2. Zwischenbetrachtung

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2. Zwischenbetrachtung
Kritik oder „Sturm und Drang“ ?
An dieser Stelle bieten sich zwei Möglichkeiten an fortzufahren:
1. Weg Kritische Betrachtung der Begriffe.
2. Weg Untersuchung der Intuition auf ihren mathematischen Gehalt.
Der erste Weg
Eine präzisierende Analyse des naiven Verständnisses der Begriffe Menge,
„a ∈ b“, Mengenbildung, Eigenschaft führt fast zwangsläufig zur axiomatischen
Mengenlehre, die in einer ebenso einfachen wie strengen Kunstsprache formuliert ist, der sogenannten Prädikatenlogik erster Stufe.
Dieser Weg könnte etwa wie folgt verlaufen (historisch verlief die Sache auf
dem zweiten Weg). Zunächst kann man die folgende Frage stellen:
A . Was ist eigentlich ein mathematisches Objekt ?
Es zeigt sich, daß alle mathematischen Objekte (Zahlen, Funktionen, usw.) als
Mengen interpretiert werden können. Dies heißt: Es gibt Definitionen dieser
Objekte als Mengen, die alle Eigenschaften dieser Objekte zur Verfügung stellen, die in der Mathematik gebraucht werden. Hier geht es nicht um Ontologie
− was ist π ? −, sondern um präzise und brauchbare, sich im Aufbau einer Theorie
natürlich ergebende Definitionen − z. B. π/2 ist definiert als „die kleiste positive
Nullstelle der Cosinus-Funktion“. Was man sich unter den mathematischen Objekten schließlich vorstellt und welche Eigenschaften der Objekte am wichtigsten erscheinen, ist jedem Mathematiker selbst überlassen − z.B. π als fundamentale Größe zur Berechnung von Umfang und Inhalt des Kreises.
Die Mengenlehre ist hinsichtlich der Interpretation der gesamten Mathematik konkurrenzlos. Entscheidend ist hier nicht ein platonischer Glaube an die
Mengen, sondern die Leistungsfähigkeit der Theorie und die Universalität der
verwendeten Sprache.
Hat man nun gesehen, daß sich die Mengenlehre als Rahmentheorie für die
Mathematik eignet, wird man den Begriff der Menge selbst hinterfragen und Beweise, die ganz in der Sprache des Mengenbegriffs geführt sind, genauer betrachten. Neben logischen Schlüssen findet man hier insbesondere zahllose Existenzbehauptungen, etwa in der Form „eine Menge mit den und den Eigenschaften
O. Deiser, Einführung in die Mengenlehre, Springer-Lehrbuch,
DOI 10.1007/ 978-3-642-01445-1_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2002, 2004, 2010
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1. Abschnitt Einführung
existiert“ oder „aus einer oder mehr Mengen können neue Mengen gebildet werden“, zu M, N z. B. { M, N } und zu M etwa P(M). Man wird also fragen:
B. Welche mathematischen Objekte (= Mengen) existieren ?
Zur Beantwortung dieser Frage wird man Axiome ᑧ angeben, die Eigenschaften der Elementbeziehung wie das Extensionalitätsprinzip wiedergeben, und die
in sorgfältiger Auswahl die Existenz von bestimmten Mengen garantieren. Sorgfalt ist deswegen nötig, weil man schnell sieht, daß das naive Komprehensionsschema zu Widersprüchen führt; es ist leicht, zu viel Existenz zu fordern, und das
System dadurch zu ruinieren. Man wird sich bei der Aufstellung der Axiome sowohl an der Intuition über „Menge, Element“ orientieren als auch am mathematischen Bedarf. Ein Axiom von ᑧ wird z. B. lauten:
Potenzmengenaxiom
Zu jeder Menge M existiert die Potenzmenge von M, d. h.:
Für alle M gibt es ein N mit der Eigenschaft:
Für alle x gilt: x ∈ N gdw x ⊆ M.
ᑧ ist hier eine Bezeichnung für ein „externes“ Axiomensystem, das die Mengenwelt selber − für Platoniker − beschreibt bzw. − für Formalisten − regelt, nicht für ein Objekt innerhalb der Mengenwelt.
