Molekulare und klinische Ophthalmogenetik Zusammenfassung

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M E D I Z I N
Birgit Lorenz
Markus Preising
Ulf Kretschmann
Zusammenfassung
Erbliche Augenerkrankungen sind in den Industriestaaten in bis zu 55 Prozent ursächlich für
schwere angeborene Sehstörungen. Genetische Faktoren sind auch bei so häufigen
Augenerkrankungen wie der Katarakt, dem
Glaukom und der altersbezogenen Makuladegeneration involviert. Die Aufdeckung der genetischen Faktoren als Grundvoraussetzung
für Prävention und kausale Therapie ist daher
von großer medizinischer und volkswirtschaftlicher Bedeutung. Dargestellt werden anhand
von Beispielen derzeitige Fakten und Probleme der klinischen und molekularen Ophthalmogenetik wie allelische und nichtallelische
Heterogenität, variable Expressivität, Altersabhängigkeit des Phänotyps bei progredienten Erkrankungen, klinischer versus molekulargenetischer Konduktorinnennachweis bei
D
a das Auge ein extrem komplexes
Organ ist, das aus Ektoderm und
Mesoderm aufgebaut ist, kann davon ausgegangen werden, dass ein hoher
Prozentsatz der Gene auch im Auge exprimiert ist. So ist es nicht überraschend,
dass es eine Vielzahl genetischer Augenerkrankungen gibt und dass viele syndromale oder systemische Erkrankungen eine Augenbeteiligung aufweisen.
Das familiäre Vorkommen der Farbenblindheit (eigentlich nur Farbsehschwäche, Rot-Grün-Farbsehschwäche),
die circa acht Prozent der männlichen
und ein Prozent der weiblichen Bevölkerung betrifft, ist bereits seit 1777 (Huddart) beziehungsweise 1778 (Lort) (36)
bekannt. Dalton hat 1798 die erste wissenschaftliche Abhandlung über die in
seiner Familie vorkommende Farbenblindheit geschrieben. Da er seine Augen post mortem für weitere Forschungen zur Verfügung gestellt hat, konnte
kürzlich der genaue Charakter seiner
Farbsinnstörung (Deuteranopie) auf
molekularer Ebene entschlüsselt werden
(13). Der älteste überlieferte Stammbaum ist der der Familie Nougaret mit
einer autosomal dominanten Nachtblindheit (Stammvater Jean Nougaret,
geboren 1637 in Montpellier). Als genetische Ursache wurde 1996 eine hetero-
Molekulare und klinische
Ophthalmogenetik
X-chromosomalen Erkrankungen, Möglichkeiten und Grenzen der klinischen Phänotypisierung und von Genotyp-Phänotyp-Korrelationen. Der Wert von Longitudinalstudien an einem größeren Kollektiv von genetisch charakterisierten Patienten wird betont.
Schlüsselwörter: Ophthalmologie, Klinische Genetik, Molekulare Genetik, Genotyp-PhänotypKorrelation
Summary
Molecular and Clinical Characterization of
Hereditary Eye Diseases
Hereditary eye diseases are the underlying
cause of severe visual impairment in childhood
in up to 55 per cent in industrial countries.
Genetic factors are also involved in highly
prevalent adult eye diseases such as cataract,
glaucoma and age related macular degeneration. Identification of the genetic factors as one
prerequisite for prevention and therapy based
on etiology is of great medical and socioeconomical significance. Actual facts and problems
of clinical and molecular ophthalmogenetics
are exemplified, in particular allelic and nonallelic heterogeneity, variable expressivity, age
dependence of the phenotype in progressive
diseases, clinical versus molecular genetic carrier
identification in X-linked diseases, possibilities
and limitations of phenotyping and genotype-phenotype correlations. The importance
of longitudinal studies in a larger set of genetically defined patients is underlined.
Key words: ophthalmology, clinical genetics,
molecular genetics, genotype-phenotype correlation
Textkasten 1
Textkasten 2
Determinanten des Phänotyps
Bedeutung der KonduktorinnenDiagnostik in der Ophthalmologie
❃ Genotyp
– monogene Erkrankung
– poly- (di-) gene Erkrankung
– Mutationsart
– X-chromosomale Geninaktivierung
❃ Modifizierende Gene
❃ Exogene Faktoren
❃ Zell- und Gewebeeigenschaften
zygote Mutation im Transducin, einem
Protein der Phototransduktionskaskade
identifiziert (Grafik) (5).
