Ethische Einstellungen und Verhaltensweisen von PsychologInnnen Ergebnisse einer Studie Dr. Anna Felnhofer Mag. Oswald D. Kothgassner Wiener Ethiktagung Psychologie 12. November 2016 Dr. Anna Felnhofer E: [email protected] Mag. Oswald D. Kothgassner E: [email protected] ARBEITSGRUPPE KLINISCHE UND GESUNDHEITSPSYCHOLOGIE Relevanz Ethische Dilemmata in der Praxis Beiträge zur Diskussion ethischer Fragestellung basieren vorwiegend auf: Meinungen, persönlichen Heuristiken anekdotischer Evidenz vereinzelten Kasuistiken (Sullivan, 2002) Wenige empirische Studien Wichtigkeit empirischer Daten Verbesserung & Aktualisierung bestehender ethischer Richtlinien (vgl. Pope, Tabachnick, & Keith-Spiegel, 1987; Wierzbicki, Siderits, & Kuchan, 2012) Anpassung der Ausbildung (Sensibilisierung, Ressourcen stärken, ethische Reflexionsprozesse anregen) (vgl. Felnhofer, Kothgassner & Kryspin-Exner, 2011) Information über gesellschaftliche/ berufsspezifische Veränderungen über die Zeit (vgl. Tubbs & Pomerantz, 2001) ARBEITSGRUPPE KLINISCHE UND GESUNDHEITSPSYCHOLOGIE Bisherige Forschung Deskriptive Erhebungen Entwicklung eines Fragebogens (N=456) ethische Einstellungen & Verhaltensweisen, 83 Items (Pope, Tabachnick, & Keith-Spiegel, 1987) 8% der Verhaltensweisen von über 90% der PsychologInnen angegeben (z.B. Selbstoffenbarung als therapeutische Methode, KlientIn beim Vornamen ansprechen, Geschenke im Wert von <5 USD annehmen, KlientIn sagen, dass man auf sie/ihn böse ist) 19% der Verhaltensweisen von weniger als 10% der PsychologInnen angegeben (z.B. Sexuelle Kontakte zu KlientInnen, Nacktheit in der Therapie, Bezahlung dafür annehmen, dass man KlientInnen an Kollegen überweist) Geschlechtsunterschiede: W lassen sich eher mit Vornamen ansprechen, umarmen KlientIn; M eher sexuell angezogen von KlientIn, sexuelle Phantasien, behandeln Homosexualität als Pathologie ARBEITSGRUPPE KLINISCHE UND GESUNDHEITSPSYCHOLOGIE Bisherige Forschung Aktuellere Studien Anfragen zu ethischen Problemen an die Wisconsin Psychological Association (Wierzbicki et al., 2012) Häufigsten Fragen (PsychologInnen): Vertraulichkeit, Auskunftspflicht, multiple Beziehungen Häufigste Fragen (KlientInnen): sexuelle Kontakte, Vertraulichkeit, Bezahlung , Beendigung der Therapie Geschlechtsunterschiede: mehr Anfragen von Männern; männl. Psychologen eher sexuelle Übergriffe Vergleich ethische Einstellungen von PsychologInnen und Laien (Pomerantz & Grice, 2001) 3 Faktoren nicht-sexuelle Beziehungen, unangenehme Aktionen von PsychologIn, sexuelle Beziehungen; Laien toleranter gegenüber nicht-sexuellen Beziehungen zu PsychologInnen Vergleich mit Daten von 1987 (Pomerantz & Grice, 2001) 1/3 der Ergebnisse unterschied sich signifikant von den 1987-Ergebnissen; Heute: PsychologInnen zeigen seltener ethisch problematisches Verhalten bzw. geben dieses seltener an Ethische Einstellungen & Verhaltensweisen Australischer PsychologInnen (Sullivan, 2002) selten sexuelle Kontakte & Phantasien, von KlientIn Geld leihen od. vice versa, Klientennamen verraten unklare Bewertung rechtliche Schritte setzen, um Honorar zu erhalten; persönliche Beratung übers Radio Zielsetzung Erstmalige Untersuchung ethischer Verhaltensweisen und Einstellung österreichischer Klinischer PsychologInnen Bestandserhebung & deskriptive Analse des Auftretens ethisch problematischer Situationen Fragestellung I Gibt es Geschlechtsunterschiede in der Bewertung sowie auch im Auftreten ethisch problematischer Situationen? Fragestellung II Gibt es Unterschiede zwischen PsychologInnen, die nur klinisch-psychologisch behandeln und jenen, die auch psychotherapeutisch arbeiten hinsichtlich der Bewertung und dem Auftreten ethisch problematischer Situationen? Fragestellung III Gibt es Unterschiede zwischen PsychologInnen in Ausbildung und bereits praktizierenden Klinischen PsychologInnen hinsichtlich der Bewertung und dem Auftreten ethisch problematischer