12 Diagnose & Therapie Notfall Herzinfarkt Jede Minute zählt! Pro Jahr erleiden in Deutschland mehr als 330 000 Menschen einen Herzinfarkt, etwa 170 000 sterben daran. Besonders gefährlich sind die ersten Stunden nach Schmerzbeginn, weil lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen (Kammerflimmern) bevorzugt in gerade untergehendem Herzmuskelgewebe entstehen. Umso wichtiger ist es, die möglichen Vorboten bzw. Anzeichen eines Herz­infarkts richtig zu deuten und dann umgehend den Notarzt zu rufen. Von Dr. Nicole Schaenzler Fotos: Fotolia (thomaslerchphoto, spotmatikphoto) E in Herzinfarkt wird durch den akuten Verschluss eines Herzkranzgefäßes hervorgerufen; meist ist eine aufgerissene Kalkablagerung im Bereich der Herzkranzgefäße, an der sich ein Blutgerinnsel bildet, dafür verantwortlich. Dies führt dann zu einem Gefäßverschluss und ein Teil des Herzmuskels, für dessen Versorgung das Gefäß zuständig ist, wird nicht mehr mit Sauerstoff versorgt und droht abzusterben. Leitsymptom eines Herzinfarkts sind Schmerzen. Sie kommen aber nicht nur im Bereich des Herzens vor, sondern treten häufig an Körperstellen auf, die auf den ersten Blick nicht mit Herzschmerzen in Verbindung gebracht werden: ▸▸ heftige, länger als fünf Minuten anhaltende Schmerzen im Brustkorb, die in Arme, Schulterblätter, Nacken, Kiefer oder Oberbauch aus- Topfit 4 / 2016 strahlen können. Diese Schmerzen werden als schnürend (»wie ein eiserner Reifen um die Brust«), schneidend oder brennend beschrieben. ▸▸ starkes Engegefühl, heftiger Druck im Brustkorb, häufig verbunden mit Todesangst ▸▸ plötzliche Übelkeit mit oder ohne Erbrechen (bei Frauen oft das einzige Anzeichen!) ▸▸ plötzlicher Kreislaufzusammenbruch mit oder ohne Bewusstlosigkeit ▸▸ kaum fühlbarer Puls ▸▸ plötzlicher kalter Schweißausbruch ▸▸ Blässe, fahle Gesichtsfarbe, kalter Schweiß ▸▸ unregelmäßiger Herzschlag ▸▸ Atemnot Instabile Angina pectoris: Alarmstufe rot Bei Menschen, die wegen ihrer Beschwerden aufgrund einer koronaren Herzerkrankung (KHK) bereits in Behandlung sind, kann auch eine Veränderung des Angina-pectoris-Schmerzes einen Herzinfarkt ankündigen. Angina pectoris entsteht durch eine ungenügende Blutversorgung des Herzmuskels und ist das Leitsymptom der koronaren Herzkrankheit. Tritt der Angina-pectoris-Schmerz plötzlich auch in Ruhe auf und/oder nehmen die Beschwerden an Häufigkeit und Intensität zu, hat sich die stabile zu einer instabilen Angina pectoris entwickelt. In diesem Fall setzt z. B. der Effekt von Nitroglyzerin – das wichtigste Medikament zur Behandlung akuter Angina-pectoris-Beschwerden –, deutlich verzögert (nicht innerhalb von zehn Minuten) ein, oder es wirkt nicht mehr nachhaltig. Deshalb ist bei den Anzeichen einer instabilen Angina pectoris immer sofortiges Handeln angezeigt: Bleibt eine angemessene Behandlung aus, kann sie in einen Herzinfarkt münden. So wie die oben aufgeführten Alarmzeichen immer ein Grund sind, sofort den Notarzt zu rufen, so ist auch der instabile Angina-pectoris‑Anfall ein Notfall: Es gilt, umgehend die Notrufnummer 112 zu wählen. Denn nichts ist so grundlegend für eine günstige Prognose nach einem Herz­infarkt wie eine schnellstmögliche, effektive Erstversorgung – das gilt für Frauen ebenso wie für Männer. Time is muscle »Time is muscle« – Zeit ist (Herz-)Muskel – so lautet denn auch der Leitgedanke der modernen