Erbliche Augenerkrankungen liegen
in den Industriestaaten in 16 Prozent bis
55 Prozent schwerer angeborener Sehstörungen vor (20). Genetische Faktoren
sind auch bei so häufigen Augenerkrankungen wie der Katarakt, dem Glaukom
und der altersbezogenen Makuladegeneration involviert, die in der westlichen
Welt die häufigste Ursache für eine
schwere Sehbehinderung bei über 65Jährigen ist. Die Aufdeckung der genetiAbteilung für Kinderophthalmologie, Strabismologie und
Ophthalmogenetik in der Klinik und Poliklinik für Augenheilkunde (Leiterin: Prof. Dr. med. Birgit Lorenz), Klinikum der Universität Regensburg
Deutsches Ärzteblatt½ Jg. 98½ Heft 51–52½ 24. Dezember 2001
❃ Sicherung des Erbgangs bei sporadischen
männlichen Patienten und allelischer Heterogenität zum Beispiel Retinitis pigmentosa, Albinismus, ➝ Genetische Beratung
❃ Identifizierung von Konduktorinnen in Familien
mit bekanntem X-chromosomalem Erbgang,
➝ Genetische Beratung
❃ Kopplungsuntersuchungen bei X-chromosomalen Erkrankungen Identifikation von X-chromosomalen Genen
❃ Untersuchung der Pathogenese
schen Faktoren als Grundvoraussetzung
für eine Prävention und kausale Therapie ist daher von großer medizinischer
und volkswirtschaftlicher Bedeutung.
Genetische Defekte teilweise
entschlüsselt
Noch ist trotz der kürzlich abgeschlossenen Sequenzierung des gesamten humanen Genoms nur ein Teil der genetischen Defekte selbst monogener Erkrankungen tatsächlich entschlüsselt.
Ganz am Anfang steht die Erforschung
poly- beziehungsweise digener Erkran-
A 3445
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kungen. Das erste auf molekularer
Ebene nachgewiesene Beispiel war die
digene Vererbung einer Form der familiären Retinopathia pigmentosa. Nur
wenn gleichzeitig eine heterozygote
Mutation im Peripherin-Gen und im
ROM1-Gen vorliegen, manifestiert
sich die Erkrankung (14). Da die beiden Genprodukte zusammen Heterodimere im Bereich der Disks der
Außensegmente der Photorezeptoren
bilden, ist die digene Vererbung erklärbar (10).
Variable Expressivität und
reduzierte Penetranz
Selbst für Erkrankungen mit bekannten
genetischen Defekten sind die Faktoren der inter- und intrafamiliär beobachteten variablen Expressivität und
reduzierten Penetranz meist noch nicht
geklärt. Dies sind aber wesentliche
Aspekte bei der Einschätzung des
tatsächlichen individuellen Erkrankungsrisikos. Faktoren, die den Phänotyp bestimmen, sind in Textkasten 1 zusammengefasst. Modifizierende Gene
können das klinische Bild beeinflussen.
Das Expressions- und Transkriptionsmuster von Genen ist räumlich und
zeitlich variabel. Dazu kommen exogene Faktoren sowie Zell- und Gewebeeigenschaften. Dies gilt in besonderem
Maß für progrediente Erkrankungen.
Ein augenfälliges Beispiel ist der sekundäre Untergang von Zapfen bei Mutationen im Rhodopsin-Gen (und damit
die zunehmende konzentrische Gesichtsfeldeinschränkung bis hin zur
schicksalhaften Erblindung), obwohl
die initiale Pathologie auf die Stäbchen
beschränkt ist. Dies würde lediglich zur
Nachtblindheit führen.
Beispiele für Erkrankungen mit
variabler Expressivität
Die Lebersche hereditäre Optikusatrophie (Leber Hereditary Optic Neuropathy, LHON) war die erste humane
Erkrankung, für die der Nachweis erbracht wurde, dass der genetische Defekt in der mitochondrialen DNA
(mtDNA) liegt (37). Da die mtDNA
praktisch ausschließlich über die mütterliche Linie vererbt wird – die Sper-
A 3446
´
Tabelle 1
C
´
Konduktorinnendiagnostik bei X-chromosomalen retinalen Erkrankungen:
Wahrscheinlichkeit für eine klinische beziehungsweise molekulargenetische
Identifizierung.