Situationen? Methoden Online-Studie OFB über SoSciSurvey (https://www.soscisurvey.de/) Rekrutierung: per Mail & Schneeballsystem österreichweite Aussendung des BÖP Informed Consent online Dauer der Teilnahme: ca. 20 min Methoden Verfahren Übersetzter und adaptierter Fragebogen von Pope et al. (1987) 91 Items, 3 Skalen nach FA (1) Multiple Beziehungen, (2) Persönliche Distanz, (3) Professionelle Arbeitsweise Verhaltensweisen: Wie häufig tritt diese Situation auf? 5 Pkt.Likert Skala: nie – sehr häufig; nicht zutreffend Einstellungen: Wie ethisch vertretbar ist dieses Verhalten für Sie? 5 Pkt.Likert Skala: keinesfalls, unter keinen Umständen – auf jeden Fall Zusätzliche Items: Den/die KlientIn googeln oder im Internet suchen Eine Freundschaftsanfrage des/der KlientIn auf Facebook oder anderen privaten sozialen Netzwerken akzeptieren Selbst dem/der KlientIn eine Freundschaftsanfrage auf Facebook oder anderen privaten sozialen Netzwerken schicken Während der Sitzung telefonieren Dem/der KlientIn bei gesundheitlichen Problemen zum eigenen Arzt schicken Den/die KlientIn mittels E-Mail behandeln Methoden Stichprobe N= 239 (39 Männer, 200 Frauen) Alter: Durchschnitt 41 Jahre, durchschnittl. 13 Jahre Berufserfahrung Beruf: Klinische PsychologInnen, ArbeitspsychologInnen, PsychotherapeutInnen, AusbildungskandidatInnen 53 % in der Stadt tätig, 27 % am Land tätig, etwa 20 % sowohl Stadt wie Land 43 % an einer Gesundheitsinstitution, 18 % Privatpraxis, 33 % Teilzeit Praxis und Institution Ergebnisse Auftreten ethisch problematischer Situationen Item 1 Geschenk mit niedrigem Wert (unter 50 Euro) annehmen 2 Mit Freunden über Patienten sprechen (ohne Namen zu nennen) 3 Vom Patienten mit Vornamen ansprechen lassen 4 Sich mit Vornamen ansprechen lassen 5 Den Klienten googlen/ im Internet suchen 6 Eine/n Patient/in umarmen 7 Selbstoffenbarung als Methode wählen 8 Arbeiten, obwohl man zu gestresst ist, um noch effektiv zu sein 9 Fortführung der Behandlung, obwohl zur/m PatientIn sexuell angezogen fühlen 10 Während einer Sitzung telefonieren 11 Klienten kein Honorar verrechnen 12 Für den Patienten jederzeit verfügbar sein 13 Privatnummer an Patienten weitergeben 14 Diagnose ändern um Versicherungskriterien zu entsprechen 15 Sexuelle Fantasien über PatientIn haben 16 Vor dem Patienten weinen 17 Freundschaft mit ehemaligem/r Patient/in 18 Freund behandeln 19 Einen Test mit nach Hause geben 20 Vertrauliche Daten unbeabsichtigt offenbaren % der Betroffenen 78,7 78,2 65,3 65,3 64,4 61,5 55,6 55,2 47,3 46,9 43,5 37,2 36,4 35,1 30,5 28,9 28,0 26,8 23,0 22,6 Ergebnisse Auftreten ethisch problematischer Situationen Auftreten und Bewertung von ethischen Problemen anhand der extrahierten Skalen (N=239): Multiple Beziehungen Persönliche Distanz Professionelle Arbeitsweise Auftreten (M, SD) 1,77 (0,432) 1,58 (0,356) 1,61 (0,427) Bewertung (M, SD) 3,09 (0,606) 2,24 (0,614) 2,56 (0,640) Ergebnisse Unterschiede Psychologen und Psychologinnen Unterschiede im Auftreten von ethischen Problemen (Frauen n=200; Männer n=39): Multiple Beziehungen Persönliche Distanz Professionelle Arbeitsweise p-value n.s. 0.014 n.s. Männer (M, Abw.) 1,76 (0,451) 1,71 (0,332) 1,66 (0,461) Frauen (M, Abw.) 1,77 (0,430) 1,55 (0,356) 1,59 (0,420) Männer berichten öfter von ethischen Problemen in der Distanz. Unterschiede in der Bewertung von ethischen Problemen (Frauen n=200; Männer n=39): Multiple Beziehungen Persönliche Distanz Professionelle Arbeitsweise p-value n.s. 0.042 n.s. Männer (M, Abw.) 2,52 (0,679) 2,42 (0,601) 3,12 (0,600) Frauen(M, Abw.) 2,57 (0,633) 2,20 (0,610) 3,08 (0,607) Männer bewerten Probleme in der Distanz auch stärker, was dazu führen könnte, dass diese vermehrt erkannt werden/ vermehrt auftreten. Ergebnisse Unterschiede: Klinisch-psychologische Behandlung vs. Psychotherapie Unterschiede im Auftreten von ethischen Problemen (KP n=133; PT n=58): Multiple Beziehungen Persönliche Distanz