Als PDF herunterladen

Werbung
Zitierhinweis
Jonas Bens: Rezension von: Antje Gunsenheimer / Ute Schüren:
Amerika vor der europäischen Eroberung, Frankfurt a.M.: S.
Fischer 2016, in sehepunkte 17 (2017), Nr. 3 [15.03.2017],
URL:http://www.sehepunkte.de/2017/03/30159.html
First published: http://www.sehepunkte.de/2017/03/30159.html
copyright
Dieser Beitrag kann vom Nutzer zu eigenen nicht-kommerziellen
Zwecken heruntergeladen und/oder ausgedruckt werden. Darüber
hinaus gehende Nutzungen sind ohne weitere Genehmigung der
Rechteinhaber nur im Rahmen der gesetzlichen
Schrankenbestimmungen (§§ 44a-63a UrhG) zulässig.
sehepunkte 17 (2017), Nr. 3
Antje Gunsenheimer / Ute Schüren: Amerika
vor der europäischen Eroberung
Es ist eine Herausforderung, eine historische Überblicksdarstellung über
Amerika vor der europäischen Eroberung zu schreiben. Der
amerikanische Doppelkontinent hat von seiner Besiedlung bis zum Jahr
1500 derart vielfältige kulturelle Erscheinungen hervorgebracht, dass
man notwendigerweise starke Schwerpunktsetzung vornehmen, mit
anderen Worten "Mut zur Lücke" beweisen muss. Antje Gunsenheimer
und Ute Schüren haben diese Herausforderung angenommen und ein
Überblickswerk vorgelegt, das in diesem Jahr als Band 16 der Neuen
Fischer Weltgeschichte erschienen ist. Damit löst es den in die Jahre
gekommenen Band 21 der Fischer Weltgeschichte ab. [ 1 ]
Im ersten Kapitel geben die Autorinnen zunächst eine Orientierung
darüber, was die wissenschaftliche Erforschung der altamerikanischen
Kulturen ausmacht, die in Deutschland Altamerikanistik genannt wird. [ 2
] Als Subdisziplin der Ethnologie bzw. der Sozial- und
Kulturanthropologie hebt sie sich von anderen historischen
Forschungstraditionen ab. In Anlehnung an die US-amerikanische four
field anthropology umfasst die Altamerikanistik die archäologische,
(ethno-)historische, (ethno-)linguistische, und ethnografische
Erforschung des Doppelkontinents. [ 3 ] Damit geht sie zum einen
subdisziplinär über die Archäologie und Geschichtswissenschaft hinaus.
Zum anderen umfasst sie ebenso die Erforschung indigener Kulturen in
Auseinandersetzung mit den seit 1500 etablierten kolonialen und
postkolonialen Ordnungen bis hin zur Gegenwart. Relevante Quellen für
die Erforschung des vorkolonialen Amerika sind somit archäologische
Zeugnisse, ethnolinguistische Untersuchungen (einschließlich
epigrafischer Studien vorkolonialer Schriftquellen, die insbesondere für
die Erforschung der Maya von Bedeutung sind), ethnohistorische
Zeugnisse aus vorkolonialen, mehrheitlich aber kolonialzeitlichen Schriftund Bildquellen, sowie solche Erkenntnisse, die sich - bei aller gebotenen
Vorsicht - aus ethnografischen Analogien gewinnen lassen. Dabei heben
sich die Autorinnen von gelegentlichen Verengungen ab, die angeben, die
Altamerikanistik sei eigentlich nur für die Erforschung der Hochkulturen
Mesoamerikas [ 4 ] und des Andenraums zuständig (Maya, Inka und
Azteken). Im Gegenteil nimmt dieses Buch die Amerikas als Ganzes in
den Blick - ohne dabei unleugbare Forschungsschwerpunkte in der
Fachgeschichte zu verwischen (54).
Konsequenterweise folgt dann auch im zweiten Kapitel der für die
Kulturanthropologie klassische Einstieg nach culture areas . Obgleich
Kulturarealen, die im Wesentlichen naturräumlichen Gegebenheiten
folgen, heute richtigerweise ein weitgehendes Erklärungspotential für
kulturelle Entwicklungen abgesprochen wird, bleiben sie doch als
Orientierungsmarken für die Sozial- und Kulturanthropologie der
Amerikas weiterhin von Bedeutung. Die Autorinnen vermeiden dann auch
jede naturdeterministische Rhetorik, sondern zeigen im Gegenteil bei der
Darstellung der Zusammenhänge zwischen geografisch-klimatischen
Gegebenheiten und kulturellen Phänomenen ein hohes Maß an
Sensibilität.
Kapitel III behandelt die teils immer noch kontrovers diskutierten
Besiedlungstheorien Amerikas. Das schwierige Thema navigieren die
Autorinnen mit großem Geschick, indem sie sich eines autoritativen
Erzählstils enthalten, und stattdessen immer nah am (meist
archäologischen) Material auch widersprechende Deutungen zu Wort
kommen lassen. Im vierten Kapitel, das weite Teile des
Doppelkontinentes abdeckt, wird das Archaikum beschrieben.
