PDF Philosophien vom Nichts und ihre übermenschliche Konsequenz

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Roland Wagner
Philosophien vom Nichts und ihre übermenschliche Konsequenz
In diesem Aufsatz sei auf die schweigende Leere/das Nichts eingegangen, wie es auch bei
Nietzsche auszumachen ist. Um aber zu verstehen, was die bei Nietzsche eruierte Leere
meint, die Leerstelle jenseits des Alltagsbewusstseins ‒ und gleichsam im Jenseits von Gut
und Böse ‒, von der auch östliche wie westliche Mystik sprechen, ist es zweckdienlich
zunächst zu schauen, wie sich die Philosophie (die wissenschaftlicher daherkommt denn die
Mystik) sich dessen annimmt. Meist wird hier vom Nichts gesprochen ‒ wobei man freilich
die Haarspalterei betreiben könnte, ob das mystische Nichts, von dem z.B. Meister Eckehart
spricht, das buddhistische Nirvāna und das philosophische Nicht-Sein dasselbe meinen, oder
ob Eckehart wie Buddha letztlich ein doch ontologisches Nichts meinen, während das absolute Nichts eben nicht ist (und noch nicht einmal das). Wie auch immer: Da man vorderhand
darob streiten müsste, ob Letzteres den von der westlichen Philosophie überhaupt je erreicht wurde, sei hier der trivialste Zugang gewählt, der das Nichts und die Leere mehr oder
minder gleichsetzt.
Ludger Lütkehaus legt 1999 (2003 überarbeitete Fassung) seine große Studie Nichts.
Abschied vom Sein. Ende der Angst vor, in der er die Philosophien des Nichts als Gegenentwürfe zu Lehren des Seins, der erleuchteten Lichtmetaphysik, der Logos-Orientierung und
der Leistungsphilosophien1 auffasst:
„Andere Maximen, andre Gestalten sind nun gefragt: skeptischere, die nicht so felsenfest wissen, ob
sie überhaupt das »Haus des Seins« bewohnen wollen; weniger positivistische, für die es keineswegs
ausgemacht ist, ob die Geburt ein Geschenk, die Welt ein Licht und der Tod der Übel größtes ist; gelassenere, die das Schaffen und vielleicht auch das Sein, wenn es Zeit dafür ist, lassen könnte; weniger geschäftige, die nicht mit allen wissenschaftlichen, technischen und kommerziellen Mitteln in der
Welt herumpfuschen müssen, damit das, was die Schöpfer aller Sorten schon gemacht haben, fatalerweise immer noch besser wird.“ 2
Die Infragestellung der Seinsfixierung steht also ‒ wie bei Nietzsche ‒ im Zentrum der
Nichts-Philosophien und damit die Revidierung der ontozentrischen Weltbilder (-hierachien),
der ontomorphen Begrifflich- und Bildlichkeit, sowie der ontophilen Handlungskonzepten.3
Mephistopheles spricht angesichts des Todes Faustens das anti-ontologische Konzept des
Nichts aus:
„Was soll uns denn das ewge Schaffen? / Geschaffenes zu Nichts hinwegzuraffen? / ›Da ists vorbei!‹
Was ist da- ran zu lesen? / Es ist so gut, als wär es nicht gewesen, / Und treibt sich doch im Kreis,
als wenn es wäre. / Ich liebte mir dafür das Ewigleere.“ 4
Und überhaupt: Die Frage, warum die christlich-abendländische Tradition eine Schöpfung ex
nihilo lehrt (was die weitere Frage impliziert, warum ein vollkommenes Absolutes überhaupt
1Ludger
Lütkehaus, ‘Nichts. Abschied vom Sein. Ende der Angst’, Frankfurt am Main 2005, S. 20ff; vgl. auch
ebd., S. 63ff.; dort heißt es u.a. pointiert über die Seinsfixierung des Abendlandes: „Die heilige Dreifalt von
»Logos«, »Licht« und »Leben« steht über einer Schöpfung, die der Beginn eines Lichtfestes ist.“ – Zit. nach:
ebd., S. 64.
2Zit. nach: ebd., S. 28.
3Ebd., S. 29.
4Johann Wolfgang von Goethe, ‘Goethes Faust. Gesamtausgabe’, Wiesbaden 1959, S. 500.
2
das Bedürfnis – welches sich ja aus einem Mangel konstituiert – zur Schöpfung gehabt haben solle; und als dritte Frage das große Theodizee-Problem heraufbeschwört), hat viele
Ausflüchte hervorgebracht, aber keine überzeugende Antwort. Allenfalls klärt sie, warum dem
Menschen etwas Nichtiges anhaftet (weil er eben ex nihilo abstamme).5
Die Problematik des Nichts, welche von den Eleaten bis zu Heidegger immer wieder geäußert wird, nämlich, daß „jeder Versuch das Nichts zu denken und zu sagen, [...] nur um den
Preis eines selbstwidersprüchlichen, nichtssagenden Nichtdenkens möglich [sei]“, wird von Lütke-
haus von vornherein entkräftet mit einer (kontroversen) These:
„Gerade dann, wenn man das Nichts als das zu verabschieden sucht, worüber man schweigen muß,
weil man nicht logisch davon sprechen kann, hat man es mit einer unvermeidlichen, die Logik wie die
Ontologik sprengenden Paradoxie ausgesprochen und gedacht.“ 6
Leitet Lütkehaus vom Hamlet’schen To be or not to be zum einen ab, dass das Sein keinerlei
Vorrang vor dem Nichts habe, so verweist er zum anderen darauf, dass ein Hamlet deshalb
keineswegs zum Selbstmörder werden müsse, sondern vielmehr ein Leben in Seelenruhe
und Gelassenheit leben könne.7 Dennoch sei die Freiheit zum Tode die größte Freiheit, die
dem Menschen zustehe (eine Freiheit, die das vermeintlich freimachende Christentum nicht
gewährt), wie die antike Philosphie bereits weiß (Philosophieren heiße Sterben-Lernen) und
welche Sokrates praktiziert.8
Nicht nur bei Shakespeare, auch andernorts taucht in der Neuzeit die Sehnsucht nach dem
Nichts auf, so scheint selbst bei dem stets mit der optimistischen besten aller möglichen Welten assoziierten Leibniz durch, dass die Möglichkeit der Nicht-Schöpfung bestanden habe
und damit die Option eines Nichts, jenes aber sei „einfacher und leichter als irgendetwas“ (Leibniz, Theodizee), womit er laut Lütkehaus „die unvergleichliche Leichtigkeit des Nichts“ konstatiere.9
Hinleitung zu einer definitiven Philosophie des Nichts kann die negative Ontologie sein,
welche Lütkehaus am Topos des Schmerzes festmacht:
„Der Schmerz aber ist der praktizierende negative Ontologe: Er zeigt, was ist. Sein Zeugnis gilt
schlechthin, selbst wenn es nur eine Singularität wäre: »Das leiseste Zucken des Schmerzes, und
rege es sich nur in einem Atom, macht einen Riß in der Schöpfung von oben bis unten.« [Büchner,
Dantons Tod; R.W.] Dieser »ungeheure Riß«, der auch Büchners Lenz zerreißt, reicht tiefer als einst
derjenige, der den Vorhang im Tempel beim Tod des gottverlassenen Gottessohnes zerriß.“ 10
In Büchners Dantons Tod (1835) wird aber nicht nur der Schmerz thematisiert, sondern die
Danton-Figur ist auch Prophetin des Nichts: „Die Welt ist das Chaos. Das Nichts ist der zu gebärende Weltgott.“
11
Lüt-kehaus sieht Büchners Danton damit – unter ahistorisch-interpretatori-
schem Bezug zu Nietzsches „Gott ist tot! Und wir haben ihn getötet!“ ‒ Folgendes ausdrücken:
„Doch Danton hat eine noch fatalere Botschaft als Nietzsches »toller Mensch« zu verkünden: »Das
Nichts ist tot! Und es hat sich selber getötet!« Die Schöpfung entspringt einer doppelten Verneinung:
der Selbstnegation des Nichts. Das Sein ist das beklagenswerte Nicht-Nichts. / Damit haben wird die
5Vgl.
Lütkehaus, S. 97-130.
nach: ebd., S . 40
7Ebd., S. 43.
8Ebd., S. 50ff.
9Ebd., S. 141.
10Zit. nach: ebd., S. 78.
11Zit. nach: Georg Büchner, ‘Dantons Tod’, Stuttgart 1997, S. 73.
6Zit.
