SEMINAR Diabetes und Schilddrüsenfunktionsstörungen Endokrinologischer Check macht Sinn MMW-Fortbildungsinitiative: Diabetologie für den Hausarzt Regelmäßiger Sonderteil der MMW-Fortschritte der Medizin Petra-Maria Schumm-Draeger Herausgeber: Fachkommission Diabetes in Bayern – Landesverband der Deutschen Dia­betesGesellschaft, Dr. med. Andreas Liebl (1. Vorsitzender) m&i-Fachklinik Bad Heilbrunn Wörnerweg 30, D-83670 Bad Heilbrunn Bei Diabetikern kann eine chronisch schlechte Stoffwechseleinstellung die Hormonpara­meter verändern. Insbesondere bei akuter Stoff­ wechselentgleisung müssen Sie deshalb auch an eine endokrinologische Ursache denken und diese abklären. Häufig liegt eine Hyperthyreose vor, die die Insulin­resistenz verstärkt und die Insulin­ausschüttung hemmt. Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Angiologie, Klinikum Bogen­ hausen, München Diabetes und Schilddrüsenüberfunktion Bei bis zu 57% der Patienten mit unbehandelter Hyperthyreose wird eine gestörte Glukosetoleranz gefunden, bei 2–3,5% ein manifester Diabetes mellitus. Die Häufigkeit einer Hyperthyreose bei Diabetes liegt ähnlich hoch wie bei nicht diabetischen Kontrollpersonen. Allerdings ist eine erhöhte Inzidenz des gemeinsamen Auftretens von Typ-1-Dia­ betes und immunologisch ausgelös­ter Hyperthyreose Morbus Basedow mit und ohne endokrine Orbitopathie belegt. Der Glukosestoffwechsel bei Hyperthyreose wird durch die Mechanismen in Tabelle 1 gestört. Hier spielen die verstärkte Insulinresistenz, eine pathologische Glukagonfreisetzung, verstärk­te Glykogenolyse in der Leber, reduzierte Insulinsekretion des Pankreas und gesteigerte renale Insulin­clearance eine wichtige Rolle [17]. Die Veränderungen MMW-Fortschr. Med. Nr. 11 / 2012 (154. Jg.) des Kohlenhydratstoffwechsels norma­ lisieren sich nach Erreichen einer euthy­ reoten Stoffwechsel­lage vollständig. den Therapeuten ist es äußerst wichtig, immer die Ursachen der Blutzuckerentgleisung zu erforschen und nicht grundsätzlich ein Fehlverhalten oder mangelnde Compliance zu vermuten. Bei Diabetikern mit entgleister Stoffwechselsituation und Hyperthyreose muss die antidiabetische Therapie immer intensiviert werden. Bei insulinpflichtigen Diabetikern ist eine deutliche Steigerung der Insulintagesdosen oder eine Intensivierung des Insulinregimes zwingend. Ähnliche Symptome bei Hyperthyreose und Stoffwechselentgleisung Bei Diabetes mellitus ist das Auftreten einer Hyperthyreose immer problematisch, da der Stoffwechsel mit der Dauer der Überfunktion zunehmend entgleist. Die Situation der Patienten wird oft fehlinterpretiert [12], da die klinischen Symptome der Hyperthyreose und der Stoffwechselentgleisung ähnlich sind (z. B. Gewichtsverlust, Abgeschlagenheit und Müdigkeit). Schwerwiegende Fehlinterpretationen der Situa­tion durch den Arzt oder die Diabetesberaterin (Insulinfehldosierung, kein Insulin gespritzt, falsche BE-KE-Menge gegessen) sind daher häufig. Zudem kann ein Niedrig-T3-Syndrom die an sich hohen Serum-T3-Werte der Hyperthyreose laborchemisch maskieren. In der Diabetes- und Ernährungsberatung muss daher auch bei der Interpretation von unklar außerhalb des Zielbereiches liegenden Blutzuckerprofilen und nach Sicherstellung der richtigen Insulin- und BE-KE-Berechnung eine Störung der Schilddrüsenfunktion abgeklärt werden. Für die Motivation der Patienten und die Zusammenarbeit mit © Klaus Rose Prof. Dr. Petra-Maria Schumm-Draeger Redaktion: Priv.