Weiter ist eine Präzisierung des Eigenschaftsbegriffs erforderlich: Welche
Ausdrücke Ᏹ in der Aussonderung { x ∈ M | x hat die Eigenschaft Ᏹ } sind erlaubt
oder möglich ? Die genaue Formulierung der Axiome und die Präzisierung des
Eigenschaftsbegriffs führen zur Prädikatenlogik erster Stufe. Das Axiom über
die Existenz der Potenzmenge schreibt sich darin so:
„∀M ∃ N ∀x (x ∈ N ↔ ∀y (y ∈ x → y ∈ M))“,
gelesen:
„Für alle M existiert ein N, sodaß für alle x gilt:
x ist in N genau dann, wenn für alle y gilt: y in x folgt y in M.“
Mit der Abkürzung a ⊆ b für ∀c (c ∈ a → c ∈ b) erhält man eine besser lesbare
Form des Potenzmengenaxioms, die obiger Formulierung entspricht:
∀M ∃ N ∀x (x ∈ N ↔ x ⊆ M).
Solche Abkürzungen entsprechen genau den Definitionen neuer Konzepte − in diesem
Fall dem der Teilmengenrelation. Einer kargen Grundsprache wird so Schritt für Schritt
ein umfassendes Lexikon an die Seite gestellt, mit dessen Wortschatz man über komplexe
Begriffe leicht reden kann, ohne dabei prinzipiell jemals mehr sagen zu können als ganz zu
Beginn. Im Gegensatz zur natürlichen Sprache ist dieses Lexikon aber nicht einfach alphabetisch geordnet, sondern es gilt die Verabredung, daß ein neuer Eintrag neben der
Verwendung der Grundsprache ausschließlich auf weiter vorne stehende Lexikon-Einträge zu verweisen hat.
Eigenschaften Ᏹ und mathematische Aussagen sind dann einfach bestimmte
∀, ∃ -Ausdrücke, sogenannte Formeln in der Sprache der Mengenlehre. Was eine Formel ist und was nicht, wird natürlich genau festgelegt.
2. Zwischenbetrachtung
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Mit Hilfe der Axiome kann man nun die Existenz vieler Mengen folgern und
mathematische Zusammenhänge zwischen Mengen beweisen. Dies führt zur
Frage:
C. Was genau ist ein mathematischer Beweis einer Aussage ?
Hier läßt sich ein Kalkül angeben, der aus Regeln besteht, wie bestimmte Zeichenketten unserer Kunstsprache in andere verwandelt werden dürfen. Das Ergebnis einer solchen schrittweisen Umformung liefert einen mathematischen
Satz, und die Reihe der Umformungen selber bildet einen formalen Beweis dieses
Satzes. Die Beweise, die üblicherweise in der Mathematik in einer reduzierten
Umgangssprache, dem mathematischen Deutsch oder Englisch etwa, gegeben
werden, lassen sich mit den strengen formalen Manipulationsregeln des Kalküls
nachbauen, wenn auch nur in sehr mühevoller Weise.
Was hat man damit erreicht ? Ein Axiomensystem und einen präzisen Beweisbegriff für die Mathematik. Jeder irgendwo auf der Welt geführte mathematische
Beweis gleich welcher Disziplin läßt sich auf der Basis der Axiome der Mengenlehre durchführen und zudem − zumindest theoretisch − formalisieren, d. h. er
kann innerhalb der Kunstsprache formuliert und mechanisch auf seine Richtigkeit überprüft werden. Angestrebt wird keinesfalls die Ersetzung der üblichen
semantischen (inhaltlichen) mathematischen Kultur durch eine syntaktische
(formale), sondern ihre Bereicherung durch das Wissen um eine prinzipielle
Übertragbarkeit dieser Kultur in einen formalen Rahmen. Nur dadurch werden
Fragen und Ergebnisse über die Mathematik, etwa: Was ist beweisbar ? möglich.
Die Analyse der Mathematik selbst und die dabei verwendeten Methoden und
erzielten Resultate bezeichnet man seit David Hilbert (1862 − 1943) als Metamathematik. Wir kommen im dritten Abschnitt darauf zurück.