3
alten Vorzeichen verkehrt. Der einst der Natur zugeschriebene »horror vacui« ist dem »horror creationis«, dem Schrecken vor dem »Gewimmel«, das sich mit der Schöpfung breitmacht, gewichen. Das
einzige sinnvolle Ziel der Welt kann nur die potenzierte Negation der Selbstnegation des Nichts , die
Wiederherstellung des nihilistischen Paradieses, das am Anfang war.“ 12
Etwa zeitgleich mit Büchner ist es freilich Schopenhauer, der dem Nichts einen ersten Triumph im Westen gewährt: Die Gleichsetzung von Sein und Gutem wird so erschüttert, dass
das Nichts zur Leerstelle des Guten wird.13
Der Philosoph würde allein ein „glückliches Daseyn“ einem „Nichtseyn“ vorzuziehen wissen,
tatsächlich aber herrsche eine „Quaal in der Realität“, womit das Nichts die absolute Attraktivität erhalte.14 Lütkehaus indes kritisiert, dass letztlich Schopenhauer dem Nichts ein Sein
zuschreibe, seine Philosophie in einer positiven Ontologie des Nichts münde und damit die
Stelle des Absoluten wiederbesetze – mit dem Nichts.15
Im 19. Jahrhundert ist über Schopenhauer hinaus zudem der Nihilismus des Philosophen
Eduard von Hartmann (1842-1906) zu nennen,16 für den die Verwunderung über Welt, Dasein
und einen Menschen, welcher dies hinter- fragen könne, zum Nichts führt, da „die Existenz der
Welt zum Inbegriff des Unlogischen und Sinnwidrigen geworden ist: Sie ist geradezu die
Schädelstätte des »Logos«“ (Lütkehaus). Das Nichts wäre Freiheit, das Sein (von Hartmann
als ‘Nichtnichtsein’ aufgefasst) aber sei Kerker und ein ‘nicht sein Sollendes’. Da Hartmann
aber der Lust (im Gegensatz zu Schopenhauer) Positivität zugesteht, rechnet Lütkehaus
ihn letztlich der ‘Behaglichkeit der Gründerzeit’zu, und konstatiert:
17
„Der Nihilismus als geschichtsbildende Kraft, die Synthese von Gründerzeit und Nirwana, Erlösung
und Realpolitik, Bismarck und Buddha.“ 18
Zu den Absurditäten Hartmanns gehört die Idee eines gleichzeitigen gemeinsamen Entschlusses der Weltbevölkerung sich in das Nichts zu bewegen. Auf den Spotts seiner Zeitgenossen hin, revidiert er, dass es eine Hyphothese und kein Aufruf zum Massen-Selbstmord sei.19 Tatsächlich als Selbstmordprojekt versteht Philipp Mainländer (1841-1876) aber
die Welt, seine Philosophie ist so eine Suizid-Metaphysik und der Stapel der soeben erhaltenen Belegexemplare seines Hauptwerkes Die Philosophie der Erlösung dient ihm als Podest,
um sich zu erhängen.20
Maßgeblich beeinflusst ist Mainländer von Schopenhauer; ganz ähnlich wie Nietzsche entdeckt er Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung in einer Buchhandlung, fühlt sich
merkwürdig von dem Werk angezogen, erlebt eine ‘Offenbarung’ und begreift sich schon
bald als Missionar Schopenhauers.21 Auch in seinem Ende wird Mainländer Nietzsche antizi-
12Zit.
nach: Lütkehaus, S. 81.
S. 111f.
14Ebd., S. 174f.
15Ebd., S. 198.
16Ebd., S. 223-242.
17Ebd., S. 227ff.
18Zit. nach: ebd., S. 237.
19Ebd., S. 239.
20Ebd., S. 243.
21Ulrich Horstmann, ‘Der philosophische Dekomponist. Was Philipp Mainländer ausmacht’, S. 7-25; in: Philipp
Mainländer, ‘Vom Verwesen der Welt und andere Restposten. Eine Werkauswahl’, (Hrsg. Ulrich Horstmann),
Waltrop / Leipzig 2004, S. 8f.
13Ebd.,
4
pieren: Er erleidet einen Zusammenbruch, ist überzeugt, dass durch ihn „die Gottheit schreibt“
und:22
„Er spürt eine ungeheure Metamorphose, glaubt sich nicht mehr todgeweiht, sondern schon verklärt,
will im Handumdrehen vom Philosophen und Theoretiker der Erlösung zum politischen Heiland werden
[...].“ 23
Anklingend an reaktionäre Urzeit-Lehren existiert für Mainländer einst eine ‘überseiende Einheit’, deren unglücklichen Exilanten die Menschen seien. Die einstige Einheit (Gott) aber sei
unwiderruflich tot; da aber (in konservativer Manier) Gott keine Fehler begehe, haben die
Menschen ihm ins Nichts nachzufolgen.24 Umgekehrt zu Leibniz argumentiert Mainländer,
dass die Faktizität des Seins die Normativität des Nichts belege und dass die Welt das Nichtsein-Sollende, das Nichts aber das Sein-Sollende sei.25
Ulrich Horstmann beschreibt Mailänders Philosophie als „Lehre vom All-Zerfall, [s]eines Vernichtungsidealismus“, konvergierend zum heutigen physikalischen Weltbild und Entropie,
Chaostheorie und Urknall vorwegnehmend:
„Die Philosophie Mainländers wehrt sich [...] nicht gegen den Abrieb des Seins, sondern schlägt
sich rücksichtslos auf die Seite des Ruinösen – eine Allianz, aus der paradoxerweise eine politische
Radikalität erwächst, die z.B. die freie Liebe und den Kommunismus propagiert. Das aber ist nur auf
den ersten Blick verwunderlich, denn ein Denken, das die »Fließrichtung« alles Existierenden bejaht,
will ja die weitere Beschleunigung, die Erhöhung des Gefälles, und räumt deshalb Blockaden, Sperren, Widerstände und andere retardierende Faktoren aus dem Weg. / Außerdem ist die realisierte soziale Utopie, die Mainländer den »idealen Staat« nennt, nicht Endziel, sondern ihrerseits Mittel zum
Zweck. Sie leitet die Selbstaufhebung einer gerade durch das Wohlleben und die herrschenden paradiesischen Zustände vollständig desillusionierten und lebensüberdrüssig gewordenen Menschheit ein
– eine Selbstnegation [...]: »Es handelt sich nicht darum, ein Geschlecht von Engeln zu erziehen,
das dann immerfort existiere, sondern um Erlösung vom Dasein.«“ 26
Beeindruckend ist dabei, dass es Mainländer gelingt „den Kosmos zum Trümmerhaufen abzuschminken und gleichzeitig das menschliche Selbstgefühl zu retten und zu stabilisieren.“
27
Letztlich hat die Philosophie der Erlösung gar einen künstlerischen Aspekt, denn, wie Horstmann bemerkt, ist für Mainländer „die Welt ein makelloses Kunstwerk, ein Gedicht an Autodestruktion”. 28
Das Endziel des Nichts ist aber auch hier letztlich das alte Absolute, begriffen als totale Leerstelle. Für Mainländer bedeutet das Ende aller menschlicher Existenz so auch:
„Dann ist Gott tatsächlich aus dem Übersein, durch das Werden, in das Nichtssein übergetreten; ... in
das absolute Nichts, die absolute Leere, in das nihil negativum. Es ist vollbracht.“ 29
Dabei schreibt sich der Philosoph nach eigenem Verständnis ein in die Tradition von Buddhismus und reinem Christentum, aber auch von Kant und Schopenhauer. Adressat ist eine
mündige Menschheit.30
22Ebd.,
S. 11f.
nach: ebd., S. 12.
24Lütkehaus S. 247ff.
25Ebd., S. 259.
26Zit. nach: Horstmann, S. 14ff.
27Zit. nach: ebd., S. 20.
28Zit. nach: ebd., S. 21.
29Zit. nach: Mainländer, S. 82.
30Ebd., S. 31. – An späterer Stelle wird deutlich, dass Mainländer vor allem Buddha und Jesus wegen deren Sinnesrückzug verehrt; er deutet sie als vorbildlich auf den Suizid hin ausgerichtet. – Vgl. ebd., S. 115ff.
23Zit.
