei, kommt es zu den Erdstößen.
„Die Auswirkungen dieser Stöße hängen
entscheidend davon ab, in welcher Tiefe sich
die Gesteinsbrocken aneinander reiben und
brechen und wie weit bewohntes Gebiet von
diesem Zentrum entfernt ist“, erklärt Joswig
weiter und nimmt ein Beispiel: „Je näher
man einem Gewitter ist, desto stärker spürt
man seine Auswirkungen.“
Der Hauptstoß in der Erde, das was die
Wissenschaftler das Hauptbeben nennen,
wird durch die größte Bruchfläche verursacht. Die kleineren Beben danach, die so
genannten Nachbeben, resultieren aus dem
Aneinanderscheuern und Justieren kleinerer
Gesteinsflächen.
Nachbeben, so Joswig, träten zu Hunderten
nach dem Hauptbeben auf, und sie sind
immer deutlich schwächer als das Hauptbeben zuvor. Insofern waren die beiden
Beben, die die Region Modena am 29. Mai
erschüttert und Mirandola so hart getroffen
haben, keine Nachbeben des Bebens neun
Tage zuvor, sondern weitere Hauptbeben mit
dem Epizentrum dicht an der Partnerstadt
Gewaltige Zerstörung: abgestürzte Kirchturmuhr in Mirandola
Ostfilderns. Aufeinanderfolgende Hauptbeben nennt die Wissenschaft eine bebenserie
oder Clusterbeben. Die gefährdete Stelle ist
immer in der Nähe oder neben dem Zentrum
des davorliegenden Bebens, weil ein nachfolgendes Gesteinssegment bricht – das löst
eine eine Dynamik aus wie bei umfallenden
Dominosteinen.
Bis zum Jahr 2003 ist die Gegend um Mirandola auf keiner Karte als erdbebengefährdetes Gebiet ausgewiesen worden. „Man
kennt eben nicht alle Schwächezonen“, sagt
Joswig. Wissenschaftler gehen aber davon
aus, dass sich Erdbeben immer wieder in
denselben Zonen abspielen, da dort verspannte Verwerfungszonen in der Erdkruste
liegen.
Weil die Region als ruhig galt, griffen auch
keine speziellen Bauvorschriften. Diesem
Umstand und der Tatsache, dass sich viele Gebäude aus dem Mittelalter und der
Renaissance in der Region befinden, sind
die enormen Gebäudeschäden und auch
die Todesfälle geschuldet. „Beben dieser
Größenordnung sind nicht das eigentliche
Problem“, sagt Joswig, „sondern die instabilen Gebäude.“ Beben dieser Stärke, so Joswig, gebe es jährlich zu Hunderten auf der
Erde. „Wenn es aber im mittelozeanischen
Rücken oder in Alaska wackelt, gehen eben
keine mittelalterlichen Städte zu Bruch“.
Mitglieder der deutschen Gesellschaft für
Erdbebeningenieurwesen und Baudynamik
waren nach den Beben in der Gegend um
Mirandola. In ihrem Newsletter berichten sie
von den 1.159 historisch wertvollen und geschützten Objekten, von denen 600 Kulturgüter beschädigt worden sind. Sie berichten
Manfred Joswig.
Foto: Dal Zennaro
Foto: red
auch von beschädigten oder eingestürzten
Gebäuden mit vorherrschend vertikaler Tragestruktur. Gebäude mit Querverstrebungen
bleiben bei Beben eher stehen. „Ein gutes
Beispiel für eine solche stabile Bauweise ist
das schwäbische Fachwerk“, ergänzt Joswig. Für den Wissenschaftler ist klar: Einen
sicheren Schutz vor Erdbeben gibt es nicht,
da sie nicht genau vorhersagbar sind. Einen
Schutz vor Tod und Zerstörung bietet nur
eine sichere Bauweise.
pst
 Der aktuelle Spendenstand beträgt
149.000 Euro. Wer noch spenden will:
Spendenkonto der Stadt Ostfildern, Kontonummer 990 440, Bankleitzahl 611 500 20
bei Kreissparkasse Esslingen, Stichwort „Mirandola“. Wer als Verwendungszweck seine
Anschrift hinterlässt, erhält eine Spendenbescheinigung. Die Bescheinigungen werden
bis spätestens Ende Dezember zugeschickt.
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