Erkrankung
Gen
Chromosomale
Klinische
Lokalisation
Identifizierung
Molekulargenetische
Identifizierung
(in Prozent)
(in Prozent)
Okulärer Albinismus
(OA1)
OA1
Xp22.2–22.3
90
33, 90*2
X-chromosomale
Retinoschisis
RS1
Xp.22.2
Einzelfälle
100
X-chromosomale
Retinitis pigmentosa RP3
RPGR
Xp.21.1
70–90*1
60
X-chromosomale Retinitis
pigmentosa RP2
RP2
Xp11.3–11.22 70–90*1
18, 5*2
Norrie Syndrom
X-chromosomale familiäre
Vitreoretinopathie
NDP
Xp11.4
Einzelfälle
> 95
Inkomplette kongenitale
stationäre Nachtblindheit
CSNB2
CACNA1F Xp11.23
+/–
85
Chorioideremie
REP1
Xq21.2
> 95
33–65*2
Blauzapfenmonochromasie
GCP, RCP
Xq28
+/–
100
*1 Diese Angaben gelten für RPGR und RP2 zusammen.
*2 Je nach Autor werden unterschiedliche Prozentsätze angegeben.
mien verlieren ihre Mitochondrien bei
der Fusion mit der Oozyte – ist der bei
LHON beobachtete Erbgang verständlich. Die Erkrankung wird maternal vererbt im Gegensatz zur X-chromosomalen Vererbung, die lange Zeit
fälschlich für die LHON diskutiert
wurde. Alle Kinder weiblicher Mutationsträger sind Mutationsträger, das
Erkrankungsrisiko in Europa (und
USA) beträgt für Männer aber (nur)
50 bis 60 Prozent und für Frauen (nur)
10 bis 20 Prozent (29). In Australien
beträgt das Erkrankungsrisiko für
Männer sogar nur circa 20 Prozent und
für Frauen circa 4 Prozent (das heißt
das geschlechtsspezifische Verhältnis
ist das gleiche wie in Europa und den
USA, das relative Risiko ist dagegen
deutlich geringer) (26). Bisher konnten weder Ursachen für die Geschlechtsspezifität noch für die geographische Abhängigkeit noch überhaupt
für das Erkrankungsrisiko an sich gefunden werden. Selbst bisher oft postulierte exogene Faktoren als Auslö-
ser (Alkohol, Tabak) erscheinen aufgrund kürzlich publizierter Daten unwahrscheinlich (16).
Bei der Aniridie ist die Expressivität
stark variabel. Die Expressivität kann
so gering sein, dass dies in der Vergangenheit sogar zur Fehlklassifikation
„nicht betroffen“ geführt hat mit der
Konsequenz, dass aufgrund von Kopplungsuntersuchungen zunächst fälschlich 2 Gen-Loci auf unterschiedlichen
Chromosomen postuliert wurden (12).
Bei geringer Ausprägung, insbesondere fehlender Makulahypoplasie, besteht keine funktionelle Störung. Demgegenüber kann auch eine schwere
Vorderabschnittserkrankung mit praktischer Blindheit von Geburt an auftreten (Peterssche Anomalie) (11).
Bei der juvenilen Makuladystrophie
Best können Mutationsträger völlig
beschwerdefrei sein, lediglich die Ableitung des Elektrookulogramms gibt
einen Hinweis auf die okkulte Pathologie (3, 22). Andere Mutationsträger
(auch innerhalb der gleichen Familie)
Deutsches Ärzteblatt½ Jg. 98½ Heft 51–52½ 24. Dezember 2001
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Genotyp-PhänotypKorrelation
Grafik
Eine (gewisse) Genotyp-PhänotypKorrelation als Erklärung für den unterschiedlichen Phänotyp wurde bei
einer Reihe monogener Erkrankungen gefunden, die mit Mutationen im
gleichen Gen einhergehen (allelische
Heterogenität).
Allelische Heterogenität
Sehkaskade und Regeneration der Sehpigmente. Korrelation mit derzeit bekannten Erkrankungen.