5
Eröffnend verweist Mainländer in Die Philosophie der Erlösung auf die jahrtausendealte
Problematik der Dichtomie Vielheit und Einheit;31 dabei (dem Leser dieser Arbeit kein unbekannter Gedanke) hält er die Einheit (sprich: Gott) für verloren:
„Aber diese einfache Einheit ist gewesen; sie ist nicht mehr. Sie hat sich, ihr Wesen verändernd, voll
und ganz zu einer Welt der Vielheit zersplittert. Gott ist gestorben und sein Tod war das Leben der
Welt.“ 32
Anstelle einer ‘Einheit’ sieht Mainländer heuer vielmehr das Nichts gegeben, womit er analog zum Buddhismus denkt: die Vielheit der Welt, Māyā, als unwirklicher Schein und dem
gegenüber das Nichts – oder in buddhistischer Terminologie: das Nirvāna.33
Lütkehaus verweist u.a. auf den Denkfehler Mainländers, dass nicht erklärbar sei, warum
Gott überhaupt existiere, wenn er eigentlich das Nichts präferiere. Das aber lässt folgende
Lütkehaus’sche Interpretation zu:
„Anders als ein Selbstmörder, der souverän todesunmittelbar Hand an sich legt, ist der Schöpfer zu
keinem autonomen Selbstmordprojekt imstande. Er braucht die Geburtshilfe des Seins für seine Euthanasie. / Das wertet die Geschöpfe gegenüber dem vormaligen Herrn über Leben und Tod als Sterbehelfer auf.“ 34
Vielleicht erklärt das auch Mainländers Zuwendung zum Menschen, denn gleichzeitig zu
seiner Metaphysik des Nichts, sucht er dennoch das einstige Paradies wieder herzustellen:
durch die Beschäftigung mit der sozialen Frage, Utopien und sozialistsch/sozialdemokratischem Engagement.35 Der ideale Staat wird wie folgt charakterisisert:
„Er umfaßt »alles, was Menschengesicht trägt«, er umfaßt die ganze Menschheit. Es gibt keine
Kriege mehr und keine Revolutionen. Die politische Macht ruht nicht mehr in bestimmten Klassen,
sondern die Menschheit ist ein Volk, das nach Gesetzen lebt, an deren Abfassung alle mitgewirkt haben. Das soziale Elend ist erloschen. Der Erfindungsgeist hat sämtliche schweren Arbeiten auf Maschinen abgewälzt [...]. Zugleich nehmen wir an, daß die Menschen im Laufe der Zeit, durch Leiden,
Erkenntnis und allmähliche Entfernung aller schlechten Motive, maßvolle und harmonische Wesen geworden sind, kurz, daß wir es nur noch mit schönen Seelen zu tun haben.“ 36
Den idealen Menschen aber beschreibt Mainländer als Humoristen:37„Es ist klar, daß der Humorist mehr als irgendein anderer Sterblicher dazu geeignet ist. ein echter Weiser zuwerden.“ 38 Un4
39
klar bleibt, ob der Humorist deckungsgleich mit dem Willensverneiner ist, welchen Mainländer freilich in den höchsten Tönen beschwört:
„Wer sich in der Verneinung des Willens ganz auf sich zurückzieht, verdient die volle Bewunderung
der Kinder dieser Welt; denn er ist ein »Kind des Lichts« und wandelt auf dem richtigen Weg. [...] Er
ist die reinste Erscheinung auf dieser Erde; ein Erleuchteter, ein Erlöser, ein Sieger, ein Märtyrer, ein
weiser Held.“ 39
Beim suizidalen Pessimisten Mainländer findet sich so gerade angesichts des Nichts das
Utopische und Übermenschliche. Freilich klingt beides mehr nach Idealismus denn nach
Nietzsche. Dennoch bejaht Mainländer wie dieser die Destruktion und (bedingt) auch das
31Vgl.
ebd. S. 32ff.
nach: ebd., S. 34.
33Vgl. ebd., S. 40f.
34Zit. nach: Lütkehaus, S. 261.
35Ebd., S. 254.
36Zit. nach: ebd. S. 71.
37Vgl. ebd., S. 96ff.
38Zit. nach: ebd., S. 98.
39Zit. nach: ebd., S. 99.
32Zit.
6
Schaffen eines neuen Menschen. Sein Humorist lässt an das Lachen Nietzsches denken.
Anders als jener stellt sich Mainländer allerdings entschi den gegen die Diesseitsfreude und
den ekstatischen Tanz : „Die Ermattung und der Katzenjammer werden sich schon einstellen, und
dann wird auch für euch das Ende kommen.“ 40
Auch Nietzsche hat seinen Platz in der Lütkehaus’schen Arbeit, ist er doch der wesentlichste
Nachfolger Schopenhauers. Dabei werden Nietzsche und seine Lebensbejahung (kontroverserweise) als verzweifelt und scheiternd angesehen:41 „Nietzsches Philosophie ist im Kern der
mißlingende Versuche eine Biodizee angesichts des Nihilismus.“ 42
Lütkehaus betont weiter in seiner Darstellung die GdT und das Griechisch-Tragische.43 Zudem wird auf versprengte Fragmente verwiesen, die einen pessimistischen Nietzsche zeigen:
„Das Nichtsein könnte uns werthvoller scheinen als das Sein.“44 oder angesichts der Hamlet-
Frage, „daß Nicht-sein besser ist als Sein, daß der Wille zum Nichts mehr Werth hat als der Wille
zum Leben; die strengste, daß, wenn das Nichts die oberste Wünschbarkeit ist, dieses Leben, als Gegensatz dazu, absolut werthlos ist – verwerflich wird.“
45
Ganz richtig verweist Lütkehaus aber auch darauf, dass der Vernichtungswille Nietzsches
letztlich eingebunden sei in den Zirkel von Schaffen und Zerstören.46 Dennoch komme dem
(pessimistischen) Nihilismus eine Rolle zu bei Nietzsche. Lütkehaus umreißt diese Rolle wie
folgt:
„Wie Nietzsche den Nihilismus versteht, ist er weit mehr als eine Lebens-, eine Weltanschauung, vielmehr ein Lebensgefühl, ja, ein Wille, ein »letzter Wille«, welcher das definitive Ende, das Nichts will.
Schopenhauer ist sein Kronzeuge dafür. Nietzsche sieht zwar schon da, wo er ihm vordergründig
noch anhängt, im Nichts nicht das »Werthvollere«, das »Bessere«, nicht die Erlösung, nicht wie
Mephisto Anfang und Ende aller Dinge, sondern eher die Versuchung, nach seiner Ablösung von
Schopenhauer ohnehin die »Gefahr der Gefahren«. [...] Aber einstweilen muß Nietzsche sich erst einmal auf den Nihilismus einlassen, wenn er ihn überwinden will. Das fällt ihm um so leichter, als der Nihilismus für ihn, sogar mehr als für alle seine Vorgänger, in gewissem Sinn als die Wahrheit gilt.“
47
Lütkehaus stellt dar, wie Nietzsche den Nihilismus in Platonismus und Christentum sieht und
ablehnt,48 und der Tod Gottes demzufolge Befreiung und Lebenssteigerung bringe.49
Subversiv bemerkt Lütkehaus, dass Nietzsche damit aber auch zum „treueste[n] Jünger des toten Gottes“ werde, denn er pflege den Gedanken der Sünde, den er auf die Lebensverneiner
projiziere.50 Ob nun quasi-christliche Projektion oder nicht, richtig liegt Lütkehaus damit, dass
40Zit.
nach: ebd., S. 100. ‒ Es sei kurz erwähnt: Nach Schopenhauers, Hartmanns und Mainländers Nichts-Apotheose bringt Julius Bahnsen (1830-1881) eine neue Wendung in die Nichts-Philosophie: Das Weltgesetz sei tragisch (wie auch Nietzsche weiß) und selbst vom Nichts gebe es keine Erlösung. Wie Schopenhauer stellt Bahnsen den Willensbegriff in den Mittelpunkt, er begreift ihn indes als unauflösliche Mésalliance zwischen Wollen und
Nicht-Wollen, zwischen Bejahung und Verneinung, zwischen Sein und Nicht-Sein, Leben und Nicht-Leben. Kurz:
Der Wille sei Selbstbekräftigungs- und Selbstvernichtungswille in einem.‒ Ebd., S. 263.
41Ebd., S. 274ff.
42Zit. nach: ebd., S. 277.
43Ebd., S. 283ff.
44NF 1880-1882, S. 226; hier zit. nach: Lütkehaus, S. 292.
45NF 1887-1889, S. 528; hier zit. nach: Lütkehaus, S. 292.
46Lütkehaus, S. 294.
47Zit. nach: ebd., S. 295.
48Ebd., S. 296ff.
49Ebd., S. 301.
50Ebd., S. 311.
7
Nietzsche das platonische-christliche Wahre und damit auch das ‘wahrhafte Sein’, welches
für den Philosophen ins Nichts führt, ablehnt. Schlussfolgerung ist:
„Wer das Sein erhalten will, muß für das Unwahre sein [...] Nietzsches Antiidealismus inthronisiert das
Falsche als das allein Wahre, um sich gegen den Nihilismus als desillusionierten Idealismus enttäuschungsfest zu machen.“ 51
Lütkehaus argumentiert weiter, dass jenes Falsche Nietzsches der Schein, die Kunst, der
Wahn und die Illusion sei, was u.a. an Nietzsches Diktum, die Welt sei allein als ästhetisches
Phänomen zu rechtfertigen, festgemacht wird.52 Zwar ist die Argumentation schlüssig, doch
ist sie nicht absolut zu setzen, denn Nietzsche setzt sie (vor allem wenn man seine späteren
Werke in die Betrachtung mit einbezieht) ebenfalls nicht absolut.
