Quelle Ressort Autor Copyright Berliner Zeitung vom 16.02.2005, Seite 15 Wissenschaft Ulrike Gebhardt Berliner Zeitung Fremdlinge aus der Tiefsee Vierhundert Meter tief im Meeresboden leben Bakterien unter unwirtlichen Bedingungen Es müssen nicht unbedingt Huygens und der Saturnmond Titan sein. Auch ein zweimonatiger Pazifik-Trip mit einem Spezialbohrschiff kann Überraschungen aus einer unbekannten Welt ans Tageslicht bringen. Tief unter dem Meeresboden leben Mikroorganismen, verborgen unter einer dicken Sedimentschicht, die in einem Zeitraum von mehreren Millionen Jahren abgelagert wurde. Wie die Bakterien das aushalten, ist rätselhaft. Der Mikrobiologe Heribert Cypionka war mit an Bord eines Bohrschiffes, das vor drei Jahren zu einer Exkursion vor die pazifische Küste Südamerikas startete. Ein internationales Forscherteam bohrte auf dieser Reise sieben Löcher in den Meeresboden und holte Proben heraus. Diese Arbeit erforderte hohes Geschick. Denn bei Wassertiefen von manchmal 5 300 Meter und bis zu 420 Meter dicken Sedimenten musste das Schiff stundenlang genau über dem Bohrloch gehalten werden, bis die Bohrkerne - sie sind 9,5 Meter lang und rund 8 Zentimeter dick - an die Wasseroberfläche gehoben werden konnten. Noch auf dem Schiff löste Cypionka mit seinen Mitarbeitern die Sedimentproben aus unterschiedlichen Tiefen in Nährmedien auf. Eine oftmals unangenehme Arbeit, berichtet Cypionka: "Manchmal stanken die Sedimente so, dass wir Kopfschmerzen bekamen. Wenn man sich aber klar machte, dass der Geruch ein Beweis für die Aktivität von Bakterien ist, ließ es sich besser ertragen." Die Mühe lohnte sich: Als Heribert Cypionka zu Hause ankam, hatte er rund sechstausend Proben mit bakteriellen Bewohnern aus den Tiefen des Meeresbodens im Gepäck. Inzwischen sind rund 170 Bakterienkulturen in Cypionkas Labor im Oldenburger Uni-Institut für Chemie und Biologie des Meeres angewachsen - und sie vermehren sich, weit entfernt von der Heimat. "Wir besitzen jetzt die weltweit wohl größte Sammlung von Bakterien, die in der tiefen Biosphäre leben", sagt der stolze Mikrobiologe. Viel Spürsinn ist nötig, um herauszufinden, welche Bedürfnisse die Gäste aus der Tiefe haben. Die Bakterien leben dort unter Bedingungen, die sich völlig von denen auf der Erdoberfläche unterscheiden: in absoluter Dunkelheit, ohne Sauerstoff und unter einem enormen Druck. Damit sich die Sedimentbewohner im Labor heimisch fühlen, werden sie von den Forschern mit stark verdünnten Nährlösungen gefüttert. Die Verdünnung sei erforderlich, weil die Bakterien in der Meerestiefe auf karge Kost eingestellt seien, sagt Bo Barker Jørgensen vom Max-Planck-Institut für marine Mikrobiologie in Bremen. Jørgensen war einer der Leiter der Exkursion. Als Futterquellen stehen den Bakterien sowohl organisches Material als auch Wasserstoff, Eisen und Methan zur Verfügung - alles jedoch nur in vergleichsweise winzigen Mengen. Dennoch gelingt es den Kleinstlebewesen, daraus genug Energie für den eigenen Stoffwechsel zu gewinnen. "Wie sie das schaffen, ist für mich das größte Rätsel", sagt Jørgensen. Das Leben in den Tiefen der Sedimentschicht unterhalb einer Wassersäule von 5 000 Metern läuft offenbar in einer Art Ultrazeitlupe ab. "Weil die Bakterien mit so wenig Energie auskommen müssen, können sie sich nur extrem langsam vermehren", sagt Jørgensen. Die durchschnittlich Verdopplungszeit dürfte bei tausend Jahren liegen. Schließlich müssen die Bakterien eine bestimmte Menge Futter verwertet haben, um sich vermehren zu können, betont Heribert Cypionka. Glücklicherweise lässt sich der Lebenszyklus mancher Hungerkünstler aus dem Meer im Labor beschleunigen. Davon profitieren nicht nur die Oldenburger Doktoranden, die ihre Arbeit nach drei Jahren abgeschlossen haben sollten, sondern auch alle anderen Wissenschaftler, die den Stoffwechsel und die Vermehrung der Bakterien untersuchen. Eine zusätzliche chemische Analyse der Sedimentproben von der Pazifikexkursion lieferte einen weiteren Beweis für die Aktivität von Mikroorganismen tief unter dem Meeresboden. Die Art und Weise wie chemische Substanzen - etwa Sulfat oder Methan - in unterschiedlichen Sedimenttiefen auftauchen und wieder verschwinden, lässt sich nur durch die Stoffwechselaktivität von Bakterien erklären. Diese ist von elementarer Bedeutung, etwa für die globalen Stoffkreisläufe. Denn schätzungsweise 10 bis 60 Prozent der Gesamtmasse aller Lebewesen der Erde sind in den tiefen Sedimenten verborgen. Bo Barker Jørgensen: "Die Mikroorganismen in der Tiefe haben einen großen Einfluss auf die Chemie der ganzen Erde." Auch drei Jahre nach der Exkursion stecken die Wissenschaftler noch mitten in der Auswertung. Die Eigenarten der bakteriellen Bewohner aus der Tiefe müssen bestimmt werden. Bislang konnten mit genetischen Methoden enge Verwandtschaftsbeziehungen zu 18 bekannten Bakterienarten aufgedeckt werden. Darüber berichteten Cypionka und Jørgensen im Dezember im Wissenschaftsmagazin Science. "Wir finden viele Bakterientypen, die mit Wurzelknöllchenbakterien (Rhizobium) hier auf der Erde verwandt sind. Damit haben wir überhaupt nicht gerechnet, und was sie dort unten tun, verstehen wir noch nicht," sagt Cypionka. Bei anderen der kultivierten Bakterien handelt es sich um völlig unbekannte Arten. Science, Bd. 306, S. 2216 45