Weitere Informationen: www.retina-international.org/sci-news/viscas.htm. Rot markiert sind die Gene, deren Mutationen mit retinalen Erkrankungen einhergehen. Eine Auflistung der Erkrankungen
findet sich in Tabelle 2.
sind so schwer betroffen, dass eine
schwere Sehbehinderung bereits in der
ersten Lebensdekade vorliegt. Die
Makulaveränderung kann verschiedene morphologische Stadien durchlaufen, aber auch über Jahrzehnte konstant bleiben.
Die X-chromosomale Retinoschisis
kann (selten) bereits bei Geburt so
ausgeprägt sein, dass damit eine
schwere Sehbehinderung verbunden
ist (8). Typisch ist die Manifestation in
der ersten Lebensdekade. In circa 15
Prozent kommt es innerhalb der ersten
20 Lebensjahre zu einer Verschlechterung, bei weiteren knapp 20 Prozent
im Lauf des weiteren Lebens (8). Manche Patienten sind so schwach betroffen, dass die Veränderung fälschlich
(bei Fehlen eines eindeutig Erkrankten in der Familie) als unspezifische
milde Makulaveränderung oder als
milde altersbezogene Makuladegeneration eingestuft wird.
Deutsches Ärzteblatt½ Jg. 98½ Heft 51–52½ 24. Dezember 2001
Das Retinoblastom ist ein maligner
Netzhauttumor des Kindesalters. Bei
dieser seltenen Augenerkrankung (Inzidenz circa 1:15 000 Geburten) konnte erstmals die Rolle von Tumorsuppressorgenen bei der Tumorentstehung gezeigt werden. Diese Ätiologie
liegt vielen familiären Tumorerkrankungen zugrunde (zum Beispiel familiäre adenomatöse Polyposis, familiäres Mamma-Ca, MEN-Syndrom, Neurofibromatose 1 und 2). Das normale
Genprodukt hat zellregulatorische
Funktionen. Der Verlust eines Allels
beziehungsweise die heterozygote
Mutation hat noch keine funktionellen Konsequenzen. Erst wenn es zur
Mutation im zweiten Allel kommt
(compound heterozygote Mutation)
oder zum Verlust des zweiten Allels
(„loss of heterozygosity“, LOH), kommt
es zur Tumorerkrankung. Bei familiären Formen wird die Veränderung
im ersten Allel über die Keimbahn im
Sinne eines autosomal dominanten
Erbganges weitergegeben. Dabei sind
Nullmutationen mit einer hohen Penetranz und mit einer höheren durchschnittlichen Tumorzahl korreliert als
Missense-Mutationen, die mit einer
reduzierten Penetranz und einer niedrigeren durchschnittlichen Tumorzahl
korreliert sind (19). Heterozygote
Mutationen im Rhodopsin-Gen sind
in aller Regel mit einer autosomal
dominanten Retinopathia pigmentosa (ADRP) korreliert. Derzeit sind
mehr als hundert unterschiedliche
Mutationen im Rhodopsin Gen bekannt (www.retina-international.org/
scinews/rhomut.htm). Klasse I-Mutationen führen zu einer diffusen Form
der RP (zunächst globaler Funktionsverlust in den Stäbchen gefolgt von einem zentripetalen Verlust der Zapfen-
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M E D I Z I N
Textkasten 3
Textkasten 4
Bedeutung der Phänotypisierung
erblicher Erkrankungen
Phänotypisierung erblicher
Netzhauterkrankungen
Klassisch
Quantifizierung und Analyse der Funktion
❃ Beschreibung der Pathologie und der funktionellen Auswirkungen
Psychophysik:
❃ Differenzialdiagnostische Abgrenzung verschiedener Erkrankungen
❃ Sehvermögen
❃ Grundlage für Therapiestudien
❃ Perimetrie
– dynamisch
– statisch (helladaptiert, dunkeladaptiert)
Molekulargenetische und postgenomische Ära
❃ Farbensehen
❃ Detektion von Patienten mit mikroskopisch erkennbaren chromosomalen Deletionen
❃ Dunkeladaptation
❃ Rekrutierung von Familien für Kopplungsuntersuchungen