Was nun aber Nietzsches Stellung zum Nichts betrifft, so attestiert Lütkehaus aufgrund der
Affinität zu dem Heraklit’schen Werden eine Ontologie des Noch-Nicht-Seins (einen Begriff
den Bloch in anderem Zusammenhang prägt) und damit eine Negation des Seins, was Nietzsche zu einem Nichts-Philosophen mache.53 Die tatsächliche Bedeutung des Nichts bei
Nietzsche indes scheint Lütkehaus nicht zu begreifen. Stattdessen verweist er ausführlich
auf die Bedeutung des Leidens bei Nietzsche und konstatiert u.a.:
„Leiden und Leben werden geradezu synonym, und zwar nicht im Sinn von Schopenhauers Abrechnung mit dem Leidensleben, sondern des Leidens als Maßes für die Lebendigkeit des Lebens. Biodizee und Pathodizee fallen zusammen.“
54
Festgemacht wird Nietzsches (vermeintliche) Leidensideologie am leidenden Dionysos und
auch die expressive Lebensbejahung des späten Nietzsches wird dem als Leidensmetaphysik (miss-)verstandenen Dionysischen untergeschoben.55 Freilich: Das Dionysische beinhaltet das Leiden, auch gegenüber dem Leiden gilt das heilige Ja-Sagen; ebenso beinhaltet es aber auch die Auferstehung des Dionysos und die Bejahung seiner Lebendigkeit.
Diese Wechselseitigkeit aber will Lütkehaus Nietzsche nicht zugestehen, sondern will partout
dessen Philosophie allein vom Leiden aus betrachten. Aus dem Ineinandergreifen von Schaffen und Zerstören wird so Folgendes:
„Das Schaffen wird zur Überwindung des Nihilismus – auf derselben Leidensbasis, die ihn motiviert.
Ja, das Schaffen kann die nihilistische Vernichtung wie schon die zum Schaffen umgedeutete Erkenntnis die Verneinung als Moment in sich aufnehmen, weil es kein Schaffen ohne Vernichten des Alten,
Vorhandenen gibt. [...] Die ästhetische Biodizee des frühen Nietzsche, die das Dasein nur als
»ästhetisches Phänomen« rechtfertigen konnte, schreitet beim späten zu einer im umfassenden Sinn
kreativen Pathodizee fort.“ 56
51Zit.
nach: ebd., S. 314.
S. 314 u. 317.
53Ebd., S. 331ff.
54Zit. nach: ebd., S. 338.
55Ebd., S. 339ff.
56Zit. nach: ebd., S. 344.
52Ebd.,
8
Ausführlich polemisiert Lütkehaus auch im Weiteren gegen Nietzsche.57 Kuriosum ist dabei,
dass er jedoch stets auf die ‘Wahrheiten’ Nietzsches zurückkommt, so wenn er das Zusammendenken von Nihilismus und Ja-Sagen wie folgt umreißt:
„[Der Wille zur Macht] ist Bejaher und Verneiner in einem. Dionysos läßt das gleiche Doppelgesicht
er- kennen, das der hinduistische Schiwa als Schöpfer und Zerstörer trägt. Beide tanzen auf einer
Schädelstätte, die sie zu ihrem triumphalsten Lachen inspiriert.“ 58
Letztlich aber fazitisiert Lütkehaus (fälschlicherweise, denn er erkennt die befreiende Kraft
Nietzsches nicht und vergisst Übermensch wie Willen zur Macht) bei Nietzsche eine Heillosigkeit und eine Selbstüberbietung des pessimistischen Nihilismus’:
„Auf die furchtbare »Schopenhauerische Frage« gibt Nietzsche so am Ende die furchtbarste Antwort:
Das Dasein hat keinen Sinn, es sei denn den, noch der Sinnlosigkeit gewachsen zu sein. Und ewig
wird es so weitergehen. Sisyphos rollt ewig seinen Stein. Nietzsches nihilistischer Absurdismus ist die
absurde Homöopathie des Nihilismus.“ 59
Die Arbeit Des Übermenschen Schönheit verweist indes auf ein Schöpferisches und Kreatives , welches dem Nietzsche’schen Nichts entspringt.
Pieper verweist, wenn sie einige Schlaglichter auf die Nietzsche-Interpretation wirft, hinsichtlich der Zarathustra- Figur auf dessen Hindeuten auf eine Leerstelle:
„Noch sybillischer drückt sich Bernhard Pautrat aus: Dies ist das Paradoxon von Nietzsches Zarathustra: der Kopf darin ist ein Loch, das hervorragendste Loch, wenn man will, aber ein Loch. Ein eigentlich geköpfter Text. [...] „Zarathustra ist als Gefäß der tragischen Weisheit der wahre Gral, aus dem
nämlich nicht das Blut dessen fließt, der vor Mitleiden mit den Menschen gestorben ist, sondern das
Wasser des Lebens“ – so Claus-Artur Scheier.“ 60
Kristallklar und durchsichtig ist dieses übermenschliche Wasser, möchte man anfügen. Klingt
dabei das Mystische (welches schließlich dito die Leere zum Ziel hat) in recht blumigen Bildern an, so sei hier zunächst darauf verwiesen, dass ebenso die neuere Anthropologie ganz
bodenständig den Menschen als Leerstelle begreift − aufgrund einer Unmöglichkeit der Definition. Arnold Gehlen (1904-1976), einer der Hauptvertreter der Philosphischen Anthropologie, bezeichnet den Menschen so als Mängelwesen de Natur.61 Auch die Vorstellung des
Menschen als „besonderes Tier“ oder als „Stiefkind der Natur“ ist gängig.62 Zudem wird der
Mensch als nicht fassbar verstanden. Schon Descartes sagt, dass man etwas Komplexes
57Vgl.
ebd., S. 344ff. – Zentrale Kritikpunkte an Nietzsches Philosophie sind: 1.) „Das Verhältnis dieser drei Ideen
[Wille zur Macht, Übermensch, Amor fati; R.W] zueinander ist öfters bis zur Inkompabilität prekär.“ – Zit. nach:
ebd.,S . 348. – 2.) Das Nebeneinander von kosmologisch-ontologischem Ansatz (Ewige Wiederkehr), Fatalismus
(Amor fati) und imperativ-kategorischer Willenslehre (so handeln und leben, als würden sich Handeln und Leben
ewig wiederholen), was ebenfalls „bis zur Inkompatibilität prekär“ sei. – Ebd., S. 358. – 3.) Der Fatalismus-Ansatz
sei die Vollendung des Fatalismus per se, sei reine Unterwerfung unter das Gegebene. – Ebd., S. 359f. – Auf
eine plausible Verknüpfung von Wiederkehr/amor fati und Übermensch muss Lütkehaus (obwohl er nicht damit
einig geht) indes selbst verweisen: Nietzsche formuliert, dass der Übermensch derjenige sei, der die Wiederkehr
ertrage. – Ebd., S. 369. – Auch der Wille zur Macht ließe sich freilich in diese Gleichung einfügen: Als der Wille
zur Macht des Übermenschen, der trotz (oder gerade wegen) des amor fati und der Ewigen Wiederkehr möglich
ist.
58Zit. nach: ebd., S. 355.
59Zit. nach: ebd., S. 374.
60Zit. nach: Annemarie Pieper, ‘„Ein Seil geknüpft zwischen Thier und Übermensch“. Philosophische Erläuterungen zu Nietzsches erstem „Zarathustra“’, Stuttgart 1990, S. 8; Pautrat ist dort zitiert nach: Bernhard Pautrat,
‘Nietzsche medusiert’, S. ?-?; in: Werner Hamacher (Hrsg.), ‘Nietzsche aus Frankreich’, Frankfurt 1986, S. 120.
Und Scheier ist zitiert nach: Claus-Artur Scheier, ‘Nietzsches Labyrinth. Das ursprüngliche Denken und die
Seele’, Freiburg/München 1985, S. 152
61Vgl. weiterführend: Arnold Gehlen, ‘Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt’, (1940).
62Dietmar Kamper, ‘Mensch’, S. 85-91; in: Handbuch Historische Anthropologie, S. 87.
