LEIBNIZ | BIODIVERSITÄT ǡͷͿͶͶ Hitzekoller und Atemnot Die Tierwelt in den deutschen Hausmeeren steht unter Druck. In der sich erwärmenden Nordsee verdrängen Neuzuwanderer aus see macht den Meeresbewohnern vor allem der SauerstoffmanJHOLQÅ7RGHV]RQHQ´]XVFKDIIHQ9HUDQWZRUWOLFKIUEHLGHVGHU Mensch. 36 ǣ GHP6GHQGLHKHLPLVFKHQ$UWHQLQNlOWHUH*HÀOGH,QGHU2VW- 3/2014 L E I B N I Z | D E R W E R T D E R V I E L FA LT Der rote Sandsteinfelsen kommt mehr und mehr ins Schwitzen. Seit 1962 hat sich das Nordseewasser vor Helgoland, Deutschlands einziger Hochseeinsel, um 1,7 Grad Celsius aufgeheizt. Tendenz: steigend. Der Grund: die globale Erwärmung in Folge des menschengemachten Klimawandels. Knapp zwei Grad Celsius. Das klingt zunächst nach wenig. Doch als Folge der Erwärmung hat in der Nordsee eine regelrechte Völkerwanderung eingesetzt. „Ihre Fauna verändert sich Dzǡ òǡ die Abteilung Marine Zoologie am Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum in Frankfurt am Main leitet. Vielen heimischen Kaltwasserarten ist es in der südlichen Nordsee inzwischen zu warm geworden. So ist zum Beispiel der Kabeljau – einer der beliebtesten Speiseϐ Ȃ den kühleren Norden ausgewichen. „Vor der norwegischen Küste gibt es ihn nun in rauen Dzǡ òǤ Gegenzug wandern verstärkt mediterrane Warmwasserarten wie Streifenbarbe und Sardelle in die Nordsee ein. Foto: Sven Tränkner/Senckenberg Gekommen, um zu bleiben 3/2014 Dabei handelt es sich keineswegs nur um Einzelfälle bei Fischen. „Der Wandel zieht sich durch die gesamte marine Lebensgemeinschaft von Fischen über Quallen, Krebse, Schnecken bis hin zum Plankton“, er¡òǤ Die Neulinge untergliedern sich in zwei Gruppen. Gruppe eins wandert direkt in die Nordsee ein, indem sie schlicht ihren Lebensraum nach Norden aus- dehnt. So wie der winzige Einsiedlerkrebs Diogenes pugilator, der ursprünglich im Mittelmeer und im angrenzenden Atlantik beheimatet war. „Der Krebs hat 2002 die Deutsche Bucht er Dzǡ òǤ Ƿ ʹͲͲͷ stabile Populationen vor und auf der Nordsee-Insel Wangerooge.“ Die andere Gruppe wurde von Schiffen aus weit entfernten Regionen eingeschleppt ϐ zu Zuchtzwecken eingeführt. Lange ging man davon aus, dass sich die exotischen Gäste mit den klangvollen Namen – Australische Seepocke, Amerikanische Schwertmuschel, Japanischer Gespensterkrebs – wegen des kalten Wassers der Nordsee nicht dauerhaft ansiedeln könnten. In Folge der Erwärmung gilt jedoch mehr und mehr: Sie sind gekommen, um zu bleiben. Wie nachhaltig sich die Nordseefauna verändert, haben die Senckenberg-Forscher in einer großangelegten Langzeitstudie bewiesen. „Seit 1990 untersuchen wir mithilfe unserer Forschungsschiffe regelmäßig die Veränderungen der marinen Tierwelt im Bereich der Doggerbank, einer riesigen, teilweise nur wenige Meter unter der ϐ¡ Sandbank mitten in der Nordsee“, berichtet òǤ An 40 Stationen sammeln die Wissenschaftler seither mit Schleppnetzen Meerestiere und bestimmen die Artenzusammensetzung. Im Bereich der Doggerbank treffen verschiedene Wassermassen aufeinander: stationäres Wasser aus der Deutschen Bucht, atlantisch geprägtes Wasser aus dem Ärmelka- nal und kaltes Wasser aus dem Norden. „Alle drei Bereiche beherbergen eine ganz eigene Lebensgemeinschaft mit teilweise unterschiedlichen Arten“, erläutert der Frankfurter Meeresforscher. „Seit 2000 stellen wir allerdings an allen 40 Stationen einen massiven Regime-Wechsel zugunsten der Warmwasserarten fest.