❃ Analyse von Kandidatengenen in charakterisierten Patienten und Familien (Gene mit bekannter Funktion [z. B. Biochemie des Sehens],
gewebespezifische Gene [z. B. retinal exprimierte Gene])
❃ Genotyp-Phänotyp-Korrelation
❃ Grundlage für moderne Therapiestudien (kausal: Gentherapie, unspezifisch: z. B. Wachstumsfaktoren)
❃ Spektrale Empfindlichkeit
Elektrophysiologie:
❃ Ganzfeld-Elektroretinographie (ERG)
❃ Multifokales ERG (mfERG)
❃ Muster-ERG
❃ Elektrookulographie (EOG)
❃ Visuell evozierte Potenziale (VEP)
❃ Spezialmethoden: Bright Flash ERG, Double
Flash ERG, lange Stimuli
Dokumentation der Morphologie
❃ Spaltlampenbiomikroskopie, Ophthalmoskopie
❃ Fluoreszenzangiographie
funktion). Klasse II-Mutationen führen
zu einer regionalen Form der RP (zeitgleicher regionaler Funktionsverlust
von Stäbchen und Zapfen [2]). Derzeit
ist eine Mutation im Rhodopsin-Gen
bekannt, die lediglich mit einer autosomal dominanten (stationären) Form
der kongenitalen Nachtblindheit verbunden ist (32). Die ausschließliche
Funktionsstörung ohne nachfolgende
Degeneration der Stäbchen und Zapfen erklärt sich dadurch, dass das mutierte Protein lediglich zu einer Verschiebung in der spektralen Empfindlichkeit führt, die Stäbchenphysiologie
sonst aber nicht beeinflusst.
Homozygote beziehungsweise compound heterozygote Mutationen in
dem ABCR-Gen, einem ABC-Transporter, führen zu unterschiedlichen
Netzhauterkrankungen. Nach einem
derzeit akzeptierten Konzept führen
Missense-Mutationen in beiden Allelen oder die Kombination einer Missense-Mutation mit einer Nullmutation im zweiten Allel zur autosomal rezessiven juvenilen Makuladystrophie
Stargardt, Nullmutationen an beiden
Allelen dagegen zu einer schweren autosomal rezessiven Zapfen-Stäbchendystrophie mit Funktionsverlust der
gesamten Netzhaut im Endstadium.
A 3448
❃ Autofluoreszenz
❃ Fundusreflektometrie
❃ Optical-Coherence-Tomographie (OCT)
❃ Neuroradiologie, Ultraschall
Für bestimmte heterozygote Missense
Mutationen wird diskutiert, dass sie
zur altersbezogenen Makuladegeneration (AMD) prädisponieren (35), der
Zusammenhang ist allerdings nicht
allgemein akzeptiert (33).
Homozygote beziehungsweise compound heterozygote Mutationen im
Tyrosinase-Gen gehen mit verschiedenen Formen des autosomal rezessiven
okulokutanen Albinismus (OCA1)
einher (9). Mutationen im P-Gen sind
ebenfalls mit einem autosomal rezessiven okulokutanen Albinismus
(OCA2) assoziiert (18). Früher wurden diese beiden Typen als Tyrosinase-negative Form (OCA1) beziehungsweise Tyrosinase-positive Form
(OCA2) klassifiziert. Die Molekulargenetik hat uns gelehrt, dass auch Mutationen im Tyrosinase-Gen mit erhaltener Tyrosinase-Aktivität einhergehen können, weshalb der Begriff Tyrosinase-bezogene Form geprägt wurde
(17). Daher ist der früher praktizierte
Haarinkubationstest nicht geeignet,
sicher zwischen den unterschiedlichen
Genotypen zu unterscheiden. Interessant ist, dass auch im Tyrosinase-Gen
Mutationen vorkommen, die so mild
sind, dass sie nur zur okulären Manifestation führen und dass zumindest eine Mutation bekannt ist, die zu einer
thermolabilen Form des Enzyms
führt. Aufgrund der fehlenden enzymatischen Aktivität bei Körpertemperatur sind die Haare am Stamm im Gegensatz zum kühleren Kopf nicht pigmentiert. Solche Mutationen kommen
auch im Tierreich vor, beispielsweise
bei Siamkatzen (17).