Professionelle Arbeitsweise p-value n.s. 0.001 n.s. KP (M, Abw.) 1,79 (0,452) 1,51 (0,325) 1,62 (0,435) PT (M, Abw.) 1,69 (0,37) 1,72 (0,323) 1,65 (0,403) Bei PsychologInnen, die vorrangig psychotherapeutisch arbeiten, kommt es öfter zu ethischen Problemen in der persönlichen Distanz Unterschiede in der Bewertung von ethischen Problemen (KP n=133; PT n=58): Multiple Beziehungen Persönliche Distanz Professionelle Arbeitsweise p-value n.s. 0.004 n.s. KP (M, Abw.) 2,56 (0,631) 2,45 (0,676) 3,11 (0,609) PT (M, Abw.) 2,52 (0,667) 2,11 (0,561) 3,04 (0,658) Dies wird auch durch die Awareness ethischer Problemfälle erklärt, welche zeigt, dass nur klinischpsychologisch behandelnde Personen achtsamer hinsichtlich Problemen im Bereich persönliche Distanz in der PatienItInnenbeziehung sind. Diskussion Ethisch problematische Situationen Bandbreite & Variabilität ethischer Dilemmata wird sichtbar (Inhaltsanalyse der freien Antworten) 3 große Problembereiche (vgl. Pomerantz & Grice, 2001) (1) multiple Beziehungen (2) persönliche Distanz (3) professionelle Arbeitsweise Unterschiedliche Bewertungen & Verhaltensweise hinsichtlich persönlicher Distanz Unterschiede zw. KP und PT, Geschlechtsunterschiede (Pope et al., 1987; Wierzbicki et al., 2012) tlws. große Unsicherheiten hinsichtlich Lösungsmöglichkeiten (besonders hinsichtl. Wahrung der Vertraulichkeit vs. Schutz des/der KlientIn) V.a. Kinder, Menschen mit Behinderungen, ältere PatientInnen bei fraglicher Mündigkeit Schutz gegenüber Angehörigen Zeitlicher & gesellschaftlicher Wandel neue Herausforderungen! (siehe E-Mail-Beratung, Kontakte über FB, Googlen) Diskussion Implikationen und Ausblick Berücksichtigung in der Ausbildung zum/zur Klinischen PsychologIn (Konkrete Handlungsanweisungen bieten) Richtlinien adaptieren bzw. ergänzen um konkrete Fallbeispiele Anlaufstellen bei ethischen Dilemmata verstärkt propagieren (mangelnde Kenntnis über Nachschlagewerke/ Anlaufstellen etc.) Künftige Studien zu ethischem Verhalten: welche Einflussfaktoren? (Geschlecht, Alter, Ausbildung, beruflicher Background) Abgleich mit Anfragen an entsprechende Anlaufstellen (Dunkelziffer?) Literatur Felnhofer, A., Kothgassner, O. D. & Kryspin-Exner, I. (Hrsg.) (2011). Ethik in der Psychologie. Wien: UTB facultas.wuv. Ford, R. C., & Richardson, W. D. (1994). Ethical decision making: A review of the empirical literature. Journal of Business Ethics, 13(3), 205-221. Pomerantz, A. M., & Grice, J. W. (2001). Ethical beliefs of mental‐health professionals and undergraduates regarding therapist practices. Journal of clinical psychology, 57(6), 737-748. Pope, K. S., & Vetter, V. A. (1992). Ethical dilemmas encountered by members of the American Psychological Association: a national survey. American Psychologist, 47(3), 397. Pope, K. S., Tabachnick, B. G., & Keith-Spiegel, P. (1987). Ethics of practice: The beliefs and behaviors of psychologists as therapists. American Psychologist, 42(11), 993. Rae, W.A., & Worchel, F.F. (1991). Ethical beliefs and behaviors of pediatric psychologists: A survey. Journal of Pediatric Psychology, 16, 727–745. Sullivan, K. (2002). Ethical beliefs and behaviours among Australian psychologists. Australian Psychologist, 37(2), 135-141. Tubbs, P., & Pomerantz, A. M. (2001). Ethical behaviors of psychologists: changes since 1987. Journal of clinical psychology, 57(3), 395-399. Wierzbicki, M., Siderits, M. A., & Kuchan, A. M. (2012). Ethical questions addressed by a state psychological association. Professional Psychology: Research and Practice, 43(2), 80. Dank an: Karin KALTEIS, Heinz KARLUSCH, Wolf-Dietrich ZUZAN (BÖP) Magdalena HIMMELBAUER, Nana UMINO, Claudia JENNEL, Carina FRIEDL (Studierende, Uni Wien) Mag. Dr. Anna Felnhofer Mag. Dr. Anna Felnhofer Kontakt: [email protected] E: Anna [email protected] Dr. Felnhofer homepage.univie.ac.at/anna.felnhofer E:W: [email protected] Mag. Oswald D. Kothgassner E: [email protected]