Herzinfarkttherapie. Tatsächlich kommt es auf jede Minute an: »Je schneller das verschlossene Gefäß wieder geöffnet und die Durchblutung wiederhergestellt wird, desto weniger Herzmuskelgewebe stirbt ab und umso größer ist die Chance zu überleben«, erklärt Prof. Dr. Roland Schmidt, Chefarzt der Abteilung Innere Medizin II des Krankenhauses Barmherzige Brüder München. Allerdings: Eine allgemeine Notaufnahme-Ambulanz ist in der Regel nicht spezialisiert genug, um innerhalb kürzester Zeit abzuklären, ob es sich um einen Herzinfarkt handelt oder nicht. Im Krankenhaus Barmherzige Brüder München werden deshalb inzwischen alle Patienten, die mit akuten Brustschmerzen eingeliefert werden, ohne Umweg über die allgemeine Notaufnahme in einer zertifizierten Einrichtung für kardiologische Notfälle, einer Chest Pain Unit (CPU), versorgt. Diagnose & Therapie 13 Chest Pain Unit: Wenn rasch und gezielt ­ gehandelt werden muss Standardisierte Abläufe in Diagnostik und Therapie verbessern die Überlebenschancen nach einem Herzinfarkt. Dies ist in einer Chest Pain Unit gewährleistet. Damit sollen vor allem Herz­infarkte bei Patienten frühzeitig erkannt und behandelt werden, die nicht immer von den typischen Warnzeichen betroffen sind. Von Dr. Nicole Schaenzler P lötzlich wird der Brustkorb von einem starken Schmerz erfüllt. Auch das Atmen fällt schwer. Den Hemdkragen lockern, sich setzen, bücken, legen – nichts hilft, eher nimmt der Schmerz weiter an Intensität zu, als dass er nachlässt. Es kann aber auch sein, dass der Schmerz nicht auf den Brustbereich beschränkt bleibt, sondern in Arme und Bauch ausstrahlt. Oder der Schmerz ist eigentlich kein richtiger Schmerz, sondern mehr ein Druckgefühl, so als sei der Brustkorb von einem Reifen eingeschnürt. Wie auch immer sich akute Brustschmerzen äußern: Treten sie plötzlich auf, halten sie länger an, strahlen sie in andere Körperregionen aus, verschlimmern sie sich durch Luftholen oder durch Bewegung, nehmen sie allmählich an Intensität zu oder sind sie gleich so heftig, dass sie große Angst hervorrufen – dann liegt fast immer ein Notfall vor, und der Betroffene sollte so schnell wie möglich in die Klinik gebracht werden. »Viele Menschen denken bei Schmerzen im Brustkorbbereich natürlich sofort an einen Herzinfarkt. Das ist im Prinzip auch richtig. Es gibt jedoch Krankheitsbilder, die auf den ersten Blick eine ganz ähnliche Symptomatik hervorrufen und nicht minder gefährlich sind, dazu gehören zum Beispiel eine Lungenembolie oder ein Einriss der Hauptschlagader«, sagt Prof. Schmidt. Bei diesen Erkrankungen gilt: «Je früher eine solche Erkrankung erkannt und behandelt wird, desto besser sind die Aussichten auf eine vollständige Genesung.« Verringerung der Sterberate Wörtlich übersetzt bedeutet Chest Pain Unit »Brustschmerzeinheit«. Der Begriff stammt aus den USA, wo es schon seit einigen Jahren gute Erfahrungen mit speziellen Notfallstationen für Patienten gibt, die unter unklaren Brustschmerzen leiden. In einer Chest Pain Unit sind alle Diagnose- und Behandlungsabläufe standardisiert, um so eine schnellere Ursachenabklärung und damit auch eine schnellere Behandlung zu gewährleisten. »Seit Etablierung der Chest Pain Units konnte die Sterblichkeitsrate bei Herz­ infarkten in den USA deutlich gesenkt werden«, betont Prof. Schmidt. Inzwischen gibt es auch in Deutschland verbindliche Qualitätsstandards, nach