Der formale Beweisbegriff ermöglicht es daneben auch, für die Beweisfindung, Beweisüberprüfung und Beweisanalyse Computer einzusetzen, die sich bei der syntaktischen
Manipulation von weltumspannend langen Zeichenketten wesentlich wohler fühlen als in
Gesellschaft mancher dreizeiliger Beweise aus einem Lehrbuch. Das ist alles noch in den
Kinderschuhen, auch wenn in den letzten Jahrzehnten zuweilen eine neue Schuhgröße
notwendig wurde. Die meisten Mathematiker bezweifeln, daß der Computereinsatz in
der Beweisführung je ein ähnliches Niveau erreichen wird wie beim Schachspiel. Es gibt
Resultate der mathematischen Logik, die die Grenzen der mechanischen Beweisführung
betreffen, und die den Traum von der unersetzbaren „biologischen“ Kreativität in der
Mathematik am Leben erhalten.
Hat man nun ein geeignetes Axiomensystem zusammengestellt, so erhebt sich
bald die Frage nach seiner Leistungsfähigkeit:
(L1) Ist das Axiomensystem widerspruchsfrei ?
(L2) Ist das Axiomensystem vollständig ?
Die Bejahung von (L1) bedeutet einfach: Die Aussage 0 = 1 (oder ∃ x x ≠ x) läßt
sich nicht formal aus den Axiomen ableiten.
Die Bejahung von (L2) bedeutet: Für jede Aussage ϕ existiert ein Beweis von
ϕ oder ein Beweis der Negation von ϕ, in Zeichen ¬ ϕ, gelesen: non ϕ, d. h. jede
Aussage läßt sich beweisen oder widerlegen.
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1. Abschnitt Einführung
Zu diesen beiden Fragen hat Kurt Gödel (1906 − 1978), auf den Schultern von
David Hilbert und Bertrand Russell (1872 − 1970), die den Sprachraum für diese
Probleme zur Verfügung stellten, in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts
fundamentale Resultate erzielt − die Gödelschen Unvollständigkeitssätze. Sie
beantworten die Frage (L1) mit: „Wir können es nicht sicher wissen: die Widerspruchsfreiheit der axiomatischen Mengenlehre ist unbeweisbar.“ Und die Frage
(L2) beantworten sie schlichtweg mit „Nein !“: Ist das zugrunde gelegte Axiomensystem der Mengenlehre widerspruchsfrei, so gibt es stets Aussagen, die weder beweisbar noch widerlegbar sind. (Ist das Axiomensystem widerspruchsvoll,
verliert die Frage (L2) ihren Sinn, da dann jede Aussage beweisbar ist.) Wir werden auf die Gödelschen Sätze noch mehrfach zurückkommen. Beweise und Erläuterungen findet der Leser in den Lehrbüchern zur mathematischen Logik.
Eine weitere klassische Frage an ein Axiomensystem ist:
(L3) Ist das Axiomensystem unabhängig ?
Die Bejahung von (L3) bedeutet: Ist ϕ ein Axiom des Systems, so läßt sich ϕ nicht aus
den übrigen Axiomen des Systems beweisen. Ein Axiomensystem ist also unabhängig,
wenn jedes Mitglied des Systems die Stärke des Systems erhöht. Obwohl dieser Frage wesentlich weniger Bedeutung zukommt als den beiden anderen, so führt doch die Klärung
der inneren Abhängigkeiten zu einem besseren Gesamtverständnis des Systems.
Eine weitere Frage an ein Axiomensystem wäre die nach besonders einfachen gleichwertigen Systemen, etwa solchen, die nur endlich viele Axiome enthalten. (Zwei
Axiomensysteme sind hierbei gleichwertig, wenn sich jedes Axiom des einen Systems im
anderen System beweisen läßt und umgekehrt.) Das heute zumeist verwendete Axiomensystem von Zermelo-Fraenkel ZFC für die Mengenlehre hat unendlich viele Mitglieder,
und man kann zeigen, daß es kein endliches gleichwertiges System gibt (vgl. hierzu jedoch
auch Abschnitt 3, Kapitel 3).
Schließlich sei zur Frage (L1) noch bemerkt, daß man hier doch nicht völlig im dunklen
Wald stehen bleiben muß. Es ist gelungen, von bestimmten Axiomen ϕ der Mengenlehre
ihre relative Widerspruchsfreiheit nachzuweisen, d. h.: Ist die Axiomatik widerspruchsvoll, so ist bereits die Axiomatik ohne ϕ widerspruchsvoll. Das Axiom ϕ erhält dadurch in
gewisser Weise einen Persilschein seiner Widerspruchsfreiheit. Insbesondere ist für das
sehr kritisch beäugte Zermelosche Auswahlaxiom ein Nachweis der relativen Widerspruchsfreiheit möglich (Gödel 1938, vgl. hierzu auch die Erläuterungen innerhalb der
Zeittafel zur Mengenlehre).