-Doz. Dr. M. Hummel (Koordination); Prof. Dr. L. Schaaf (wissenschaftliche Leitung) Bei Frauen mit Typ-1-Diabetes ist eine regelmäßige Untersuchung der Schilddrüse wichtig, v. a. im gebärfähigen Alter. 59 SEMINAR – FORTBILDUNG Es muss über Schulungen sichergestellt sein, dass die Patienten in der Lage sind, ihre BE-KE-Mengen für die Mahlzeit korrekt einzuschätzen und die zuvor mit dem Arzt festgelegte Insulinmenge richtig zu berechnen. Die täglichen Blutzuckerselbstkontrollen müssen bis zur Stabilisierung der Stoffwechsellage sehr engmaschig erfolgen. Bei Dia­betikern mit oralen Antidiabetika ist fast immer eine passagere Insulintherapie nötig. Nach erfolgreicher Behandlung der Schilddrüsen­überfunktion (thyreostatische Therapie, Schilddrüsen­-Op. oder 131-Radio-Jod-Behandlung) kann das vor der Hyperthyreose gültige Behandlungsregime wieder eingeführt werden. Struma und Schilddrüsenknoten In Deutschland hat jeder Dritte einen Kropf oder Schilddrüsenknoten, ab dem 45. Lebensjahr hat nahezu jede zweite Frau Schilddrüsenknoten [18]. Die Hyperthyreo­se entsteht überwiegend in heißen autonomen Knoten. Mit steigender Prävalenz von Typ-2-Diabetes tritt häufig beides zusammen auf. Für den einzelnen Patienten ist es wichtig, dass Stoffwechsel­ent­gleisungen bzw. ein schwer einstellbarer Diabetes bei oft lange unerkannter Schilddrüsenüberfunktion konsequent beachtet, diagnostiziert und rechtzeitig behandelt werden. Schon bei einer subklinischen Hyperthyreose mit supprimiertem niedrigem Serum-TSH-Wert und normalen fT4- und fT3-Werten ist mit einer verstärkten Neigung zu Hyperglykämien zu rechnen. Dies macht eine normnahe Blutzuckereinstellung und Einschätzung der richtigen Kohlenhydratmenge und Insulindosis schwierig. Zudem steigt bereits bei subklini­ scher Hyperthyreo­se das kardiovasku- Tabelle 1 Folgen endokriner Funktionsstörungen bei Patienten mit Diabetes mellitus 60 Endokrine Funktionsstörung Einfluss auf die Stoffwechselkontrolle Hyperthyreose Insulinresistenz Insulinsekretion gestörte Glukosetoleranz, (erhöhte Glukagonfreisetzung, verstärkte Glykogenolyse) bei bestehendem Diabetes: Stoffwechselentgleisung Hypothyreose Insulinsensitivität Glukoseaufnahme Hypoglykämiegefahr Hyperkortizismus (z. B. Cushing-Syndrom) Glukoneogenese Insulinresistenz Gestörte Glukosetoleranz, Diabetesmanifestation, bei bestehendem Diabetes: Stoffwechselentgleisung Hypokortizismus (z. B. Morbus Addison) Insulinsensitivität Glukoneogenese Hypoglykämiegefahr! Wachstumshormonexzess (z. B. Akromegalie) Insulinsenresistenz Hyperinsulinismus gestörte Glukosetoleranz, Diabetesmanifestation Wachstumshormonmangel Insulinsensitivität Gegenregulation bei Hypoglykämien beeinträchtigt! Phäochromozytom Glykogenolyse Insulinsekretion gestörte Glukosetoleranz Gegenregulation bei Hypoglykämien beeinträchtigt! Hyperaldosteronismus (z. B. Morbus Conn) Insulinausschüttung (Hypokaliämie!) mäßig gestörte Glukosetoleranz läre Risiko. Schon bei Serum-TSH-Werten von 0,5 mU/l treten signifikant häufiger Tachyarrhythmien und Vorhofflimmern auf [15]. Daher ist es wichtig, auch die subklinische Hyperthyreose rechtzeitig suffizient zu