Weltbilder im Wandel Als eine große Pestepidemie London 1666 in Angst und Schrecken versetzte, zog sich der englische Mathematiker und Physiker Isaac Newton auf das Land zurück und arbeitete dort seine neue Theorie der Gravitation aus. Schon Johannes Kepler hatte darüber nachgedacht, dass auf Himmelskörpern eine Anziehungskraft existieren müsse. Deshalb müssten Steine überall herunterfallen. Er hatte sogar analog zur magnetischen Kraft eine Kraft in der Sonne angenommen, die strahlenförmig von der Sonne ausging. Diese Kraftstrahlen drehten sich zusammen mit der Sonne um ihre Achse. Sie sollten alle Planeten inklusive der Erde mit um die Sonne herumreißen. Kepler dachte auch darüber nach, an welchem Punkt im Weltraum die Anziehungskraft des Monds und der Erde sich genau ausgleichen würden. Aber war die Kraft der Sonne auf die Planeten oder die der Erde auf den Mond dieselbe Kraft, mit der Steine auf die Erde gezogen wurden? Der Philosoph und Mathematiker René Descartes sagte: „Nein.“ Die Kräfte zwischen Sonnen im Weltall (er hielt schon alle Sterne für Sonnen) und Planeten vermittelte nach seiner Vorstellung ein unsichtbarer Hilfsstoff, der um die Sonnen herumwirbelte und alle Planeten mitriss, so wie ein Wasserwirbel das mit Blättern und anderen leichten Teilchen tut. ↑3 Aber mit dieser Wirbelvorstellung konnte man nicht mathematisch arbeiten. So war es beispielsweise unmöglich, die keplerschen Gesetze der Planetenbewegung herzuleiten. > Isaac Newton glaubte zunächst ebenfalls an solche Wirbel. Später aber nahm er stattdessen an, dass es eine Kraft gibt, die in den Sonnen, Planeten und Monden steckt und die über große Entfernungen wirkt: die Schwerkraft oder Gravitationskraft. Sie sollte mit zunehmender Entfernung quadratisch abnehmen. Die Gravitationskraft war für Newton die gemeinsame Ursache dafür, dass sich Planeten um ihre Sonnen bewegen und dass Steine auf die Erde fallen. 3 Das Weltall mit unzähligen Sonnensystemen (nach Descartes): Himmelswirbel, die hier wie Wolken aussehen, bewegen die Planeten. Johannes Kepler – magnetische Anziehung René Descartes – Wirbel Isaac Newton – Gravitation 33 34 1 Gravitationsgesetz Das mechanische Weltbild Warum fällt eigentlich der Mond nicht auf die Erde wie ein Stein? Diese Frage führte Newton zu seinen drei berühmten Axiomen der Mechanik, von denen schon das erste scharf gegen die griechische Theorie der Bewe­ gung gerichtet war: Nicht die Kreisbewegung war die natürlichste aller Bewegungen. Vielmehr bewegt sich jeder Gegenstand geradlinig weiter, ohne schneller oder langsamer zu werden, wenn keine Kraft auf ihn wirkt. Ein Stein, der weggeworfen wird, „versucht“ also, seine geradlinige Be­ wegung beizubehalten. Dabei dreht er sich allerdings mit der Lufthülle und der Erde um den Erdmittelpunkt weiter. Die Schwerkraft zieht ihn währenddessen zur Erde zurück, sodass er schließlich in einer gekrümmten Kurve herunterfällt. Je schneller man ihn abwirft, desto länger braucht die Schwerkraft, ihn zurückzuziehen, und desto weiter wird die Kurve, in der er zur Erde zurückfällt. Und wenn man ihn schnell genug werfen könnte, würde seine Fallkurve so weit reichen, dass er schließlich um die ganze Erde herumfällt – wie der Mond. ↑1 Newton nahm nun: – den Erdradius (der damals gerade neu zu umgerechnet 6370 km vermes­ sen worden war) – die Geschwindigkeit des Monds um die Erde – den Abstand des Monds von der Erde, der nach Ptolemaios durch­ schnittlich 60 Erdradien betrug Daraus berechnete er, dass die Anziehungskraft der Erde, wie wir sie bei fallenden Steinen messen können, im Abstand des Monds in der Tat genau quadratisch abgenommen hat: Beide Kräfte sind also identisch. Himmels­ kräfte auf die Planeten und irdische Kräfte auf Steine sind ein und dassel­ be! Auf der Erde wie im Himmel gilt das gleiche Gesetz der Schwerkraft. Newton formulierte es dann auch als Erster mathematisch. Die Mechanik des Himmels und der Erde sind gleich, nicht völlig unterschiedlich wie noch in der griechischen Antike und im Mittelalter gedacht. Schon im 18. Jahrhundert glaubte man, mithilfe der Mechanik alle Vor­ gänge und sogar Lebewesen erklären zu können. ↑2 ↑3 2 Die Ente: ein mechanisches Lebe­ wesen? 