9
zerteilen müsse, um es zerteilen zu können; zerteile man aber das Leben oder den Menschen in der Anatomie, so sei es/er tot.63
Die anthropologischen Gedanken drückt Nietzsche freilich
mit seiner Vorstellung vom
Menschen als „das noch nicht festgestellte Thier“ 64 aus. Im Zarathustra heißt es ausführlicher:
„Ja, ein Versuch war der Mensch. Ach, viel Unwissen und Irrthum ist an uns Leib geworden. / Nicht
nur die Vernunft von Jahrtausenden – auch ihr Wahnsinn bricht an uns aus. [...] / [...] / Tausend
Pfade giebt es, die noch nie gegangen sind; tausend Gesundheiten und verborgene Eilande des Lebens. Unerschöpft und unentdeckt ist immer noch Mensch und Menschen-Erde.“ 65
Und an anderer Stelle schreibt Nietzsche pessimistischer: „Der Mensch, eine kleine überspannte Thierart, die – glücklicher Weise – ihre Zeit hat; das Leben auf der Erde überhaupt ein Augenblick, ein Zwischenfall, eine Ausnahme ohne Folge, Etwas, das für den Gesamt-Charakter der
Erde belanglos bleibt; die Erde selbst, wie jedes Gestirn, ein Hiatus zwischen zwei Nichtsen, ein
Ereigniß ohne Plan, Vernunft, Wille, Selbstbewußtsein, die schlimmste Art des Nothwendigen, die
dumme Nothwendigkeit... Gegen diese Betrachtung empört sich etwas in uns; die Schlange der Eitelkeit redet uns zu “das Alles muß falsch sein: denn es empört... Könnte das nicht Alles nur Schein
sein? Und der Mensch, trotzalledem, mit Kant zu reden, – – – “ 66
Beschreibt Nietzsche den Mensch als Hiatus zwischen zwei Nichtsen (was nicht meint, dass
der Mensch mehr sei denn das Nichts, sondern dessen Leerstelle), so konstatiert Lütkehaus
den Nichts-Philosophien des 19. Jahrhunderts insgesamt, dass sie nicht radikaler die Ontologie hätten in Frage stellen können. Indes meint er auch, dass erst das 20. Jahrhundert die
„reale Basis“ zur Nichts-Philosophie bringe, „um in »Ver-Nichtsung und »Ver-Nichtung« aufs Ganze gehen zu können. [...] Nun [...] tritt die Welt ins Zeitalter ihrer realen Annihilierbarkeit ein.“ 67
An den Anfang dieser neuen Qualität des Nichts werden indes zwei Protagonisten gestellt,
die in der Lütkehaus’schen Arbeit hinsichtlich des Nichts wenig gut wegkommen: Fritz
Mauthner (1849-1923) ‒ der „Buddha vom Bodensee“, welcher das Erbe des „Buddha von
Frankfurt“ antritt ‒ arbeitet, statt auf einen entleerten Logos zu verweisen, eine Metaphysik
aus, welche die Pointe hat, dass derjenige schon gestorben sei, der eine Antwort von der
Philosophie erwarte. Verweist dies schon auf die Offenheit und Leere, so erkennt Mauthner
auch die Illusionshaftigkeit des Ichs. Indes kann Lütkehaus in Mauthners Denken kein
Überschreiten hin zur Leere, sondern nur Resignation sehen.68
Und Henri Bergson (1859-1941), der zweite mit dem Nichts zu assoziierende Denker Anfang
des 20. Jahrhunderts, verweist gerade auf das Dasein, auch wenn er über die Möglichkeit
des Nicht-Seins, des Nichts, erstaunt ist. Die philosophischen Begriffe des Nichtseins, des
Nichts, des Leeren und der Verneinung indes kritisiert er bis zur totalen Destruktion. Das
Nichtseiende ist für ihn letztlich Paradoxie und ohne Belang für das Dasein.69 In seiner Nihil63Friedrich
Cramer, ‘Leben’, S. 46-54; in: Handbuch Historische Anthropologie, S. 46.
nach: JGB, S. 81. – Und freilich bezeichnete bereits Aristoteles den Menschen als zoon logikon/animal rationale. – Zu der Positionie- rung der heutigen Anthropologie – die u.a. eine „Umkehrung der Absetzungsstrategie
vom Tier“ (Gernot Böhme) postuliert – zu der aristote- lischen Definition, vgl. Kamper, S. 87ff. u. Gernot Böhme,
‘Natur’, S. 92-116; in: Handbuch Historische Anthropologie, S. 93.
65Zit. nach: Z, S. 100.
66Zit. nach: W II 7a. Frühjahr – Sommer 1888; in: NF 1887-1889, S. 488f.
67Zit. nach: Lütkehaus, Nichts, S. 382.
68Ebd., S. 382-390. − Mauthner ist auch für die Buddhismus-Rezeption im frühen 20. Jahrhundert bedeutsam.
1912 veröffentlicht er seine Erzählung Der letzte Tod des Gaudama Buddha.
69Ebd., S. 391-402.
64Zit.
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ismus-Kritik und Diesseitsbejahung steht Bergson aber freilich wiederum Nietzsche nahe ‒
und auch zwei Denkwürdigkeiten bei Bergson nähern sich Nietzsche an, denn Lütkehaus
verweist auf Folgendes: Zum einen gelangt Bergson paradoxerweise mit seiner Nichts-Kritik
an einen mystischen Nullpunkt, aus dem sich sodann das Schöpferische ergießt. Zum
anderen bezieht sein Begriff des Handelns (der zum Schöpferischen und Schaffenden gerechnet wird) explizit diesen Nullpunkt mit ein: Das Handeln führt vom Leeren zum Vollen,
gleichzeitig schafft es ein Etwas ab und stiftet damit ein Nichts.70
Wahrer „Platzhalter des Nichts“ im 20. Jahrhundert ist aber erst Heidegger, dessen Antrittsvorlesung 1929 sogleich mit der Leibniz’schen Frage (indes mit anderer Antwort) beginnt: „Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?“ Der Tübinger Professor hängt auch poin-
tiert das Hamlet-Motiv an: „Das ist die Frage.“.71 Lütkehaus kommentiert:
„Das »vielmehr« der Frage gewinnt demgemäß [...] tatsächlich eine gewisse Präzipitation auf das
Nichts hin. Inthronisiert Heidegger nicht geradezu das Nichts?“
72
Dabei sind es laut Lütkehaus
‘Stimmungen’, die den Weg zum Nichts öffnen.73 Heidegger erörtert in §29 (Das Da-sein als
Befindlichkeit) von Sein und Zeit, dass Gemütsverstimmungen auf den wahren Charakter des
Daseins verweisen:
„Das Sein des Da ist in solcher Verstimmung als Last offen- bar geworden [...] Und wiederum kann
die gehobene Stimmung der offenbaren Last des Seins entheben; auch diese Stimmungsmöglichkeit
erschließt, wenngleich enthebend, den Lastcharakter des Daseins.“ 74
Die lastvolle Beschaffenheit des Daseins aber provoziert die Leibniz’sche Frage nach dem
Sein und dem Nichts. In anderen Schriften führt Heidegger explizit die Angst, die Verzweiflung und die Langeweile an, die die ‘Grund-Frage’ hervorrufen resp. in das Nichts hineinführen.75 In der Antrittsvorlesung heißt es so:
„Die Hineingehaltenheit des Daseins in das Nichts auf dem Grunde der verborgenen Angst macht den
Menschen zum Platzhalter des Nichts. So endlich sind wir, daß wir gerade nicht durch eigenen Beschluß und Willen uns ursprünglich vor das Nichts bringen vermögen. So abgründig gräbt im Dasein die
Verendlichung, daß sich unsere Freiheit die eigenste und tiefste Endlichkeit versagt. Die Hineingehaltenheit des Daseins in das Nichts auf dem Grunde der verborgenen Angst ist das Übersteigende des
Seienden im Ganzen: die Transzendenz.“ 76
Lütkehaus erläutert, dass das Nichts einen Stellvertreter im Sein brauche, wenn es in
Erscheinung treten und nicht schlicht nichts sein (resp. nichten) wolle. Dieser Platzhalter
77
aber sei der Mensch, denn er sei es, der das Sein mit seiner Gegenmöglichkeit konfrontiere.
Dieser Gegenmöglichkeit geht für Heidegger bis ins Extrem:
70Ebd.,
S. 396 u. 399f.
S. 408.
72Zit. nach: ebd., S. 409.
73Ebd., S. 134.
74Zit. nach: SuZ, S. 134.
75Lütkehaus, S. 410.
76Zit. nach: Martin Heidegger, ‘Was ist Metaphysik?’, Bonn 1931, S. 22f
77Lütkehaus hinterfragt die Platzhalterschaft des Menschen kritisch wie folgt: „Denn welchen Platz könnte der
Mensch für das Nichts halten, wenn das Nichts als Nichts nun einmal ohne jeden Platz ist? Indessen hat die Reaktivierung überkommener Stellvertreterideen durch den Mesnersohn Heidegger im Dienste der Nichtphilosophie
ihre paradoxe Logik: Das Nichts bedarf als solches der Repräsentation. Sonst wäre es nicht einmal »nichts«, und
noch viel weniger würde es »nichten«. “ – Zit. nach: Lütkehaus, S. 671. – Safranski verweist dagegen darauf,
dass bereits in der christlichen Theologie der Mensch als Platzhalter des Nichts verstanden werde, wobei das
Nichts hier freilich als das Böse verstanden wird. – Safranski, Heidegger, S. 208f.