behandeln. Voraussetzung für die Früherkennung ist eine exzellente Zusammenarbeit im interdisziplinären Diabetesteam. Diabetes und endokrine Orbitopathie Besonders schwierig ist die Therapie bei Diabetes, Morbus Basedow und behandlungsbedürftiger endokriner Orbitopathie [10]. Steroide und eine Retrobulbärbestrahlung bei der Behandlung der endokrinen Orbitopathie gefährden Diabetiker in besonderem Maße. Die hoch dosierte Steroidtherapie erhöht das Risiko für eine Stoffwechselentgleisung. Sie muss sehr sorgfältig und engmaschig von Experten der Diabetologie und Endokrinologie überwacht werden. Eine Retrobulbärbestrahlung verbietet sich bei manifester diabetischer Retinopathie. Sie sollte aber auch ohne diese Diagnose vermieden werden, um den Gesamtbefund nicht noch mehr zu gefährden. So ergibt sich ein äußerst schmales Therapiespektrum bei Diabetes und endokriner Orbitopathie. Diabetes und Schilddrüsenunterfunktion Eine sehr schlechte Stoffwechseleinstellung bzw. -entgleisung bei Typ-1- und Typ-2-Diabetikern führt zu einem sogenannten „Niedrig-T3-Syndrom“. Typischerweise äußert sich dieses in ernied­ rig­tem Serum-T3 (Trijodthyronin) und erhöhtem biologisch inaktiven rT3 (reverses T3). Serum-T4 (Thyroxin) und fT4 (freies Thyroxin) sowie basales Serum-TSH liegen meist im Normal­ bereich. Nur bei Patienten mit einer Keto­azidose sowie bei neu entdecktem Typ-2-Diabetes wurde auch ein verminderter TSH-Anstieg nach TRH-Gabe beschrieben [12]. Offenbar ist eine verminderte Aktivität der 5‘-Mono­dejodinase die Ursache für das Niedrig-T3-Syndrom, dessen Bedeutung noch nicht endgültig geklärt ist. Es ist aber nicht als Hypothyreose, MMW-Fortschr. Med. Nr. 11 / 2012 (154. Jg.) sondern eher als Schutzmechanismus im Rahmen des schweren Krankheitszustandes einzustufen. Nach Stabilisierung der Stoffwechsellage bei Dia­betes normalisieren sich die Schilddrüsenhormonwerte völlig. Es ist davon auszugehen, dass eine spezifische Therapie nicht sinnvoll ist, und der spontane Verlauf bei adäquater Diabetestherapie abgewartet werden kann. Hypoglykämie, Lipide, Herz und Hirn Ein typischer Befund bei manifester Hypothyreose sind die im oralen Glukosetoleranztest auffällig verminderten Serumglukosewerte. Meist kommt es bei ansonsten Stoffwechselgesunden nicht zum Auftreten von Unterzuckerungen. Bei Diabetikern führt eine manifeste bzw. auch schon subklinische Hypothyreose durch verschiedene Mechanismen (Tab. 1), vor allem durch einen sinkenden Insulinbedarf und eine höhere In­ sulinsensitivität, zu einer deutlich verstärkten Hypoglykämieneigung. Die Normalisierung der Lage durch die Subs­titution mit Schilddrüsenhormon stabilisiert den Stoffwechsel und die Hypoglykämiehäufigkeit. Auch der Lipidstoffwechsel wird durch die Hypothyreose negativ beeinflusst (v. a. steigendes LDL- und Gesamt-Cholesterin). Zudem wurde bereits bei subklinischer Hypothyreose eine Abnahme des belastungsabhängigen Schlagvolumens und der Belastungs­ kapazität des Herzens dokumentiert. Auch die zerebrale Leistungsfähigkeit nimmt ab (z. B. Gedächtnisprobleme). Die häufigste Ursache der Hypothyreose in Deutschland ist die Autoimmunthyreoiditis, überwiegend in ihrer atrophischen Form. Die Prävalenz ist bei Typ-1-Diabetikern drei- bis fünfmal höher als bei Menschen, die keine Autoimmunendokrinopathie, insbesondere