Das autosomal rezessive UsherSyndrom ist eine heterogene Gruppe
von Erkrankungen, bei der unterschiedliche Schweregrade einer angeborenen Hörstörung kombiniert mit
einer sich später manifestierenden RP
vorliegen. Kürzlich wurde das Gen für
eine Form – das Usher-Syndrom Id –
in einer großen kubanischen Familie
identifiziert (7). Interessanter Weise
trägt ein Zweig der Familie eine Kombination von Mutationen, die ausschließlich mit Taubheit verbunden
ist. Auch Mutationen im Myosin VIIa
können einerseits zum Usher-Syndrom Ib und andererseits zur nichtsyndromalen Taubheit führen (38). Diese
Beispiele zeigen, dass es sinnvoll sein
kann, Gene, deren Mutationen zu isolierten Erkrankungen führen, auch bei
syndromalen Erkrankungen zu untersuchen und umgekehrt.
Nichtallelische Heterogenität
Auch für Erkrankungen, für die man
früher nur eine genetische Ursache angenommen hat, sind inzwischen Mutationen in unterschiedlichen Genen
identifiziert worden. Ein Beispiel für
die extreme Heterogenität ist die autosomal dominante RP (derzeit acht Gene
isoliert und neun weitere lokalisiert). Daneben kommen aber auch X-chromosomale Formen (derzeit zwei identifizierte Gene) und autosomal rezessive Formen (derzeit zwölf identifizierte Gene)
vor (www.retina-international.org/scinews/). Fast die Hälfte aller RP-Patienten haben eine so genannte SimplexForm, sind also Einzelfälle ohne (derzeitige) Zuordnung zu einem bestimmten Vererbungsmodus.
Deutsches Ärzteblatt½ Jg. 98½ Heft 51–52½ 24. Dezember 2001
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a
b
c
d
e
Abbildung 1: Komplexe Phänotypisierung bei Patienten mit M. Stargardt und bekanntem Genotyp. a) Fundusfotografie, b) Autofluoreszenz, c)
dunkeladaptierte 2-Farben-Perimetrie, d) helladaptierte 2-Farben-Perimetrie, e) multifokales Elektroretinogramm (ERG). Die Autofluoreszenz des im Bereich
der Netzhaut und des retinalen Pigmentepithels beim Morbus Stargardt vermehrt anfallenden Lipofuszins wurde mit einem Heidelberg-Retina-Angiographen
gemessen. Mit dem multifokalen ERG kann die elektrische Antwort der Zapfensehbahn ortsaufgelöst gemessen werden. Sie ist beim Morbus Stargardt im
Bereich der Makula reduziert. Mit der dunkeladaptierten und helladaptierten 2-Farben-Perimetrie können die Stäbchen- und Zapfensehbahn ortsaufgelöst
geprüft werden (Graustufenskalierung: weiß entspricht normaler Helligkeitsunterschiedsempfindlichkeit). In Abhängigkeit vom Genotyp und der Erkrankungsdauer zeigen sich in den verschiedenen Testverfahren unterschiedlich starke Veränderungen. Eine solche differenzierte Phänotypisierung ist für Longitudinalstudien und zur Dokumentation des Effekts von Therapiestudien geeignet.
a
Neue Formen allelischer
Heterogenität
Neu ist der Nachweis von Mutationen
in einem Allel oder beiden Allelen
des gleichen Gens, die zu unterschiedlichen oder ähnlichen Erkrankungen
führen, aber immer mit unterschiedlichem Erbgang.
Heterozygote Mutationen in der bUntereinheit der Phosphodiesterase
(PDE6B) führen zu einer autosomal
dominanten kongenitalen stationären
Nachtblindheit mit relativ geringer
funktioneller Beeinträchtigung (30).
Mutationen in beiden Allelen führen
dagegen zu einer autosomal rezessiven
RP (ARRP) ([27], www.retina-international.org/sci-news/pdemut.htm), das
heißt einer Erkrankung mit fortschreitender konzentrischer GesichtsDeutsches Ärzteblatt½ Jg. 98½ Heft 51–52½ 24. Dezember 2001
b
Abbildung 2: a) Klassische Fundusfotografie und b) Optical-Coherence-Tomographie (OCT) der
Makula von drei Patienten mit Xchromosomaler
Retinoschisis
und bekanntem Genotyp (21).
Der Fundusbefund ist relativ uncharakteristisch, das OCT zeigt
das variable Ausmaß der Schisis
im Bereich der Makula. Da eine
große intrafamiliäre Variabilität
besteht, findet sich keine klare
Genotyp-Phänotyp-Korrelation.
A 3449
M E D I Z I N
feldeinengung bis hin zur Erblindung.