3 Mechanisches Modell der Bewegungen im Sonnensystem 35 Das mechanische Bild des Himmels wurde jedenfalls sehr erfolgreich: – Edmond Halley, ein Freund Newtons, wies nach, dass Kometen, die man alle 76 Jahre gesehen hatte, ein und derselbe Himmelskörper wa­ ren. ↑4 Er gehorcht dem Gravitationsgesetz genauso wie die Planeten und bewegt sich in einer lang gestreckten Ellipse um die Sonne herum. – Ebbe und Flut ließen sich nun durch die Anziehungskraft des Monds verhältnismäßig einfach erklären. – Kleine Schwankungen der Bahn von Uranus – der Planet war 1781 von Herschel entdeckt worden – ließen vermuten, dass ein noch weiter außen kreisender Himmelskörper mit seiner Schwerkraft auf den Uranus wirkte. John Couch Adams und Urbain Le Verrier berechneten unabhängig voneinander die Bahn des unbekannten Planeten. Le Verrier bat den Ber­ liner Astronomen Johann Gottfried Galle, nach dem Planeten zu su­ chen – und der fand ihn nahe am vorausberechneten Ort. ↑5 Die sensatio­ nelle Neuigkeit stieß auch in der Öffentlichkeit auf ungeheures Interesse: Die Entdeckung des Neptuns aufgrund von Berechnungen wurde als gro­ ßer Triumph der newtonschen Himmelsmechanik und des menschlichen Verstands gefeiert. (Noch mehr Interesse allerdings erhielt der Streit, wem die Anerkennung gebührte, den Neptun gefunden zu haben.) 4 Halleyscher Komet: Als er 1456 gesichtet wurde, wurde der Komet von Papst Calixtus III. exorziert. 5 23. September 1846: Entdeckungskarte des Planeten Neptun, gezeichnet von Johann Gottfried Galle (1812–1910) Kein ernsthafter Wissenschaftler zweifelte noch daran, dass die Sonne mit ihrer überwältigend großen Masse im Zentrum aller Planetenbahnen steht. Dass das Volumen der Sonne mehr als eine Million Mal größer als das der Erde ist, erschloss man aus der jetzt richtig bekannten Entfernung: Der Ab­ stand zwischen Erde und Sonne ist nicht 19­mal so groß wie der zwischen Erde und Mond (wie die Antike geglaubt hatte), sondern 382­mal. Es dauerte allerdings noch weitere 100 Jahre, bis 1838 die lange gesuchte Fixsternparallaxe entdeckt wurde, der direkte Beweis für die jährliche Bewe­ gung der Erde um die Sonne. Friedrich Wilhelm Bessel entdeckte, dass sich ein kleiner Stern im Sternbild Schwan im Rhythmus der Erdbewegung um etwa 0,3 Bogensekunden hin und her bewegt. ↑6 Aus der Entfernung Erde–Sonne berechnete er, dass der Stern rund 100 Billionen Kilometer ent­ fernt sein musste – 500 000­mal weiter als die Sonne von der Erde! Dabei war dies einer der allernächsten Sterne. Und Ptolemaios hatte noch geglaubt, dass alle Fixsterne nur 18­mal weiter weg standen als die Sonne! < 6 Bessels Fernrohr (Heliometer), von Fraunhofer gebaut 36 „Nebel“ im Weltall zeigten sich bald mithilfe der immer größeren Fernrohre ↑1 als Ansammlung ungeheuer vieler Sterne, ähnlich unserer Milchstraße. Viele hatten eine spiralige Struktur, wie sie van Gogh malte. > 1 40-Fuß-Teleskop (1790) von ­Friedrich Wilhelm Herschel Der Himmel als physikalisch­chemisches Labor 2 Fraunhofers Spektralapparat: Das Glasprisma zerlegt das Sonnen­licht in seine Farben. Mit dem Fernrohr werden sie beobachtet. 4 Ein Roter Riese umkreist einen Weißen Zwerg (nicht sichtbar im Z ­ entrum der kleinen hellen Gasscheibe). Um das Jahr 1814 gelang dem Münchner Optiker Joseph Fraunhofer eine seltsame Entdeckung, die die ganze Astronomie und ihr Weltbild noch einmal revolutionieren sollte. Im Farbspektrum des Sonnenlichts von Rot bis Violett beobachtete er Hunderte von dunklen Linien (heute kennen wir Zehntausende)! ↑2 ↑3 Bald wurde klar: Diese Linien geben an, welche chemischen Elemente wie stark in der Gashülle der Sonne vorhanden sind. Nun begann eine ganz neue Astrophysik mithilfe der neuen Methode: der Spektralanalyse. Schon Ende des Jahrhunderts waren Tausende von Sternen fotografiert und ihre Spektren verglichen. (Diese Spektren werden auch als Absorptionsspektren bezeichnet – vielleicht hast du sie bereits in der Jahrgangsstufe 9 kennengelernt.) Es gab offensichtlich im Weltall keine anderen chemischen Elemente als auf der Erde. 3 Die dunklen Linien im Sonnenspektrum, die Fraunhofer etwa 1814 fand Mit dem inzwischen etablierten Energieerhaltungssatz wurde klar, dass die Sterne ihre Energie über Zigtausende von Jahren nicht aus dem Nichts erzeugen können. Irgendwann muss ihre Strahlung verlöschen. Doch woher kommt diese Energie und wie entwickeln sich Sterne im Lauf ihres „Lebens“? Sie müssen offensichtlich aus sehr heißen Gasen bestehen. Ihre Oberfläche hat aber je nach Stern sehr unterschiedliche Temperaturen. Bei unserer Sonne ermittelte man eine Oberflächentemperatur von rund 5500 °C. Kurz nach 1900 entdeckte man viel größere Sterne als unsere Sonne, die aber nicht so heiß waren. Sie leuchteten rötlich, sodass man sie Rote Riesen nannte. ↑4 Außerdem wurden Sterne entdeckt, die wesentlich kleiner als unsere Sonne waren, aber sehr viel heißer: die Weißen Zwerge. Aber wo sie im Lebensweg der Sterne standen, war noch weiterhin ein Geheimnis. Immerhin, aus dem so unglaublich großen Weltall hatte die neue Astrophysik ein Labor für Sternphysik und -chemie gemacht. <