“ Vereinheitlichung der Tierwelt Das Ergebnis ist eine Vereinheitlichung der Tierwelt: Eine über viele Jahrtausende gewachsene heimische Fauna mit großen regionalen Unterschieden weicht einer eher eintönigen Warmwasserfauna. „Die Folge der Erwärmung in der Nordsee ist also eine lokale Abnahme der Artenvielfalt und eine dadurch bedingte geringe¡Yò é Úϐò ϐ Dzǡ òǤ Und wie ergeht es den Auswanderern im kühleren Norden? Viele schaffen die Umstellung, doch einige Arten könnten auf der Strecke bleiben, glaubt òǤǷ Driftbojen, die sich einfach hin und her schieben lassen. Sie haben über die Temperatur hinaus Bedürfnisse. Wenn die am neuen Ort nicht erfüllt werden, verschwinden sie eben.“ Ein Beispiel ist die nordpaϐ Úǡ die aus dem Beringmeer zwischen Alaska und Sibirien nach Norden in die kühlere Beringstraße gewandert ist. Ihre Bestände schrumpfen, weil es das Plankton, von dem sie sich 37 L E I B N I Z | D E R W E R T D E R V I E L FA LT Probennahme: Regelmäßig fährt Alexander Darr raus auf die Ostsee, um die Benthosgemeinschaft ò Ǥ selhaften Bedingungen machen es Meeresbewohnern schwer, in der Ostsee zu überleben“, sagt Alexander Darr, Meeresbiologe Atemnot im am Leibniz-Institut für OstseeMare Balticum forschung Warnemünde (IOW). „Die Artenvielfalt ist deshalb Anders als die Nordsee ist das von Natur aus geringer als in zweite Meer vor der bundes- anderen Meeren.“ Trotzdem ist deutschen Haustür schon ohne die Unterwasserwelt im Mare Zutun des Menschen ein hartes Balticum alles andere als langϐ ò Ǥ weilig. Auch hier gibt es von Seit der Geburt der verhält- Schnecken, Würmern, Muscheln nismäßig jungen Ostsee vor und Krebsen bis hin zu Fischen, 12.000 Jahren schwankten die Robben und Walen Vertreter Lebensbedingungen beständig: aus allen Organismengruppen. Mal war die Ostsee salziges NeAlexander Darr befasst sich benmeer des Weltozeans, dann am IOW mit dem sogenannten von Süßwasser geprägtes Bin- Benthos, einer Gemeinschaft nenmeer ohne Verbindung zur am Meeresboden lebender OrNordsee. Die heutige Situation ganismen. Regelmäßig fahren entspricht einer Zwischener und seine Arbeitsgruppe mit form. Salzwasser, das d dem Forschungsschiff durch die schma„Elisabeth Mann Borilen Passagen zwigese“ raus auf die schen den dädeutsche Ostsee. nischen Inseln Mit Bodengreifern in die Ostsee nehmen sie Proben strömt, mischt des Meeresbodens sich mit Süßwasund überwachen die ser aus unzähligen B Benthosgemeinschaft in die Ostsee münmit UnterwasserkameD denden Flüssen. Das ras. „Der Boden der deutErgebnis ist ein riesiges Brack- schen Ostsee ist ein sehr heterowassermeer mit stetig schwan- genes Gelände“, berichtet Darr. kendem Salzgehalt. „Die wech- Einige Bereiche seien „wahre 38 Hotspots“ der Biodiversität. Im Bereich des Fehmarnbelts zwischen Fehmarn und Dänemark bilden große Felsbrocken strukturreiche Riffe. Hier leben bis zu 120 Arten auf einem Quadratmeter, darunter Wellhornschnecken, Seeigel, Einsiedlerkrebse, Islandmuscheln. In anderen Gebieten wie der Oderbank, deren Meeresboden aus feinem Sand ǡ ϐ ʹͷ ͵Ͳ Meeresorganismen auf einem Quadratmeter, aber auch sie erfüllen eine bedeutende Funktion. „Todeszonen“ in der Tiefe ǣ ȀǢȀ ernähren, dort nicht gibt. Die Krabben sitzen in der Falle. „Sie sind Nahrung für zahlreiche Fischarten“, sagt Darr. Für den Forscher sind die Organismen aber vor allem wegen einer weiteren Eigenschaft von Interesse: „Sie sind die besten Indiò ¡ ϐò menschlicher Aktivitäten, weil sie anders als zum Beispiel Fische standorttreu sind“, erklärt er. „Wir überwachen deshalb die Entwicklung der benthischen Organismen und kartieren ihre Verbreitung.“ 3/2014 L E I B N I Z | D E R W E R T D E R V I E L FA LT Kaum ein Meer wird stärker vom Menschen genutzt als die Ostsee. Bauvorhaben wie der geplante Fehmarnbelt-Tunnel zwischen Deutschland und Dänemark, der Abbau von Kies ϐ ziehen lokale Bereiche des Meeresbodens stark in Mitleidenschaft. „Wirklich bedrohlich für alle Ostseeorganismen ist aber vor allem die Eutrophierung, also die Überdüngung der Ostsee mit Nährstoffen aus Landwirtschaft und Industrie“, warnt der Warnemünder Meeresforscher. Die Nährstoffe, die über Flüsse in die Ostsee gelangen, fördern das Wachstum einzel ϐ¡ wasser. Diese Algen sinken in größere Tiefen und werden von Mikroorganismen unter Sauerstoffverbrauch abgebaut. Auf diese Weise entstehen in der tiefen Ostsee sogenannte Todeszonen: Bereiche mit wenig oder gar keinem Sauerstoff, in denen höheres Leben nicht mehr existieren kann. Klimawandel versus Meeresschutz Ende der 1980er Jahre war die Ostsee stark eutrophiert. 1992 wurde deshalb die HelsinkiKommission gegründet, die verbindliche Reduktionsziele für Nährstoffeinträge der Ostseeanrainer festlegt. Die Situation hat sich seither leicht entspannt. Auch Schutzzonen für besonders artenreiche Gebiete seien probate Mittel, um die Biodiversität in der Ostsee zu erhalten. „Gerade Riffe sind von großer Bedeutung“, erklärt Darr. „Sie liegen meist auf erhöhten Kuppen und sind deshalb wichtige Reservoirs für eine Wiederbesiedlung von tieferen Bereichen, die durch Sauerstoffmangel geschädigt wurden.“ Doch der Klimawandel, der auch der Nordsee zusetzt, könnte diese Bemühungen zunichte machen. Noch sind seine Effekte in der Ostsee kaum spürbar. Aber in nicht allzu ferner Zukunft könnten die Erwärmung und der verstärkte Süßwasserzustrom durch mehr Regenfälle dazu führen, dass die positiven Effekte der verminderten Nährϐ werden und sich die „Todeszonen“ weiter ausbreiten. Die Helsinki-Kommission berät schon jetzt, ob die Reduktionsziele verschärft werden müssen, um die Artenvielfalt in der Ostsee zu retten. NILS EHRENBERG Anzeige sehen sie auch überall die angebotsnachfrage-kurve? Mehr sehen. 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