Artikel Drogistenstern «Der kleine Pirat

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Der kleine Pirat
Timo (5) ist weitsichtig und schielt mit einem Auge. Deshalb trägt er
täglich für ein paar Stunden eine Augenklappe. Doch wie merken Eltern,
dass ihr Kind schlecht sieht?
Als dreijähriger Knirps liebte Timo
Wimmelbücher. Ausdauernd fahndete
er nach den gesuchten Gegenständen im
Bild. Nur: Irgendwann fiel seinen Eltern
Mauro Battistel und Franziska Senn
Battistel auf, dass sein rechtes Auge da­
bei immer ein wenig nach aussen drifte­
te und ihr Sohn seinen Kopf leicht weg­
drehte, um mit dem anderen Auge zu
schauen. Der Kinderarzt wies sie an die
Orthoptik des Inselspitals Bern, eine
Spezialabteilung der Universitätsklinik
für Augenheilkunde. Diese befasst sich
speziell mit Kinderaugen und deren
Problemen. Die Tests bei der Ortho­po­­t­istin zeigten: Timo sieht tatsächlich
schlecht. Er ist weitsichtig, und er schielt
mit dem rechten Auge, sodass er Gegen­
stände ausschliesslich mit dem stärkeren
linken Auge fixieren kann.
Trotz Augenklappe
blitzschnell unterwegs
Das war vor zwei Jahren. Heute ist Timo
täglich für vier Stunden der Pirat im
Quartier. Denn in dieser Zeit muss er
eine Augenklappe tragen, welche das
stärkere Auge abdeckt, damit das schwä­
chere auch mal zum Zug kommt. Kein
einziges Nachbarskind findet Timos Au­
genklappe seltsam. Sie spielen einfach
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gemeinsam «Piraterlis». Und Timos
­Eltern staunen jedes Mal wieder: Einäu­
gig flitzt er genauso schnell auf seinem
Trottinett durch die Spielstrasse wie alle
anderen Kinder auch. Diese Therapie, so
die Orthoptistin, hilft, dass jener Teil des
Gehirns, der für das Sehen zuständig ist,
sich normal entwickelt. «So kann eine
schwere, nicht reparierbare Sehschwäche
verhindert werden», sagt Vater Mauro
Battistel. Wie die meisten schielenden
Kinder trägt Timo eine Brille.
Rechtzeitig einen Augenarzt
aufsuchen
Timos Augenklappe ist für seinen Bruder Florin (3) kein Grund, nicht mit ihm zu spielen.
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Märchenbücher
anschauen geht
auch mit einem
Auge: Timo (5)
lässt sich
den Spass nicht
verderben.
Seine Eltern haben sich richtig verhal­
ten, als sie schon früh einen Augenarzt
aufsuchten. «Für Eltern ist es sehr schwie­
rig, die Sehschärfe ihrer Kinder richtig
einzuschätzen», weiss Mathias Abegg,
Leiter Orthoptik der Universitätsklinik
für Augenheilkunde am Inselspital Bern.
«Meistens fällt ihnen nur dann etwas
Ungewöhnliches auf, wenn die Seh­
schärfe beidseitig stark vermindert ist.
Denn eine einseitig verminderte Seh­
schärfe kann ohne Symptome sein.»
Bei Verdacht auf Schielen oder vermin­
derte Sehschärfe rät der Experte, sich an
den Kinderarzt zu wenden. Dieser kann
bereits einzelne Untersuchungen durch­
führen und die Kinder bei Bedarf an ei­
nen geeigneten Augenarzt weiterweisen.
Auch eine Leukokorie (die Pupille ist
weiss statt wie normal schwarz), Doppel­
bilder oder eine vermutete schlechte
Sehschärfe sind häufige Gründe, warum
Eltern sich bei Abegg melden.
Beim Sehtest in der Augenarztpraxis
werden dann je nach Alter unterschied­
liche Methoden angewandt: Bei Babys
beispielsweise prüfen sie die «Fixation»
mittels eines Objekts. Hier versuchen
Abegg und sein Team, das Kind dazu zu
bringen, dass es seinen Blick wendet. Ab
ungefähr zwei Jahren können die Spezi­
alisten Symbole zeigen und diese spiele­
risch abfragen. Die Form und die Grösse
der Symbole sind normiert. Sie können
dann in eine Sehschärfe umgerechnet
werden.
Als die Orthoptistin Timos Auge aus­
mass, hielt dieser dank etwas Überre­
dungskunst brav still. «Sogar die leicht
brennenden Tropfen, die zum Vergrös­
sern der Pupillen notwendig waren, ak­
zeptierte Timo tapfer», erinnert sich der
Vater. Damit sein Sohn auch bei den
nächsten Untersuchungen so gut ko­
operieren würde, liess sich Mauro Bat­
tistel etwas einfallen: Er und seine Frau
richteten die Termine immer so ein,
dass sie nach der Behandlung zu Hause
kochen konnten. Und zwar Timos Lieb­
lingsessen: Pommes frites und Fisch­
stäbchen.
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Sehschärfe lässt sich
kaum beeinflussen
Timo tollt gerne
herum. Brille
hin oder her.
In der Schweiz braucht schätzungsweise
jedes dritte Kind eine Brille. Etwa fünf
Prozent aller Kinder und Jugendlichen
haben eine nicht korrigierbare Seh­
schwäche. «Die exakten Zahlen kenne
ich nicht», präzisiert Augenarzt Abegg.