keinen Typ-1-Diabetes haben. Autoimmunthyreoiditis Die Autoimmunthyreoiditis ist bei Frauen fünf- bis zehnmal häufiger als bei Männern. Bei Typ-1- wie Typ-2-Dia­ betes und vermehrt bei Frauen mit einem Erkrankungsgipfel ab dem 50. bis MMW-Fortschr. Med. Nr. 11 / 2012 (154. Jg.) © Marazzi/SPL/Agentur Focus SEMINAR – FORTBILDUNG Nach der Entbindung sollte v. a. bei unklarer Über- oder Unterzuckerung die Schilddrüse untersucht werden. Sehr wichtig ist auch, dass bereits eine milde Schilddrüsenunterfunktion häufiger Störungen des Schwangerschaftsverlaufes und Fehlentwicklungen des Kindes zur Folge hat [5]. TSHWerte müssen auch bei Diabetes und endokrine Orbitopathie: schwierig zu milder Unterfunktion in behandeln. den Zielbereich (0,5–2,0 60. Lebensjahr besteht ein deutlich ermE/l TSH) eingestellt werden, um einen höhtes Risiko für eine Hypothyreose innormalen Schwangerschaftsverlauf und folge eines autoimmunen Schilddrüseneine gesunde Kindesentwicklung zu prozesses. Wichtig ist, dass Typ-1-Diagewähr­leisten. betikerinnen deutlich häufiger eine Post-Partum-Thyreoiditis entwickeln. Wechseljahre Diese kann im ersten Jahr nach der EntBesonders zu beachten ist die Phase der bindung sowohl zur Hyper- als auch zur Wechseljahre, wenn weibliche Hormone Hypothyreose mit entsprechenden Aussubstituiert werden. Bei schon behanwirkungen auf die Stoffwechselkontrolle delter Unterfunktion ist eine Steigerung führen. Frauen, die eine Post-Partumder Schilddrüsenhormone notwendig, Thyreoiditis durchgemacht haben, entum den TSH-Wert bei gleichzeitiger wickeln im Langzeitverlauf in bis zu 30– Östrogengabe im Zielbereich zu halten. 50% eine permanente Hypothyreose als Dies entspricht der Situation in der Folge eines chronischen AutoimmunSchwangerschaft. Auch hier ist eine Doprozesses. sissteigerung bei mindestens 70% der Aufgrund erheblicher Auswirkungen Patientinnen um 25–50 µg Schilddrüder Schilddrüsenunterfunktion auf die senhormon pro Tag notwendig, um eine Stoffwechselkontrolle, v. a. bei insunormale Stoffwechsellage zu halten. Bei linpflichtigem Diabetes, ist mindes­tens unzureichender Schilddrüsenhormoneinmal im Jahr ein Screening der Schildgabe kann eine erneute Unterfunktion drüsenfunktion (Serum-TSH) und spemit vermehrter Hypoglykämieneigung zifischer Antikörper (TPO-AK, Schildauftreten. drüsenperoxidase-AK) notwendig [1]. Literatur unter mmw.de Schwangerschaft und Stillperiode Bei Typ-1-Diabetikerinnen sind im VerAnschrift der Verfasserin: Prof. Dr. med. Petra-Maria Schumm-Draeger lauf von Schwangerschaft und Stillpe­ Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und riode sorgfältige Kontrollen der SchildAngiologie, Klinikum Bogenhausen drüsenfunktion nötig (vor allem TSH Städtisches Klinikum München GmbH sowie Schilddrüsen-Antikörper). Bei ihEnglschalkinger Str. 77, D-81925 München nen treten häufiger AutoimmunerkranE-Mail: petra-maria.schumm-draeger@ klinikum-muenchen.de kungen der Schilddrüse, Hyper- (Morbus Basedow) und Hypothyreose auf [2, 11, 13]. Bereits vor Eintreten der Keywords Schwangerschaft sollte die StoffwechselDiabetes and Thyroid Dysfunction lage verbessert werden und in jedem Diabetes – thyroid hyper- and hypoSchwangerschaftsabschnitt die Schildfunction drüsenfunktion geprüft und auf Antikörper getestet werden. 61