71Ebd.,
11
„Es besteht an sich die Möglichkeit, daß der Mensch überhaupt nicht ist.“ 78
Denn des Menschen Existenz ist gemäß Heidegger ein Herausaustreten aus dem Sein; das
Wort Existenz (bzw. des griech. ek-histemi) bedeutet auch wörtlich dieses Heraustreten. Und
für den Existential-Philosophen ist das menschliche Dasein in toto diese Option. Prominenter
Begriff Heideggers für die Existenz im Dasein ist die Geworfenheit und Lütkehaus merkt
ganz richtig an, dass man hier von einer neo-gnostischen Idee sprechen kann: Ohne Selbstbestimmung ist der Mensch durch die Geworfen- heit zur Existenz in der Welt verurteilt, so
wie der Gnostiker sich in der Welt in einem Gefängnis wähnt.79
Der Mensch ist für Heidegger in der Geworfenheit, aber er ist auch in der Lichtung. Wie die
philosophischen Anthropologen seiner Zeit, nämlich Scheler in Die Stellung des Menschen
im Kosmos (1927) und Plessner in Die Stufen des Organischen und der Mensch (1927), betont Heidegger den Bruch zwischen Dasein und der nichtmenschlichen Natur. In der Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik (1929/1930) erörtert Heidegger naturphilosophisch
Dasein und Seiendes unter der Fragestellung, ob das Dasein das Seiende überhaupt verstehen könne, da das Seiende das ‘Da’ des Daseins umgekehrt nicht kenne.80 Safranski erörtert mit einem Blick auf die Heidegger’sche ‘Lichtung’:
„In dieses Dunkel will Heidegger eindringen, um dann von dorther noch einmal einen Blick auf den
Menschen zu werfen. Einen verfremdenden Blick, für den das Ereignis, daß es im Menschen hell wird
und daß es dadurch in der Natur über- haupt hell wird, zu etwas vollkommen Ungewöhnlichem wird.
Darum geht es: von der Natur entdecken, daß sich im Menschen ein Dasein aufgetan hat – eine Lichtung, wird Heidegger später sagen –, dem die Dinge und Wesen, die sich selbst verborgen sind, erscheinen können. Das Dasein gibt der Natur die Bühne. [...] / [...] [Die Welt] ist eingelassen in
den noch größeren Raum des Möglichen und Nichtigen. Nur weil wir einen Sinn für das Abwesende
haben, können wir Anwesenheit als solche erfahren – in Dankbarkeit, staunend, erschreckt, im Jubel.
Wirklichkeit, so wie sie der Mensch erfährt, ist in die Bewegung des Ankommens, des Sich-Verbergens und Sich-Zeigens hineingerissen. / Diese Vertrautheit mit dem Möglichsein und dem Nichts –
was es im Weltbezug des Tieres nicht gibt – zeigt den gelockerten Weltbezug, den Heidegger weltbildend nennt. / [...] Ohne den Menschen wäre das Sein stumm: es wäre vorhanden, aber es wäre nicht
– da. Im Menschen ist die Natur zur Selbstsicht- barkeit durchgebrochen.“ 81
Es ist zu ergänzen, dass Heidegger hier zwar einerseits gnostizistische Lichtmetaphysik und
aufklärerisches Aufgehen des Lichts wiederholt, er aber andererseits in Nietzsche’scher Tradition steht: Nicht der heutige Mensch ist sich seiner Funktion des Hellwerdens bewusst,
sondern der eigentliche Mensch ‒ der Übermensch.
Auch die Platon-Vorlesung Heideggers thematisiert den gelichteten Menschen. – Die erste
Hälfte des Semesters ist dem Höhlengleichnis gewidmet. Das platonische Fazit, dass das
Denken sich zur Sonne als der höchsten Wahrheit emporschwinge, welche das Gute sei,
welches wiederum die Sonne sei, wird dabei besonders betont. Gegen Platons Ausführungen, dass sich aus dem Guten ein umfassendes Sein ableite, in welchem Seele und Kosmos
78Zit.
nach: Martin Heidegger, ‘Einführung in die Metaphysik’, Frankfurt am Main, 1983, S. 90; vgl. Lütkehaus, S.
413.
79Lütkehaus, S. 413ff. – Bemerkenswert ist hier, dass die antike Gnosis (obschon die Antike das Nichts weitestgehend philosophisch mei- det) eine der ausgefeiltesten Nichts-Philosophien hervorbringt, nämlich durch den
Alexandriner Basilides (etwa 85-145 n.u.Z.), der darauf hinweist, dass ursprünglich ‘nichts da war’, nicht einmal
ein Nichts, nicht einmal ein ‘es war’. – Vgl. ebd., S. 617f.
80Safranski, Heidegger, S. 227.
81Zit. nach: ebd., S. 227ff.
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in Ruhe und Unveränderlichkeit schwingen würden und woraus sich die ideale Polis herleite,
indes wendet sich Heidegger.82 Für ihn „ist der Sinn des Seins die Zeit, also das Vergehen und
Geschehen. Es gibt für ihn kein Seinsideal der Beständigkeit, und das Denken hat bei ihm gerade die
Aufgabe, den Menschen für das Vergehen der Zeit empfindlich zu machen. Das Denken eröffnet den
Zeithorizont überall dort, wo die alltägliche Verdinglichkeitstendenz Verhältnisse und Situationen in einer falschen Zeitlosigkeit erstarren läßt.“ 83 Hier scheint selbstverfreilich Heraklit durch.
Safranski verweist zudem darauf, dass Heidegger Platon gegen den Strich liest. Das betrifft auch den Wahrheitsbegriff, denn eine absolute Wahrheit wie für Platon kann es bei
Heidegger nicht geben, lediglich ein ‘Wahrheitsgeschehen’, welches der Mensch selbst
entwirft. In Vom Wesen der Wahrheit (1930) hatte Heidegger sein Verständnis bereits vertieft: Wahrheit ist vom Wesen her Freiheit und impliziert Offenheit. Platon wird dementsprechend umgedeutet: Die Ideenwelt und die höchste Idee des Guten seien bedeutungslos und
stattdessen sei der Befreiungsakt (aus der Höh- le) zentral. Der Befreite wird zum ‘philsosophischen Führer’ seiner Zeit und setzt ein neues Wahrheitsgeschehen in Gang. Entscheidend sind dabei ein Hinaustreten und Freiwerden von der bisherigen Kultur und ihrem WerteSys- tem. Letztlich hat der Befreite „sein Sach’ auf Nichts gestellt“ (Safranski) und er belegt einen Standort „in der Fraglichkeit des Seienden im Ganzen“ (Heidegger) und er verhält sich so
„zum Sein und zu seiner Grenze im Nichts“ (Heidegger).84
In Nietzsche’scher Tradition ist hier also eine Relativität des Wahrheitsbegriffes auszumachen, eine Umwertung der Werte, eine Befreiung vom Dualistischen und gleichzeitig eine Art
Übermensch, nämlich der philosophische Führer, welcher die relative Wahrheit trägt. Gleichzeitig wird eine Versöhnung von Nietzsches Übermensch und Platons Höhlengleichnis angedacht.
Gründet der ‘Heidegger’sche Übermensch’ auf dem Nichts, so ist für ihn (wie schon für seine
Vorgänger in der Nichts-Philosophie) das Nichts der Ausweg aus der Geworfenheit, „ist der
höchste Sieg über das Sein. Dasein ist die ständige Not der Niederlage und des Wiederaufspringens
der Gewalttat gegen das Sein, und zwar so, daß die Allgewalt des Seins das Dasein zur Stätte seines
Erscheinens ver-gewaltigt (wörtlich genommen) und als diese Stätte umwaltet und durch- waltet und
damit im Sein einbehält." 85
Safranski verweist darauf, dass das über den „Nullpunkt der Angst“ (Safranski) erreichte Nichts
ein das Seiende und Dasein transzendierendes sei und das hier erst das Seiende/das Dasein als Ganzes gesehen werden könne.86
In Was ist Metaphysik? wird das Sein als Götze bezeichnet, von dem der Mensch sich durch
das Nichts befreien könne.87 Tatsächlich verfällt aber auch Heidegger letztlich der Seinsvergottung und Lütkehaus belegt ausführlich, wie für den Philosophen der Grund des Seins (der
82Ebd.,
S. 246f.
nach: ebd., S. 247f.
84Ebd., S. 248-255. – Die Heidegger-Zitate stammen aus dessen Platon-Vorlesung.
85Zit. nach: Heidegger, Einführung Metaphysik, S. 186
86Safranski, Heidegger, S. 205f.
87Lütkehaus, S. 415.
83Zit.