denen sich Krankenhäuser von der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie – Herz- und Kreislaufforschung e. V. (DGK) zertifizieren lassen können; die Chest Pain Unit des Krankenhauses Barmherzige Brüder München wurde im Dezember vergangenen Jahres zertifiziert. Hohe Anforderungen Die Anforderungen an eine Chest Pain Unit sind hoch. So muss sie z. B. mit genügend Überwachungsplätzen ausgestattet sein und über die apparativen Voraussetzungen für eine umfangreiche Herzinfarktdiagnostik verfügen, um z. B. regelmäßige EKG-Kontrollen oder eine Ultraschalluntersuchung des Herzens vornehmen zu können. Zudem sollte eine Chest Pain Unit in der Lage sein, die Patienten rund um die Uhr aufzunehmen und zu versorgen. Dementsprechend muss auch das Herzkatheterteam jederzeit abrufbereit sein, um im nahe gelegenen Herzkatheterlabor, wenn nötig auch in der Nacht, umgehend die Therapie einleiten zu können. »Gelingt es, den Patienten innerhalb der ersten 60 bis 90 Minuten nach Auftreten der ersten Symptome im Herzkatheterlabor zu behandeln, und dort das verschlossene Gefäß wiederzueröffnen – eine sogenannte perkutane Koronarintervention –, hat der Patient die beste Prognose. Hierbei wird der Verschluss oder die Engstellen des betroffenen Herzkranzgefäßes minimal-invasiv während einer Herzkatheteruntersuchung mit einem Ballon aufgedehnt und anschließend mit einer Gefäßstütze, einem Stent, stabilisiert«, erklärt Prof. Schmidt. Stimme das Zeitfenster, seien die Aussichten gut, mithilfe der perkutanen Koronarintervention größeren Schaden vom Herzmuskelgewebe abzuwenden – und damit die wichtigste Voraussetzung dafür zu schaffen, dass der Herz­infarktpatient schon bald wieder ein weitgehend normales Leben führen könne. »Klar ist aber auch: Von den Vorteilen einer raschen, zielgerichteten Behandlung in einer Chest Pain Unit profitiert der Patient nur dann, wenn er rechtzeitig bei uns eingeliefert wird. Momentan sieht die Wirklichkeit leider noch anders aus: Knapp 30 Prozent der Todesfälle infolge eines Herzinfarkts ereignen sich, bevor medizinische Hilfe eintrifft. Durch die gute Ausbildung des Rettungsdienstpersonals sowie die Einrichtung von spezialisierten Chest Pain Units konnte die Zeitverzögerung auf dieser Seite deutlich reduziert werden und liegt nun leider mehrheitlich bei den Patienten, die sich häufig erst sehr bzw. manchmal auch zu spät um Hilfe bemühen. Deshalb rate ich jedem Patienten bei anhaltenden unklaren Brustschmerzen, keine Minute zu zögern und gleich den Notarzt zu alarmieren,« rät Prof. Schmidt. Zur Person Prof. Dr. med. Roland Schmidt ist Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie, Notfall- und Intensivmedizin sowie Sportmedizin und Chefarzt der Abteilung Innere Medizin II des Krankenhauses Barmherzige Brüder München, wo sämtliche diagnostischen und therapeutischen Methoden zur Erkennung und Behandlung von Herz-, Kreislauf- und Lungenerkrankungen angeboten werden. Zudem ist Prof. Dr. Schmidt Internist und Kardiologe der Lizenzfußballspieler des FC Bayern München und führt aufgrund seiner sportmedizinischen Qualifikation im Krankenhaus Barmherzige Brüder spezielle sportmedizinische Untersuchungen durch; dazu gehören auch eine individuelle Leistungsdiagnostik und Trainingsberatung zur Prävention von kardiovaskulären Erkrankungen. Nähere Infos: www.barmherzige-muenchen.de Topfit 4 / 2016