18 _ DROGISTENSTERN 4/14 Der kleine Pirat Timo (5) ist weitsichtig und schielt mit einem Auge. Deshalb trägt er täglich für ein paar Stunden eine Augenklappe. Doch wie merken Eltern, dass ihr Kind schlecht sieht? Als dreijähriger Knirps liebte Timo Wimmelbücher. Ausdauernd fahndete er nach den gesuchten Gegenständen im Bild. Nur: Irgendwann fiel seinen Eltern Mauro Battistel und Franziska Senn Battistel auf, dass sein rechtes Auge da­ bei immer ein wenig nach aussen drifte­ te und ihr Sohn seinen Kopf leicht weg­ drehte, um mit dem anderen Auge zu schauen. Der Kinderarzt wies sie an die Orthoptik des Inselspitals Bern, eine Spezialabteilung der Universitätsklinik für Augenheilkunde. Diese befasst sich speziell mit Kinderaugen und deren Problemen. Die Tests bei der Ortho­po­­t­istin zeigten: Timo sieht tatsächlich schlecht. Er ist weitsichtig, und er schielt mit dem rechten Auge, sodass er Gegen­ stände ausschliesslich mit dem stärkeren linken Auge fixieren kann. Trotz Augenklappe blitzschnell unterwegs Das war vor zwei Jahren. Heute ist Timo täglich für vier Stunden der Pirat im Quartier. Denn in dieser Zeit muss er eine Augenklappe tragen, welche das stärkere Auge abdeckt, damit das schwä­ chere auch mal zum Zug kommt. Kein einziges Nachbarskind findet Timos Au­ genklappe seltsam. Sie spielen einfach DROGISTENSTERN 4/14 _ 19 gemeinsam «Piraterlis». Und Timos ­Eltern staunen jedes Mal wieder: Einäu­ gig flitzt er genauso schnell auf seinem Trottinett durch die Spielstrasse wie alle anderen Kinder auch. Diese Therapie, so die Orthoptistin, hilft, dass jener Teil des Gehirns, der für das Sehen zuständig ist, sich normal entwickelt. «So kann eine schwere, nicht reparierbare Sehschwäche verhindert werden», sagt Vater Mauro Battistel. Wie die meisten schielenden Kinder trägt Timo eine Brille. Rechtzeitig einen Augenarzt aufsuchen Timos Augenklappe ist für seinen Bruder Florin (3) kein Grund, nicht mit ihm zu spielen. ▲ ▲ Märchenbücher anschauen geht auch mit einem Auge: Timo (5) lässt sich den Spass nicht verderben. Seine Eltern haben sich richtig verhal­ ten, als sie schon früh einen Augenarzt aufsuchten. «Für Eltern ist es sehr schwie­ rig, die Sehschärfe ihrer Kinder richtig einzuschätzen», weiss Mathias Abegg, Leiter Orthoptik der Universitätsklinik für Augenheilkunde am Inselspital Bern. «Meistens fällt ihnen nur dann etwas Ungewöhnliches auf, wenn die Seh­ schärfe beidseitig stark vermindert ist. Denn eine einseitig verminderte Seh­ schärfe kann ohne Symptome sein.» Bei Verdacht auf Schielen oder vermin­ derte Sehschärfe rät der Experte, sich an den Kinderarzt zu wenden. Dieser kann bereits einzelne Untersuchungen durch­ führen und die Kinder bei Bedarf an ei­ nen geeigneten Augenarzt weiterweisen. Auch eine Leukokorie (die Pupille ist weiss statt wie normal schwarz), Doppel­ bilder oder eine vermutete schlechte Sehschärfe sind häufige Gründe, warum Eltern sich bei Abegg melden. Beim Sehtest in der Augenarztpraxis werden dann je nach Alter unterschied­ liche Methoden angewandt: Bei Babys beispielsweise prüfen sie die «Fixation» mittels eines Objekts. Hier versuchen Abegg und sein Team, das Kind dazu zu bringen, dass es seinen Blick wendet. Ab ungefähr zwei Jahren können die Spezi­ alisten Symbole zeigen und diese spiele­ risch abfragen. Die Form und die Grösse der Symbole sind normiert. Sie können dann in eine Sehschärfe umgerechnet werden. Als die Orthoptistin Timos Auge aus­ mass, hielt dieser dank etwas Überre­ dungskunst brav still. «Sogar die leicht brennenden Tropfen, die zum Vergrös­ sern der Pupillen notwendig waren, ak­ zeptierte Timo tapfer», erinnert sich der Vater. Damit sein Sohn auch bei den nächsten Untersuchungen so gut ko­ operieren würde, liess sich Mauro Bat­ tistel etwas einfallen: Er und seine Frau richteten die Termine immer so ein, dass sie nach der Behandlung zu Hause kochen konnten. Und zwar Timos Lieb­ lingsessen: Pommes frites und Fisch­ stäbchen. 