Essay: Risiken des Ausstiegs | Die Weltwoche, Ausgabe 16/2011

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Essay
Risiken des Ausstiegs
Ein Verzicht auf die Kernenergie macht die Welt nicht weniger radioaktiv. Wer die Sicherheit
erhöhen will, sollte die Kerntechnologie nicht stoppen, sondern weiterentwickeln. Neue
Anlagen sind nicht nur sicherer, sondern auch effizienter als die alten. Von Anselmo Pedroni
Kettenreaktion: Naturreaktor in Afrika. Bild: Nagra
E
s gibt kein Gestein, kein Gewässer und kein Lebewesen, das nicht radioaktiv strahlt. Es gibt
auch keinen Unterschied zwischen «künstlicher» und «natürlicher» Radioaktivität. Die
Erklärung dafür ist simpel: Fast die gesamte Materie des Planeten Erde ist vor Urzeiten durch
Kernreaktionen entstanden. So gesehen bestehen wir Menschen physisch aus «radioaktivem Abfall»
einer längst untergegangenen Sternengeneration.
Die Nuklearindustrie produziert kein einziges Atom, das es in der Natur nicht auch gibt.
Kernreaktionen, die im KKW stattfinden, kommen sogar in der freien Natur vor. So werden zum
Beispiel im Meerwasser gelöste Uranatome durch Neutronen der kosmischen Strahlung gespalten. In
Afrika gibt es sogar einen Ort (Oklo, Gabun), wo die natürliche Urankonzentration im Gestein so hoch
war, dass sie spontan eine Kettenreaktion zündete und eine Art natürlicher Kernreaktor entstand.
Tatsache ist, dass hohe Strahlendosen krank machen und tödlich sein können – und dass geringe
Dosen, denen alle Lebewesen auf Erden schon immer ausgesetzt waren, völlig harmlos sind. Unser
Körper verfügt über die Fähigkeit, Strahlenschäden laufend zu beseitigen. Grösste Sorgen bereitet die
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Tatsache, dass Strahlung Mutationen im Erbgut verursachen kann, die wiederum zu Krebs und
Erbkrankheiten führen können. Doch, was bedeutet das? Was ist hoch – und was ist gering?
Vorweg zu den famosen «Erbgutmutationen». Eine 2009 in der Zeitschrift Nature publizierte
Untersuchung zeigt, dass auch unter gesund lebenden Menschen jedes Baby mit 100 bis 200 neuen
Erbgutmutationen zur Welt kommt. Im Laufe seines Lebens kommen bei fast jeder Zelle seines Körpers
noch zusätzliche Mutationen hinzu. Ohne derartige Mutationen wäre die Evolution des Lebens gar nicht
möglich. Die meisten Erbgutmutationen sind ohnehin rezessiv, das heisst, sie entfalten erst dann ihre
(möglicherweise krank machende) Wirkung, wenn zwei mutierte Kopien desselben Gens von Vater und
Mutter geerbt werden.
Dies erklärt möglicherweise, warum gemäss umfangreicher Erhebungen der WHO die Zahl der
Krebsfälle und Erbkrankheiten nach der Katastrophe von Tschernobyl sehr gering ausfiel. Die Frage, ab
welcher Strahlendosis Gefahr droht, bleibt bis heute spekulativ. Deshalb orientierte man sich bei den
gesetzlichen Grenzwerten an der natürlichen Strahlung. Das ist sinnvoll. Man muss sich aber stets
bewusst sein, dass eine Überschreitung der Grenzwerte nicht per se eine Gefährdung darstellt. Tatsache
ist nämlich, dass die friedliche Nutzung der Kernenergie eine Strahlenbelastung verursacht, die bis zu
5000-mal geringer ist als der natürliche Mittelwert.
So ist auch die Vorstellung, dass nach Abschalten von Kernkraftwerken die radioaktive Belastung
sinken würde, eine Illusion. Das Gegenteil wäre der Fall. Weil zunächst mehr fossile Brennstoffe
verfeuert werden müssten, würde die Belastung vielmehr steigen. Denn auch Erdöl, Erdgas und
insbesondere Kohle enthalten Radon, Uran und Thorium. Diese Stoffe verteilen sich nach der
Verbrennung über die Luft und belasten unsere Körper bereits heute drei- bis fünfmal stärker mit
Radioaktivität als die friedliche Nutzung der Kernenergie.
Wenig bekannt ist auch die Tatsache, dass beim Erzabbau immer radioaktive Stoffe freigesetzt
werden. Der grösste Uranproduzent der Welt zum Beispiel, die Olympic Dam Mine in Australien, fördert
in erster Linie Industriemetalle; der Kernbrennstoff fällt lediglich als «Abfall» oder «Nebenprodukt» an.
Der umfassende Umbau der heutigen Energie-Infrastruktur in eine mit erneuerbaren Energien wie
Wind und Sonne würde gigantische Mengen industrieller und exotischer Metalle benötigen. Dadurch
würde das Problem langlebiger radioaktiver Abfälle zusätzlich verschärft. Ein Beispiel: Die von
Windrädern benötigten Permanentmagnete werden aus Erzen gewonnen, die typischerweise einen
hohen Anteil an Thorium und Uran enthalten. Diese Stoffe müssen ungenutzt als «Abfall» aufwendig
entsorgt werden.
Nach dem Ausstieg aus der Kernenergie bliebe die Endlagerung langlebiger radioaktiver Stoffe die
einzige mögliche Option. Diese Option ist zu Recht umstritten. Lokale Interessen und Staatsgrenzen
werden wohl dazu führen, dass nicht der beste Standort, sondern der des geringsten politischen
Widerstands gewählt werden wird. Noch bedenklicher ist, dass wir damit mögliche Probleme für
kommende Generationen schaffen. Es bestehen allerdings gute Aussichten, dass sich das Problem der
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Endlagerung erübrigt, wenn wir es zulassen, dass die Nuklearindustrie konsequent weiterentwickelt
wird.
So wie Automotoren dank dem technologischen Fortschritt den Kraftstoff immer besser nutzen und
weniger Umweltgifte ausstossen, so werden auch Kernkraftwerke mit jeder Generation effizienter. Die
Wissenschaft arbeitet heute an Reaktoren, die langlebige radioaktive Abfälle, welche heute noch entsorgt
werden müssen, als Brennstoff verwenden. Am Ende würde ein kurzlebiger radioaktiver Reststoff
zurückbleiben, der etwa 300 Jahre gelagert werden muss.
Jede Energie hat Nachteile. Das grösste Problem der heutigen Energiedebatte liegt aber darin, dass
die Gefahren der Kernenergie im selben Mass aufgebauscht werden, wie man ihre Vorteile ausblendet.
Bei den Alternativszenarien ist es aus politischem Opportunismus genau umgekehrt: Das Potenzial wird
mutwillig überschätzt, genauso mutwillig verdrängt man die Risiken und Nachteile.
Anselmo Pedroni, 52, ist Physiker, Geo- und Kosmochemiker. Er arbeitete in Forschung und Lehre am SIN (heute
Paul-Scherrer-Institut), an der ETH in Zürich, am Max-Planck- Institut in Mainz sowie an der Freien Universität in
Berlin.
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