13
Grund eben, warum etwas ist, der Seinsgrund) als Absolutes firmiert.88 So lässt sie das Fazit
ziehen:
„»Das Suchen nach dem Warum« des Seienden, das gerade bei Heidegger eine riskante Präzipitation
auf das großgeschriebene Nichts zu gewinnen schien, mündet nun in die »Überwindung des Nichts«,
ja die »Herrschaft über das Nichts«. [...] / Solange das Nichts noch der Antipode des Seins ist,
gefährdet es diese Herrschaft. Es kann der Abgrund aller Seinsgründe werden. Deswegen muß
selbst das Nichts in das Sein eingemeindet werden. Doch wie leicht ist das, da ja noch das »Nichtige
und das Nichts« als solches »ist«.“ 89
Wie gesagt, sehen andere Interpreten Heidegger wesentlich dezidierter aufs Nichts gestellt.
Verschiedene Arbeiten stellen auch eine Analogie Heideggers zur Leere des Zen heraus. Byung-Chul Han wiederum zeigt zwischen Heidegger und Zen die Unterschiede (die in der Ontologie liegen) auf.90
Konträr zu Heidegger ist Sartre zu verortnen, dessen Ekel und Angst sich nicht auf das
Nichts (wie bei Heidegger schließlich) bezieht, sondern auf die Existenz; damit gibt der
Franzose der Ontologie eine negative Ästhetik.91 In dem Roman Der Ekel (1938) drückt sich
dieses Seins-Verständnis wohl am anschaulichsten aus: Die Welt wird als absurdes fettes
Wesen verstanden, rufe zwangsläufig die Grundfrage hervor (warum etwas sei und vielmehr
nicht nichts); die Existenz definiere sich über Zufälligkeit, Absurdität und Überflüssigkeit, das
Sein sei so nur erdacht worden, um des Zufalls (vermeintlich) Herr zu werden.92 Und (wie
schon bei Bahnsen) mag nicht einmal das Nichts Erlösung bieten; denn um es zu erahnen,
müsse man sich mitten in der Welt seiend befinden.93 Dennoch hat der Protagonist des Ro88Vgl.
ebd., S. 417-426. – Dass Heidegger sich schließlich mehr dem Sein denn dem Nichts widmet, lässt sich
nicht bestreiten. Einen etwas differenzierter Blick auf das Heidegger’sche Sein wirft aber Safranski und dabei wird
deutlich, welchen Stellenwert das Nichts für den Seins- begriff hat: Es ist sein Ursprungsort. – Vgl. Safranski, Heidegger, S. 344f.
89Zit. nach: ebd., S. 426. – Wurde oben in einer Fußnote mit Safranski auf die zeitweise Verquickung von Heideggers Seins/Seyns mit dem Nationalsozialismus verwiesen, so stellt Lütkehaus anhand der Rektoratsrede (1933)
die These auf, dass Heideggers Verfallen in die Seinsfrömmigkeit gleichsam seinen Abfall in die Liebäugelei mit
dem Nationalsozialismus darstelle; in der Rektoratsrede wird so die ‘Seins-Ermächtigung’ mit platter völkischer
Ideologie ausgedrückt. – Ebd., S. 430. – Plessner wertet schon 1931 in Macht und menschliche Natur den Heidegger’schen Daseinsbegriff als ‘deutsche Innerlichkeit’. – Safranski, Heidegger, S. 236.
Zur Verstrickung Heideggers in das Dritte Reich ist zudem zu konstatieren, dass er den Nationalsozialismus 1933
als eine erlösende „Umwälzung des ganzen menschlichen Seins“ versteht und einen Imperativ für ein politisches
(nationalsozialistisches) Handeln empfindet. Als Gründe für dieses Handeln führt er die gravierenden Klassenunterschiede und die hohe Arbeitslosigkeit an. – Ebd., S. 258ff; vgl. weiterführend auch: ebd., S. 258-280 u. S. 355380.
Selbst wenn Heidegger bereits Mitte der 30er Jahre in der nationalsozialistischen Politik nicht mehr die Erfüllung
seiner Metaphysik sieht, findet sich noch 1940 in einer seiner Nietzsche-Vorlesungen ein befremdlicher Kommentar zur Niederlage Frankreichs im selben Jahr: Die Franzosen werden als unfähig bezeichnet, weiterhin die Philsophie Descartes’ zu tragen und es wird ein Übermensch postuliert, der Technik und Metaphysik in sich aufnehme. – Ebd., S. 364f.
Erwähnt sei hier noch, dass Heidegger stellenweise Nietzsche und Nazismus krude zusammenwirft: Der Nationalsozialismus sei das Begreifen des Todes Gottes, ein Begreifen der Seinsverlassenheit des Menschen und ein
Aufbruch vom letzten Menschen hin zum Übermenschen. In diesem abwegigen Sinne wird dieser Aufbruch auch
mit dem Ausbruch aus der Höhle Platons zusammengeworfen – Ebd., S. 276 u. S. 278. – Husserl beklagt zudem
einen Antisemitismus Heideggers. Dazu führt Safranski aus, dass sich in den Schriften, Vorlesungen und Reden
Heideggers weder Antisemitismus noch Rassismus finden. In einem Briefwechsel mit Arendt wird indes deutlich,
dass er zwar nicht explizit judenfeindlich agiert, aber unter seinen Kollegen und Studenten sehr wohl eine Einteilung in Juden und Nicht-Juden vornimmt. Und freilich stellt der Antisemitismus der Nazis für ihn keinen Grund
zum Bruch mit dem Dritten Reich dar. – Ebd., S. 287f. u. S. 290f. – Umgekehrt lehnen indes nationalsozialistische ‘Denker’ Heideggers Philosophie weitestgehend ab. Ein ‘psychologisches’ Gutachten unterstellt Heidegger
Psychopathologie, ein jüdisches, ‘talmudisch-rabulistisches’ Denken. Der Pseudo-Philosoph Ernst Krieck (18821947) attestiert Heidegger zudem ausgesprochenen Atheismus und metaphysischen Nihilismus, welcher einen
„Ferment der Zersetzung und Auflösung für das deutsche Volk“ darstelle. – Ebd., S. 302.
90Vgl. weiterführend zu Heidegger & Zen: Han, S. 22ff., S. 38f., S. 58ff., S. 70ff.
91Lütkehaus, S. 433.
92Ebd., S. 436.
93Ebd., S. 442f.
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mans letztlich angesichts der Bedeutungslosigkeit von allem letztlich einen Moment der Epiphanie: Die Welt entschwindet wie durch ein großes Loch, zurück bleibt ein Lächeln.94
Man mag (und sollte!) hier die tatsächliche Überschreitung, die Realisation der Leere verorten.
Auch Lütkehaus weiß Sartre zu würdigen: „Und dieser Autor schreibt weiter, just jenes Buch, dessen Titel sich am weitesten Hamlets »Sein oder Nichtsein« anzunähern scheint:»Das Sein und das
Nichts«.95 Das Nichts ist für Sartre die Infragestellung des Seins, ist Nichtung. Dabei liegt der
Ursprung von Nichts und Nichtung im menschlichen Bewusstsein, im Für-sich, und geht so
aus einem einem ontologischen Akt des Für-sich hervor. Das „Loch im Sein“ (Sartre) aber
markiert die Angst, diese aber „deutet auf das absolute Ereignis einer als Nichtung eröffneten radikalen Freiheit“ (Lütke- haus) und das bedeutet: „In der Angst erfasse ich mich als total frei.“ 96 Das
Nichts wird so bei Sartre fühlbar; aber als Existentialist entscheidet er sich freilich für die
Existenz (auch wenn diese das nichtende Für-sich enthält) und nicht für das Nichts.97 Obschon die Existenz sich etwas problematisch als Kerker definiert (denn nur so, mit einem
spürbaren Gefängnis, könne der Freiheitsbegriff Sinn machen),98 ist mit Lütkehaus zu konstatieren:
„Selbst wer den »Nachteil, geboren zu sein«, beklagt, nutzt den Vorteil, klagen zu können. Sich als
geworfenes verstehen kann das Für-sich sich in der Tat nur dank der Freiheit, die es als sich entwerfendes ist. Aber eben, indem das Für-sich so versteht, besteht es auch auf der Freiheit, sich in jedem
Sinn ent-, also auch verwerfen zu können. Eben weil es radikal Für-sich ist, kann es sich so zu sich
selber verhalten, daß es sich, seine Geburt und jeden Grund seines Seins negiert. [...] / [...] Die Freiheit, aus dem Kerker auszubrechen, umfaßt auch die Freiheit, daß überhaupt kein Kerker mehr sei.