Der zweite Weg
Warum aber soll man überhaupt mit einer kritischen Analyse beginnen ? Die
Relation „a ∈ b“ erscheint zunächst klar, ungefährlich und erweist sich, zusammen mit dem Begriff einer Funktion, als fruchtbar und interessant. Und selbst
die klare Erkenntnis der inneren Widersprüche allzu uferloser Zusammenfassungen von Objekten zu Mengen hat Mathematiker wie Cantor und Hausdorff
in keiner Weise davon abgehalten, die Mengenlehre nach metaphysisch-ästhetischen Kriterien zu errichten und nach ästhetischen Kriterien weiterzuentwikkeln. Hierfür sind vielfach nur gut überschaubare und relativ kleine Zusammenfassungen nötig, und bereits im Umfeld der reellen Zahlen ergeben sich ebenso
2. Zwischenbetrachtung
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schwierige wie fesselnde Fragen, die auf zuweilen störende Rückenprobleme wie
ein Betäubungsmittel wirken können, und neben denen Risse im Fundament als
tolerierbare Bauungenauigkeiten erscheinen. Dem Mengenbegriff ist darüber
hinaus auch nicht so ohne weiteres anzusehen, daß sich auf ihm eine Universalsprache für die Mathematik gründen läßt. Zunächst liegt also eine „Sturm und
Drang“-Periode nahe, in der die Begriffe auf ihren Gehalt und ihren inneren
Reichtum untersucht werden. Auch wir werden uns bis zum dritten Abschnitt
weiter an diese faustische Mengenlehre halten, in Übereinstimmung mit der
historischen Entwicklung.
Der Anfang ist immer das Schwerste bei einer Sache, und Cantor hatte zusätzlich mit Verboten zu kämpfen, mit denen Ende des 19. Jahrhunderts das aktual
Unendliche, die „fertige“ unendliche Menge belegt war. Heute − die unendliche
Menge der natürlichen Zahlen ⺞ ist jedem Schüler ein Begriff geworden − ist der
Anfang der Theorie der unendlichen Mengen aber leicht zu bestreiten, und nicht
begründbare Dogmen sind zerbrochen. Ein Stück weit werden wir diesen Weg
nun gehen, und uns hierbei auf die Intuition verlassen. Die faszinierenden Phänomene der Größenunterschiede im Unendlichen können so vielleicht am deutlichsten hervortreten. Zur Natürlichkeit der naiven Untersuchung der Begriffe
gesellt sich heute zudem die klärende Wirkung historischer Distanz.
Langfristig ist aber die Durchführung der kritischen Analyse unvermeidbar.
Die heutige Mengenlehre hat nach dieser − insgesamt mehrere Jahrzehnte dauernden − Durchführung alle wesentlichen Ergebnisse und Konzepte der nichtkritischen „klassischen“ Phase retten können, ihren Gehalt herausgearbeitet,
und sie auf ein solides Fundament gestellt. Der Leser muß also nicht fürchten,
nachher alles wieder vergessen oder neu lernen zu müssen, sondern darf sich vielmehr darauf freuen, vom Parkett in die Logen umzuziehen: Da das Theater eine
Unzahl interessanter Stücke zu bieten hat, lohnt sich der bessere Blick. Die Stimmung dort unten sollte man aber einmal erlebt haben.
Aus Abraham Fraenkels Einleitung zu „Mengenlehre und Logik“
„ . . . vielmehr sollen diejenigen Grundgedanken der abstrakten Mengenlehre möglichst
einfach entwickelt werden, die in enger Beziehung zu logischen Problemen und Methoden
stehen, und eben diese Beziehungen grundsätzlich herausgearbeitet werden. Es trifft sich
glücklich für die Bedürfnisse des mathematisch oder logistisch nicht vorgebildeten
Lesers, daß das genannte Ziel in weitem Ausmaß ohne nennenswerte mathematische
Technik und ohne symbolisch-logische Einkleidung erreichbar ist. “
(Abraham Fraenkel 1959)
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