M A ed us Le zu tte g a r F us eb d ru em ar 20 14 Informationen für Ärztinnen, Ärzte und medizinische Fachberufe Spritzenabszess in einer orthopädischen Gemeinschaftspraxis Kann durch die sachgerechte Organisation und Koordinierung des Behandlungsgeschehens das hygienische Behandlungsrisiko objektiv voll beherrscht werden, kommt der Rechtsgedanke der Beweislastumkehr zum Tragen, wonach die Darlegungs- und Beweislast für Verschuldensfreiheit bei der Behandlungsseite liegt. Einleitung Die Einhaltung der Grundsätze der Hygiene und die Durchführung darauf aufbauender allgemeiner und spezifischer Maßnahmen gehören zu den elementaren Bestandteilen der modernen Medizin und Pflege. Hygienemaßnahmen sind darauf ausgerichtet, das Risiko zu minimieren, sich während eines Aufenthalts in einer Gesundheitseinrichtung eine Infektion zuzuziehen. Die sach- und fachgerechte Durchführung von Hygienemaßnahmen gehört deshalb zu dem Pflichtenheft, dessen Einhaltung ein Patient von dem medizinischen Personal regelmäßig erwarten kann. Schadensereignisse aus dem Bereich der Hygiene können, sofern sie in unmittelbarem Zusammenhang mit einer ärztlichen Behandlung stehen, zu Beweiserleichterungen zugunsten der klagenden Seite führen. Denn die Einhaltung der Hygienestandards wird regelmäßig zu den betrieblichen Risiken gezählt, die von den Ärzten und ihrem Hilfspersonal voll zu beherrschen sind. Der Bundesgerichtshof hatte über einen Sachverhalt zu entscheiden, in dem die Infektion des Patienten auf ein keiminfiziertes Mitglied des ambulanten OP-Teams zurückzuführen gewesen ist (BGH in RDG 2007, S. 148 – Az.: VI ZR 158/06). Sachverhalt Die Klägerin nimmt die Beklagten auf Ersatz materieller und immaterieller Schäden wegen eines Spritzenabszesses in Anspruch. Im Juni 1999 begab sie sich in eine orthopädische Gemeinschaftspraxis, deren Inhaber zwei der beklagten Ärzte sind. Zwei andere – gleichfalls beklagte Orthopäden – waren zu dieser Zeit dort als Vertretungsärzte tätig. Einer der Praxisinhaber setzte der Klägerin am 9. und 11. Juni 1999, der andere Praxisinhaber am 15. Juni 1999 jeweils eine Spritze im Nackenbereich. In der Folgezeit entwickelte sich ein Spritzenabszess, der eine zweiwöchige stationäre Behandlung der Klägerin erforderlich machte. Die klagende Patientin, die Leiterin eines CateringBetriebes war und diese Tätigkeit zunächst wieder aufnahm, hat geltend gemacht, sie leide aufgrund des Spritzenabszesses an anhaltenden Schmerzen, Schlafstörungen und Depressivität und sei deshalb arbeitsunfähig. Der Spritzenabszess beruht auf einer Staphylokokkeninfektion. Ausgangsträgerin der Keime war eine von den beiden Vertragsärzten angestellte Arzthelferin, die seinerzeit an Heuschnupfen litt und bei der Verabreichung der Spritzen assistierte. Gleichartige Infektionen traten zeitnah bei anderen Patienten in der Praxis auf, die ersten Fälle am 2., 8. und 10. Juni 1999. Das von den Vertragsärzten Mitte Juni 1999 eingeschaltete Gesundheitsamt beanstandete die Hygieneprophylaxe in der Praxis. Das Landgericht Bad Kreuznach hat der Klägerin ein Schmerzensgeld von 25 000 € zuerkannt, die bezifferten Schadensersatzansprüche dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt und dem Feststellungsbegehren hinsichtlich der Ansprüche auf Ersatz des materiellen Schadens entsprochen. Die Berufung der Beklagten hatte vor dem OLG Koblenz keinen Erfolg. Mit der Revision verfolgen alle vier beklagten Ärzte ihr Klageabweisungsbegehren weiter. Entscheidung Die Revision ist nicht begründet. Im vorliegenden Fall steht es außer Frage, dass es zu dem infektiösen Geschehen kam, weil die Arzthelferin Trägerin des Bakteriums Staphylococcus aureus war und dieses Bakterium – auf welchem Weg auch immer – mittels einer Injektion auf die Klägerin übertragen werden konnte. Damit steht fest, dass das verwirklichte Risiko aus einem Bereich stammt, dessen Gefahren ärztlicherseits objektiv voll ausgeschlossen werden können und müssen. Kann durch die sachgerechte Organisation und Koordinierung des Behandlungsgeschehens das Behandlungsrisiko objektiv voll beherrscht werden, kommt der Rechtsgedanke des § 282 BGB a. F. (nunmehr § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB) zum Tragen, wonach die Darlegungs- und Beweislast für Verschuldensfreiheit bei der Behandlungsseite liegt. 