Doch Sartre schließt, damit es den Ausbruch in die Freiheit des gewählten Wesens geben könne,
das Für-sich in das Gefängnis des Seins ein.“ 99
Vielleicht ist es schlussendlich lediglich eine Frage der Beegrifflichkeit, ob man (wie Sartre)
das menschliche Bewusstsein im Sein gefangen und ausbrechend oder (wie Nietzsche) die
große Vernunft befreit im Diesseits walten sieht. Für Lütkehaus aber bedeutet Sartres Gefangensein im Sein Folgendes:
„In Heideggers »Haus des Seins« führt schließlich auch Sartres ontologische Botschaft zurück. So
nachdrücklich seine Philosophie des Nichts als ortlosen Raum der Freiheit, der Selbstbestimmung,
Selbstsetzung des Für-sich eröffnet, so deutlich wird das Nichts als »genichtetes nunmehr als »geseintes« dem Sein zugeschlagen [...]. Die Konsequenz für die Grund-Frage sowohl in ihrer persönlichsten wie ihrer allgemeinsten Form: Das Nichts ist kein ernsthafter Antipode mehr, Hamlet hat keine
wirkliche Wahl. [...] Das Sein ist, »ohne Grund, ohne Ursache, ohne Notwendigkeit«, also auch ohne
Frage. Es ist einfach – und sonst nichts. “100
Dennoch hat die westliche Philosophie des Nichts mit Sartre wohl ihren Kulminationspunkt.
Wie Nachträge lesen sich die vereinzelten hellsichtigen Bemerkungen eines Hans Wagner
(1917-2000) – „Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? (...) einfach zu dem Zwecke
94Ebd.,
S. 444f.
nach: ebd., S. 446.
96Ebd., S. 449ff.; vgl. Sartre, S. 109. – Zur ontoerotischen Bedeutung des ‘Lochs im Sein’, vgl. Lütkehaus, S.
471.
97Vgl. Lütkehaus, S. 458f.
98Vgl. ebd., S. 459.
99Zit. nach: ebd.,S . 466f.
100Zit. nach: ebd., S. 468f.
95Zit.
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(...), damit diese Frage nicht ungestellt bleiben müsse. Denn zweifellos bliebe sie ungestellt, wenn
statt etwas wirklich nichts wäre. Die Frage verdient diese boshafte Auskunft.“ 101 –; eines Adorno
(nämlich, zum einen, dass einen Nichtsgläubigkeit ebenso abgeschmackt wäre wie eine
Seinsgläubigkeit; zum anderen, dass angesichts von Auschwitz die Option, es wäre besser
nichts, sich zuspitze102); oder die „finalen Show des nihlistischen Weltgeistes“, welche immerhin
das Haus des Seins kräftig erschüttert, eines Günther Anders (1902-1992),103 der terroristisch-anarchistisch eine umfassende Destruktion beschwört und der Atombombe angesichtig die Option des realistischen Eingangs in das Nichts sieht, was sowohl Zukunft als auch
Vergangenheit betreffe.104
Lütkehaus selbst gibt in der Auseinandersetzung schlussendlich die radikalsten Impulse: 1.)
das totale Nichts sei weder Gott, noch Nirvāna, noch ein ‘ganz Anderes’, noch Bestandteil
eines dialektischen Prozesses (und damit dem Sein gegenübergestellt), es sei – nichts.105
2.) Das Nichts bedürfe keiner existentialistischen Beschwörung, denn es sei nicht der leere
Raum der Angst, es sei nicht das Loch im Sein, es nichte weder noch lichte es, es sei –
nichts.106 Das mündet in folgender Definition:
„»Das Nichts« – insoweit mit Hegel – ist frei von jeder Bestimmung, bis auf die eine – insoweit mit
Sartre –, die Negation jeder irgendwie positiven Bestimmung, und wäre es die Bestimmung eines
Man- gels zu sein. / Folgerichtig kann jeder Versuch zu sagen, was das Nichts ist, nur sagen, was
es nicht ist. Doch darum ist es noch nicht »nichtig« im Sinne der Nichtsvergessenheit. Nicht einmal
»nichtet« es im Heideggerschen Sinn. Das »Wesen des Nichts« ist nicht die »Nichtung« als »abweisende Verweisung auf das entgleitende Seiende im Ganzen«, vielmehr sein schlechthinniges
Nichtwesen, ohne deshalb schon ein »Unwesen« zu sein. Das Nichts, man verzeihe den Neologismus, der auf das fatalste mit Heideggers Tautologien zu wetteifern scheint, ist – »nichtsig«, sein wesensloses »Wesen« allein die »Nichtsigkeit«. / [...] Es ist eben nur ein als Sprach- und Gedankending existierendes Un-Ding, das in demselben Atemzug annuliert wird, in dem man von ihm spricht. /
So endet die Frage, was das Nichts sei, mit einer Antwort, bei der im strikten Sinn jedes ihrer Elemente durchzustreichen wäre: Nichts ist Nichts. “ 107
Lütkehaus legt somit die bestimmteste (Nicht-)Definition des Nichts vor, die sich jeglicher
weiteren wissenschaftlichen Auseinandersetzung entzieht. Das tut nun zwar dito das buddhistische oder mystische Verständnis von der Leere/dem Nichts, welches als Quell für
Nietzsches Übermensch und Nietzsches schaffende Kreativität eruiert wird, dennoch werden Letzere als irgendwie erfahrbar verstanden, während dem Lütkehaus’schen Nichts nicht
einmal mehr dieses bleibt. Die konsquenteste Nichts-Philosophie entzieht sich somit dem
101Hans
Wagner, ‘Philosophie und Reflexion’, München/Basel 1959, S. 414; hier zit. nach: Lütkehaus, S. 513.
S. 521 u. 523. – Auch für Jonas berührt die Schoa die Grundfrage, die sich umformuliere zu einem
zynischen ‘Warum solle überhaupt eine bestimmte Art von Menschen sein und nicht vielmehr nicht?’, womit die
‘Endlösung’ auch die Grundfrage auflöse und zwar durch eine Nichtung des Nichts (aus verzerrt Nazi-Sicht: dem
Juden). – Ebd., S. 525.
103Vgl. ebd.,S 541-573. – Die Erschütterung des ontologischen Hauses durch Anders mag in folgender Pointierung Lütkehausens angerissen werden: „Denn jeder Versuch zu beantworten, warum überhaupt Seiendes ist, läuft
nach den Regeln des unendlich »iterierten« Regresses nicht etwa ins Unendliche, »ad infinitum«, sondern ins
Leere, »ad nihilum « aus. Logische Positivisten mögen aus diesem desaströsen Befund die Schlussfolgerung ziehen, daß die Frage nach dem Grund des Seienden im Ganzen eine absurde Frage sei. Aber diese auch nur logisch zutreffende Auskunft verdeckt die ontologisch weitaus schwerer wiegende Konsequenz, auf die Anders aus
ist: daß das Seiende im Ganzen grundlos ist. Gestützt wird es durch nichts. Fundiert ist es in Nichts.“ – Zit. nach:
ebd., S. 569.
104Ebd., S. 580.
105Ebd., S. 720.
106Ebd., S. 722.
107Zit. nach: ebd., S. 729f. u. S. 731f.
102Lütkehaus,
16
Empirischen vollends, selbst wenn es stets ‘Übersetzungsschwierigkeiten’ gibt, von dem
Nichts irgendwie sprechen zu können. Zum Verständnis des Nichts’ geben so die anderen in
diesem Aufsatz erörterten Denker die wertvolleren Impulse: Büchners Prinzip der Negation,
Schopenhauers Bruch mit der Ontotheologie, Hartmanns Nichts als Freiheit, Mainländers
Paradox von Utopie und radikaler (suizidaler) Nichtung, der Heidegger’sche Mensch als
Platzhalter des Nichts und als gründend im Nichts, das Loch im Sein Sartres, welches Freiheit impliziert, ein Sich-Entwerfen, Selbstbestimmung, Kreativität.
Für Lütkehaus handelt es sich dabei stets ‘nur’ um ein ‘relatives Nichts’; jenem entspringen
aber eben Freiheit, (Über-)Menschsein, Schaffen und Kreativität, wie es dito das buddhistische Nirvāna-Konzept lehrt. Und auch wenn Lütkehaus jenes ebenfalls als letztlich ‘seinsfromm’ versteht, so ist es doch ein Zen-Koan, welches er heranzieht, um das Nichts zu erahnen: Zeige mir dein Gesicht vor deiner Geburt (resp. sogar vor der Geburt deiner Eltern)!108
Was bedeutet, dass das Gesicht „gegenstandslos [ist]; und eben das ist die Lösung: »Ich« hatte
keines – und nicht einmal ein Nicht-Gesicht. »Nichts« ist die einzige Negation, die das Etwas ohne
Rest annulliert.“ 109
Die zen-buddhistischen Verweise auf das Nichts, auf die Leere, auf das Nirvāna erweisen
sich so als die griffigsten, auch wenn dieser Text aufzeigen konnte, wie sehr die Auseinandersetzung mit und Abarbeitung am Nichts das deutsche Denken ab dem 19. Jahrhundert
prägen (nicht zuletzt durch Nietzsche) und sich gleichsam mit dem Diskurs des
Übermenschlichen verquicken.
108Ebd.,
109Zit.
S. 608.
nach: ebd., S. 608f.
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