Für die folgenden drei Kapitel (V-VII) haben die Autorinnen eine
Einteilung gewählt, die nicht nach Epochen gliedert, sondern Kulturen
und Gesellschaften nach dem Grad der soziopolitischen Organisation
vergleichend darstellt. Kapitel V beschreibt daher zunächst die
Entstehung komplexer Gesellschaften und berücksichtigt
schwerpunktmäßig die Hügelbauergesellschaften sowie die frühen
Kulturhorizonte in Mesoamerika und dem Andenraum. Kapitel VI
behandelt dann komplexe Häuptlingstümer, Kleinstaaten und
Regionalkulturen und enthält je ein Unterkapitel zu den Maya in
Mesoamerika, den Moche im Andenraum, der Mississippi-Kultur sowie
Anasaszi und Hohokam im Südosten Nordamerikas. Kapitel VII, das sich
den Hegemonialstaaten und imperialen Herrschaftsformen widmet, stellt
schließlich Tehutihacan, Tolteken und Azteken in Mesoamerika und
Tiwanaku und Wari sowie das Inka-Reich im Andenraum vor. Diese drei
Kapitel werden jeweils durch einführende Bemerkungen sowie
Abschluss-Unterkapitel gerahmt, in denen die soziopolitischen Formen
vergleichend behandelt werden.
Eine solche Einteilung nach soziopolitischen Organisationsformen hat
freilich auch ihre Tücken. Denn eine historische Entwicklung von unoder wenig geschichteten Gesellschaften hin zu imperialen Staaten kann
in den Amerikas nur dann angenommen werden, wenn man zunehmend
auf Differenzierungen verzichtet, je weiter man das historische Narrativ
an 1500 heranführt. Dennoch gibt es zu Gunsenheimers und Schürens
Einteilung keine rechte Alternative, will man die gewachsenen
Forschungsschwerpunkte der Altamerikanistik auf die geschichteten
Häuptlingstümer, Staaten und imperialen Hegemonialstaaten
angemessen abbilden. Es ist dem sorgfältigen und abgewogenen Stil der
Autorinnen zu verdanken, dass das Buch die notwendigen
Differenzierungen sehr gut deutlich macht. Nah am Material verzichten
sie auf die große historische Erzählung für die Amerikas, mit der sich die
Altamerikanistik überheben müsste. Umgekehrt ist das Buch aber auch
keine langweilige Materialbeschreibung, sondern findet einen
gelungenen Mittelweg zwischen Material- und Quellennähe und
Lesbarkeit.
Mit "Amerika vor der europäischen Eroberung" haben Gunsenheimer und
Schüren zweifellos ein Standardwerk vorgelegt, das Maßstäbe setzt. Für
die universitäre Ausbildung hat das Buch damit großen Wert. Aber auch
der breiteren Öffentlichkeit steht hiermit ein gut lesbares, interessant
geschriebenes und vor allem seriöses Überblickswerk zur Verfügung, das
hoffentlich eine breite Leserschaft findet.
Anmerkungen :
[ 1 ] Laurette Séjourné: Altamerikanische Kulturen, Frankfurt am Main
1971.
[ 2 ] Von "Altamerika" zu sprechen, mag angestaubt wirken. Jedenfalls ist
der Begriff aber angemessener als "prähistorisch", was dann, jedenfalls
bezogen auf Amerika, mit "vorkolonial" gleichgesetzt ist; Peter R.
Schmidt / Stephen A. Mrozowsi: The Death of Prehistory, Oxford 2013.
Auch die indigenen Kulturen der Amerikas hatten eine Geschichte vor
der europäischen Eroberung; Eric R. Wolf: Die Völker ohne Geschichte:
Europa und die andere Welt seit 1400, Frankfurt am Main 1986.
[ 3 ] Die vier Felder der Anthropologie in den USA umfassen neben der
cultural anthropology , (die in etwa der "Ethnologie" in der
kontinentaleuropäischen Tradition entspricht) die archaeology ,
linguistics , und physical anthropology . Die vier Felder werden zumeist
in gemeinsamen Studiengängen unterrichtet. Die Ethnohistorie wird in
den USA als Teil der cultural anthropology verstanden, aber auch in den
Geschichtswissenschaften betrieben.
[ 4 ] Der Begriff "Mesoamerika" ist nicht mit dem geografischen Begriff
"Mittelamerika" identisch, sondern bezeichnet ein Kulturareal, das über
archäologische und linguistische Gemeinsamkeiten der in diesem Gebiet
in vorkolumbischer Zeit lebenden Kulturen definiert wird. Mesoamerika
umfasst Teile des heutigen Mexiko, Belize, Guatemala, El Salvador,
Honduras, Nicaragua und Costa Rica.
Herunterladen