1/2 Es ist daher Sache der Behandlungsseite, sich für fehlendes Verschulden zu entlasten. Diesen Entlastungsbeweis hat das Berufungsgericht vorliegend rechtsfehlerfrei als nicht geführt angesehen. Steht fest, dass die Infektion aus einem hygienisch beherrschbaren Bereich hervorgegangen sein muss, so hat der Krankenhausträger bzw. der Arzt für die Folgen der Infektion sowohl vertraglich als auch deliktisch einzustehen – es sei denn, er vermag zu beweisen, dass ihn an der Nichtbeachtung der Hygieneerfordernisse kein Verschulden trifft, er also darlegen kann, dass alle organisatorischen und technischen Vorkehrungen gegen von dem Personal der Klinik oder der Arztpraxis ausgehende vermeidbare Keimübertragungen getroffen waren. Auf Grundlage der Ermittlungen des Gesundheitsamts hat das Berufungsgericht festgestellt, dass in der Arztpraxis elementare Hygienegebote missachtet wurden. Das Hygieneverhalten der Arzthelferinnen ist nicht in erforderlichem Umfang durch die Ärzte vermittelt und überprüft worden. Desinfektionsmittel wurden nicht in ihren Originalbehältnissen aufbewahrt, sondern umgefüllt; zwei von vier überprüften Alkoholen waren verkeimt; Durchstechflaschen mit Injektionssubstanzen fanden über mehrere Tage hinweg Verwendung; Flächendesinfektionsmittel mit einer langen Einwirkungszeit wurden fehlerhaft zur Hautdesinfektion eingesetzt. Auch war es nicht üblich, dass Arzthelferinnen vor dem Aufziehen einer Spritze ihre Hände desinfizierten; Arbeitsflächen wurden zudem nur einmal wöchentlich desinfiziert. Beispiele für Mängel im Bereich der Hygiene, die regelmäßig gegen einen Entlastungsnachweis sprechen • Erforderliches Hygieneverhalten des Personals wird nicht oder nur ungenügend vermittelt und überprüft. • Keine Händedesinfektion vor Verabreichung von Spritzen. • Desinfektionsmittel werden nicht in Originalbehältnissen aufbewahrt, sondern umgefüllt. • Flächendesinfektionsmittel wird als Hautdesinfektionsmittel verwendet. • Arbeitsflächen werden nicht oder nur wöchentlich desinfiziert. • Durchstechflaschen mit Injektionssubstanzen bleiben zu lange in Verwendung. • Desinfektionsmittelspender sind ungeeignet. • Schriftlich fixierte Hygienepläne sind nicht vorhanden. • Einwirkzeiten werden nicht berücksichtigt. Autor Rechtsanwalt Prof. Dr. jur. Volker Großkopf, Rechtsanwälte GROSSKOPF + KLEIN, Köln Unser Tipp Bei dieser Sachlage ist die Beurteilung des Berufungsgerichts, dass der den Beklagten obliegende Entlastungsbeweis angesichts der festgestellten gravierenden Hygienemängel nicht geführt sei, aus revisionsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden. Mit dem „MedLetter” informiert HDI Sie regelmäßig über neue Entwicklungen der Rechtsprechung aus der beruflichen Tätigkeit in der ambulanten Medizin und in den Gesundheitsfachberufen. Fazit Wir legen besonderen Wert darauf aktuelle, juristische Sachverhalte, wichtige Urteile und Entscheidungen allgemeinverständlich und damit insbesondere für Nichtjuristen aufzubereiten. Das bloße Auftreten einer Infektion, die in engem zeitlichen Zusammenhang mit einer Behandlung steht – eine sogenannte nosokomiale Infektion – stellt für sich alleine noch kein pflichtwidriges Versäumnis im Bereich der Hygiene dar. Besteht jedoch wahrend eines Behandlungsgeschehens eine Infektionsgefahr, deren Quelle objektiv beherrschbar ist, kommt eine Umkehr der Beweislast für den Nachweis des fehler- und verschuldenfreien Handelns der Behandlungsseite in Betracht. So auch im beschriebenen Fall der mit Staphylokokken infizierten Arzthelferin, die bei der Verabreichung von Spritzen assistierte. Insofern wäre das Risiko der Keimübertragung durch organisatorische Maßnahmen voll zu beherrschen gewesen. Die beklagten Vertragsarzte, zugleich Inhaber der Arztpraxis, waren somit aufgefordert zu beweisen, dass die Nichtbeachtung der Hygieneerfordernisse nicht auf ihr schuldhaftes Fehlverhalten zurückzuführen ist, sie also alle organisatorischen und technischen Vorkehrungen zur Vermeidung von personalbedingten Keimübertragungen getroffen hatten. Da dieser Entlastungsnachweis nicht erbracht werden konnte, war die Haftung nicht zu vermeiden. Gerade Themen wie Haftung, aktuelle Rechtssprechung, Schadenfälle, Riskmanagement und versicherungsrechtliche Fragen sind ständig in Bewegung und betreffen Sie unmittelbar. Mit dem MedLetter erhalten Sie wichtige Informationen und Hinweise für Ihre Berufspraxis und sind immer auf dem Laufenden. Melden Sie sich am besten gleich an unter: www.hdi.de/medletter HDI Versicherung AG HDI-Platz 1 30659 Hannover www.hdi.de/medletter 2/2