MIGROS MAGAZIN BEILAGE: Gesundheit EXTRA 12 | MM19, 8.5.2017 | OPERATION Alles wieder bestens: Die kleine Isla bei der Nachuntersuchung im Berner Inselspital. Paukenröhrchen Kleiner Schnitt mit grosser Wirkung Wenn sich bei Kleinkindern Flüssigkeit im Innenohr ansammelt, kann das Gehör Schaden nehmen. Darunter leidet auch der Spracherwerb. Gegen den sogenannten Paukenerguss hilft das Paukenröhrchen. Text: Ben Kron Bilder: Marco Zanoni A nfangs war die kleine Isla ein aufgewecktes, fröhliches Kind. Wie ihre ältere Schwester begann sie früh, die ersten Worte zu sprechen. «Isla hatte nach der Geburt aber eine schwere Zeit, es kam mehrmals zu Infektionen, und sie benötigte oft Antibiotika», erzählt ihre Mutter Angela Krampe. So erlitt das Baby etwa eine Mittelohrentzündung, in deren Verlauf das Trommelfell platzte. Obwohl die Entzündung abklang, verstummte Isla mit neun Monaten immer mehr. Ihre Mutter schildert die beängstigende Phase: «Sie benützte Gebärden statt der bereits erlernten Wörter, reagierte nur noch auf laute Geräusche, weinte oft, hatte Ohrenschmerzen und dann auch Schwierigkeiten mit dem Schlafen.» Dass Isla ein ernstes Hörproblem hatte, erkannte als Erste die behandelnde Kinderärztin. Also verwies sie die Familie weiter ans Berner Inselspital. Georgios Manto- koudis, der leitende Arzt an der dortigen Klinik für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten, Kopf- und Halschirurgie, schildert den Fall: «Das Kind litt an einem sogenannten Paukenerguss. Dabei sammelt sich Flüssigkeit im Mittelohr an, die wegen des noch kleinen Kopfs und der engen Anatomie nicht durch die Eustachische Röhre abfliessen kann. Die Rachenmandeln sind oft vergrössert, was das Atmen behindert und den Eingang zur Eustachischen Röhre blockiert.» Die Mittelohrflüssigkeit drückt ständig gegen das empfindliche Trommelfell. «Der Schmerz fühlt sich an, als würde man mit einem Messer hineinstechen», so Mantokoudis. Zudem hört das Kind deutlich schlechter, und in der Flüssigkeit sammeln sich gerne Bakterien an. Deshalb ist das Ohr anfällig für Entzündungen. Bei Kindern können solche Mittelohrentzündungen zu gefährlichen Komplikationen führen. In der Regel verläuft die Entzündung, auch Tubenkatarrh genannt, aber meist harmlos; 80 Prozent aller Kinder sind einmal betroffen. «Unter Umständen entsteht Eiter, der bei einem geplatzten Trommelfell abfliessen kann», sagt Mantokoudis. Das entstandene Loch im Trommelfell wächst wieder zu, sobald die Infektion abgeklungen ist. Dauern die Probleme aber wie bei Isla länger an, führen sie zu einem Sprachentwicklungsrückstand. Kritisch ist bei Kleinkindern vor allem ein länger dauernder Hörverlust von mehr als 20 bis 30 Prozent. Bei Isla entschied man sich nach zahlreichen Untersuchungen für eine Operation. Georgios Mantokoudis erklärt den Eingriff: «Im Trommelfell wird unter Narkose ein etwa zwei Millimeter langer Schnitt vorgenommen, damit die angestaute Flüssigkeit abgesaugt werden kann. Dann führt man das Paukenröhrchen ein: ein kurzes Röhrchen, das sich an beiden Enden trichterförmig erweitert.» Es verhindert das Zuwachsen des Trommelfells und sorgt dafür, dass der Abfluss des Mittelohrs offen bleibt. «Zudem haben wir Islas Rachenmandeln kontrolliert und herausgenommen.» Allein dank dieser Massnahme erleiden drei Viertel aller operierten Kinder keine Mittelohrentzündung mehr. Nach dem Eingriff hört das Kind sofort besser und hat weniger oder kaum noch Schmerzen. Angela Krampe bestätigt: «Isla war wie ausgewechselt, als sie nach der Operation aufwachte.» Nun konnte sie wieder die Blätter an den Bäumen rascheln hören – dieses sanfte Geräusch hatte sie im Winter zuvor noch nicht wahrgenommen. Dazu hat sie rasch wieder zu sprechen angefangen; den entstandenen Rückstand holt sie mit grossen Schritten auf. «Mit zwei Jahren setzt sie den Spracherwerb dort fort, wo sie mit neun Monaten aufgehört hat. In den Ferien sprudelten die Worte wieder aus ihr heraus!» Zudem brauchte das Mädchen in den vier Monaten seit der OP nur noch ein Mal Medikamente. Familie Krampe freut sich, dass alle wieder unbeschwert leben und auch verreisen können. «Wir mussten wegen Islas Ohren aufpassen, dass wir uns nie in eine Höhe über 1400 Meter begaben», sagt Angela Krampe. «Wir wohnen in Zweisimmen im Simmental. Wenn wir etwa ins benachbarte Greyerzerland fahren wollten, mussten wir die Route genau planen.» Denn der Jaunpass liegt leider auf 1509 Meter über Meer. Eine bewährte Methode Ende Januar, vier Monate nach dem Einsetzen der Paukenröhrchen, ist Isla wieder im Inselspital zur Nachkontrolle. HNO-Oberarzt Simon Müller untersucht die Zweijährige. «Die Röhrchen sind noch drin und sitzen sehr gut», lautet sein Befund. «Wir brauchen erst wieder in vier Monaten einen Termin. In der Zwischenzeit können wir abwarten, ob die Röhrchen herausfallen.» Georgios Mantokoudis bestätigt: «Ist das Ohr trocken, fällt das Paukenröhrchen nach einigen Monaten von selbst heraus, und das Trommelfell wächst in wenigen Tagen wieder zu. Nur in wenigen Fällen muss mehrmals ein Röhrchen eingesetzt werden.» Das Paukenröhrchen ist laut HNO-Fachmann Mantokoudis schon seit vielen Jahrzehnten in der Medizin bekannt und eine bewährte Methode, Kleinkinder mit häufig auftretenden Mittelohrentzündungen und Sprachentwicklungsstörungen zu behandeln. Es besteht aus verschiedenen Materialien; bei Isla ist es eine Legierung aus vergoldetem Silber, aber auch Titan-, Gold-Platin- und Kunststoffmodelle sind im Einsatz. Daneben gibt es feste implantierte Röhrchen, die wieder operativ entfernt werden müssen. Sie kommen bei schweren Fällen wie etwa Lippen-Kiefer-Gaumenspalten zum Einsatz. «Mit den temporären Paukenröhrchen können wir sehr zuverlässig helfen und für alle Betroffenen viel mehr Lebensqualität erreichen. Das Kind hat keine Schmerzen mehr, braucht keine Medikamente und hört sofort wieder. Wie wenn man einen Schalter umlegt.»MM