20 _ DROGISTENSTERN 4/14 Sehschärfe lässt sich kaum beeinflussen Timo tollt gerne herum. Brille hin oder her. In der Schweiz braucht schätzungsweise jedes dritte Kind eine Brille. Etwa fünf Prozent aller Kinder und Jugendlichen haben eine nicht korrigierbare Seh­ schwäche. «Die exakten Zahlen kenne ich nicht», präzisiert Augenarzt Abegg. Denn solche wurden für die Schweiz nicht erhoben. Die Entwicklung der Brillenwerte kann man kaum beeinflussen. Auch die Me­ chanismen sind noch nicht ganz klar. Tatsache ist aber: «Nicht nur genetische Faktoren fördern die Entwicklung einer Kurzsichtigkeit, sondern auch eine hohe Bildung.» Computer und Fernsehen ha­ ben laut dem Spezialisten aber keinen Einfluss. Eine Brille – für immer? Die Brillen sind Timos ganzer Stolz Benötigt das Kind eine Brille, sind auch die Eltern gefordert: Sie brauchen Ge­ duld, bis der Spross die Brille von sich aus trägt – anstatt sie ständig durch die Ge­ gend zu schleudern. Bei Timo war das zum Glück nie ein The­ ma: «Er freut sich jedes Mal, wenn er eine neue Brille aussuchen darf», so Battistel. Denn zweimal jährlich braucht der Jun­ ge ein neues Modell, weil sich seine Au­ gen so rasch verändern. Glücklich wählt Timo also mal ein rotes Brillengestell aus, mal ein blaues, mal eins mit Herzchen. Woher diese Freude an Brillen? «Vielleicht, weil auch ich ständig eine Brille trage und meine Frau zum Auto­ fahren ebenfalls», vermutet sein Vater. Ausserdem hat Timo rasch gemerkt, dass er mit Brille besser sieht. Was aber macht eine gute Brille ausser ihren Gläsern aus? Augenarzt Mathias Abegg: «Wichtig ist, dass eine Brille gut auf der Nase sitzt und hinter den Ohren sicher hält – ohne zu drücken.» Bei Kindern zählt zudem, dass das Material stabil und formbar ist. Denn oft muss es eine ganze Menge aushalten. Hilfe gegen trockene Augen Bei Kurzsichtigkeit und Schielen hilft nur ein Besuch beim Augenarzt. Wer aber ein Trockenheits- und Fremdkörpergefühl in den Augen hat oder unter gereizten, roten Augen leidet, findet in Drogerien eine ganze Palette an Hilfsmitteln – auch für Kinder. _ Tropfen: «Besonders Tropfen mit Dexpanthenol und Hyaluronsäure oder homöopathische Tropfen, unter anderem mit Euphrasia (Augentrost) oder Belladonna (Tollkirsche), befeuchten die Augen», sagt Sandra De Stefano, Drogistin HF und ehemalige Geschäftsführerin der Drogaria Mosca in Scuol. Tun sich Kinder schwer damit, funktionieren Befeuchtungssprays meistens ganz gut. Denn diese können sogar über geschlossene Augen gesprüht werden. _ Gels und Salben: Zur Befeuchtung der Augen können auch Gels, häufig mit dem Wirkstoff Carbomer, oder Salben, zum Beispiel mit Euphrasia, angewendet werden. Euphrasia ist der typische pflanzliche Wirkstoff zur Linderung von leicht gereizten, geröteten oder trockenen Augen. _ Kapseln: Innerlich helfen Leinölkapseln oder Schüssler-Salz-Tabletten Nr. 8 (Natrium chloratum). Für Kinder, die noch keine Kapseln schlucken können, rät Drogistin De Stefano, diese einfach aufzustechen oder aufzubrechen und unter das Essen zu mischen. Werden die Symptome nach ein bis zwei Tagen nicht besser, empfiehlt die Drogistin einen Besuch beim Kinderarzt oder Augenarzt. Bis Timo 21 ist, muss er seine Brille tra­ gen – vielleicht auch für immer. Dann nämlich sind seine Augen ausgewach­ sen. Dank der Korrektur hat er aber kei­ ne gesundheitlichen Folgen zu befürch­ ten. Unter Umständen kann er eines Tages auch Kontaktlinsen tragen. Das empfehlen die Augenärzte jedoch frü­ hestens ab der Pubertät. Es gibt aber Ausnahmen: «Bei Kindern, die keine ei­ gene Linse haben, sind Kontaktlinsen bereits nach der Geburt möglich», er­ klärt Augenarzt Abegg. Bei Kindern un­ ter 14 Jahren rät er nur dann zu Kontakt­ linsen, wenn ein spezieller Grund vorliegt. Beispielsweise eine Asymmet­ rie der Augenlänge, Narben auf der Hornhaut oder eine unregelmässige Hornhautverkrümmung. Wer Kontaktlinsen trägt, egal ob Kinder oder Erwachsene, sollte die Hinweise der Optiker beachten: «Bakterielle Infektio­ nen durch nicht sachgemässe Handha­ bung der Kontaktlinsen sind eine der ganz häufigen Ursachen für Augenschä­ den», warnt Mathias Abegg. Andere Risiken für Kinderaugen – auch ohne Kontaktlinsen – sind Feuerwerk, Häm­ mer, Motorsensen, Unihockey, Squash und ähnliche Sportarten. «Hier empfeh­ len wir dringend, eine Schutzbrille zu tragen.» Pirat Timo genügen vorderhand Fahrrad und Trottinett als Abenteuerspielzeug. Also nichts wie Augenklappe aufsetzen und lossausen! Text: Claudia Weiss / Fotos: Corinne Futterlieb