Denn solche wurden für die Schweiz
nicht erhoben.
Die Entwicklung der Brillenwerte kann
man kaum beeinflussen. Auch die Me­
chanismen sind noch nicht ganz klar.
Tatsache ist aber: «Nicht nur genetische
Faktoren fördern die Entwicklung einer
Kurzsichtigkeit, sondern auch eine hohe
Bildung.» Computer und Fernsehen ha­
ben laut dem Spezialisten aber keinen
Einfluss.
Eine Brille – für immer?
Die Brillen sind Timos
ganzer Stolz
Benötigt das Kind eine Brille, sind auch
die Eltern gefordert: Sie brauchen Ge­
duld, bis der Spross die Brille von sich aus
trägt – anstatt sie ständig durch die Ge­
gend zu schleudern.
Bei Timo war das zum Glück nie ein The­
ma: «Er freut sich jedes Mal, wenn er eine
neue Brille aussuchen darf», so Battistel.
Denn zweimal jährlich braucht der Jun­
ge ein neues Modell, weil sich seine Au­
gen so rasch verändern. Glücklich wählt
Timo also mal ein rotes Brillengestell aus,
mal ein blaues, mal eins mit Herzchen.
Woher diese Freude an Brillen?
«Vielleicht, weil auch ich ständig eine
Brille trage und meine Frau zum Auto­
fahren ebenfalls», vermutet sein Vater.
Ausserdem hat Timo rasch gemerkt, dass
er mit Brille besser sieht. Was aber macht
eine gute Brille ausser ihren Gläsern aus?
Augenarzt Mathias Abegg: «Wichtig ist,
dass eine Brille gut auf der Nase sitzt und
hinter den Ohren sicher hält – ohne zu
drücken.» Bei Kindern zählt zudem, dass
das Material stabil und formbar ist. Denn
oft muss es eine ganze Menge aushalten.
Hilfe gegen trockene Augen
Bei Kurzsichtigkeit und Schielen hilft nur ein Besuch beim Augenarzt.
Wer aber ein Trockenheits- und Fremdkörpergefühl in den Augen hat oder
unter gereizten, roten Augen leidet, findet in Drogerien eine ganze Palette
an Hilfsmitteln – auch für Kinder.
_ Tropfen: «Besonders Tropfen mit Dexpanthenol und Hyaluronsäure oder
homöopathische Tropfen, unter anderem mit Euphrasia (Augentrost) oder
Belladonna (Tollkirsche), befeuchten die Augen», sagt Sandra De Stefano,
Drogistin HF und ehemalige Geschäftsführerin der Drogaria Mosca in Scuol. Tun
sich Kinder schwer damit, funktionieren Befeuchtungssprays meistens ganz gut.
Denn diese können sogar über geschlossene Augen gesprüht werden.
_ Gels und Salben: Zur Befeuchtung der Augen können auch Gels, häufig mit
dem Wirkstoff Carbomer, oder Salben, zum Beispiel mit Euphrasia, angewendet
werden. Euphrasia ist der typische pflanzliche Wirkstoff zur Linderung von leicht
gereizten, geröteten oder trockenen Augen.
_
Kapseln: Innerlich helfen Leinölkapseln oder Schüssler-Salz-Tabletten Nr. 8
(Natrium chloratum). Für Kinder, die noch keine Kapseln schlucken können,
rät Drogistin De Stefano, diese einfach aufzustechen oder aufzubrechen und unter das Essen zu mischen.
Werden die Symptome nach ein bis zwei Tagen nicht besser, empfiehlt die
Drogistin einen Besuch beim Kinderarzt oder Augenarzt.
Bis Timo 21 ist, muss er seine Brille tra­
gen – vielleicht auch für immer. Dann
nämlich sind seine Augen ausgewach­
sen. Dank der Korrektur hat er aber kei­
ne gesundheitlichen Folgen zu befürch­
ten. Unter Umständen kann er eines
Tages auch Kontaktlinsen tragen. Das
empfehlen die Augenärzte jedoch frü­
hestens ab der Pubertät. Es gibt aber
Ausnahmen: «Bei Kindern, die keine ei­
gene Linse haben, sind Kontaktlinsen
bereits nach der Geburt möglich», er­
klärt Augenarzt Abegg. Bei Kindern un­
ter 14 Jahren rät er nur dann zu Kontakt­
linsen, wenn ein spezieller Grund
vorliegt. Beispielsweise eine Asymmet­
rie der Augenlänge, Narben auf der
Hornhaut oder eine unregelmässige
Hornhautverkrümmung.
Wer Kontaktlinsen trägt, egal ob Kinder
oder Erwachsene, sollte die Hinweise der
Optiker beachten: «Bakterielle Infektio­
nen durch nicht sachgemässe Handha­
bung der Kontaktlinsen sind eine der
ganz häufigen Ursachen für Augenschä­
den», warnt Mathias Abegg. Andere
Risiken für Kinderaugen – auch ohne
Kontaktlinsen – sind Feuerwerk, Häm­
mer, Motorsensen, Unihockey, Squash
und ähnliche Sportarten. «Hier empfeh­
len wir dringend, eine Schutzbrille zu
tragen.»
Pirat Timo genügen vorderhand Fahrrad
und Trottinett als Abenteuerspielzeug.
Also nichts wie Augenklappe aufsetzen
und lossausen!
Text: Claudia Weiss / Fotos: Corinne Futterlieb
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