Die Lebersche kongenitale Amaurose
(LCA) ist eine angeborene Form einer
Netzhautdegeneration mit faktischer
Erblindung praktisch von Geburt an.
Derzeit sind sechs Gene bekannt (4, 6,
23, 25, 31, 34), deren Mutationen für
circa 30 Prozent der Fälle verantwortlich sind.
Das erste identifizierte Gen war
die retinale Guanylatzyklase (RetGC1,[31]). Mutationen in beiden Allelen führen zur autosomal rezessiven
LCA1. Heterozygote Mutationen führen dagegen zu einer autosomal dominanten Zapfen-Stäbchen-Dystrophie
(15), einer Erkrankung mit zunehmender Herabsetzung der zentralen Sehschärfe in der ersten Lebensdekade
und späterem weiteren Funktionsverfall bis hin zur Erblindung in der vierten Dekade.
Klinische oder genetische
Klassifizierung?
Während viele Erkrankungen eine
zumindest nicht in diesem Umfang
erwartete allelische Heterogenität
zeigen (zum Beispiel allelische Heterogenität von Retinopathia pigmentosa gleichen Erbganges), wurden
überraschender Weise bei fünf Hornhautdystrophien, die klinisch eindeutig zu unterscheiden waren, Mutationen in einem einzigen Gen gefunden (28).
X-chromosomale
Geninaktivierung
Grundlage des klinischen Konduktorinnenbefundes ist die X-chromosomale Geninaktivierung (zufällig oder
nicht zufällig), ihre Bedeutung ist im
Textkasten 2 zusammengefasst. Um
die Zahl der Genprodukte nicht geschlechtsdeterminierender X-chromosomaler Gene in beiden Geschlechtern konstant zu halten, wird ein XChromosom in allen weiblichen somatischen Zellen weitgehend inaktiviert.
Trägt bei Frauen ein X-Chromosom
ein defektes Gen, so hängt der Phänotyp davon ab, ob überwiegend die XChromosomen mit dem defekten oder
mit dem normalen Gen inaktiviert
A 3450
´
Tabelle 2
C
´
Retinale Erkrankungen aufgrund von Mutationen in identifizierten Genen der Sehkaskade und der Regeneration der Sehpigmente.
Gen
Erkrankung
Chromosomale
Lokalisation
ABCR
Fundus flavimaculatus mit Makuladystrophie (a.r.)
Morbus Stargardt (a.r.)
Retinitis pigmentosa (a.r.)
Zapfen-Stäbchen-Dystrophie (a.r.)
FFM
STGD1
RP19
CRD
1p21–13
BCP
Tritanopie (a.d.)
CNGA1
Retinitis pigmentosa (a.r.)
ARRP
4p12–cen
CNGA3
Achromatopsie (a.r.)
ACHM2
2p11–q12
CNGB3
Achromatopsie (a.r.)
ACHM3
8q21.1–22.1
GCP, RCP
Protanopie
Deuteranopie
Blauzapfenmonochromasie
GNAT1
kong. stationäre Nachtblindheit Typ Nougaret (a.d.)
CSNB
3p22
LRAT
Lebersche kongenitale Amaurose (a.r.)
LCA
4q31.2
PDE6A
Retinitis pigmentosa (a.r.)
ARRP
5q31.2–34
PDE6B
kong. stationäre Nachtblindheit Typ 3 (a.d.)
Retinitis pigmentosa (a.r.)
CSNB3
ARRP
4p16.3
RBP4
Fundus Xerophthalmicus (a.r.)
RDH5
Retinitis albipunctatus (a.r.)
FAP
12q13–14
RGR
Retinitis pigmentosa (a.d.)
Retinitis pigmentosa (a.r.)
ADRP
ARRP
10q23
RHO
kong. stationäre Nachtblindheit, Rhodopsin Typ (a.d.)
Retinitis punctata albescens (a.d.)
Retinitis pigmentosa (a.d.)
Retinitis pigmentosa (a.r.)
CSNB
RPA
RP4
ARRP
3q21–24
RLBP1
Retinitis pigmentosa (a.r.)
Retinitis punctata albescens (a.r.)
ARRP
RPA
15q26
RPE65
Retinitis pigmentosa (a.r.)
Lebersche kongenitale Amaurose/
Early Onset Rod-Cone Dystrophy (a.r.)
ARRP
LCA2
1q31
7q31.3–32
Xq28
10q24
a.r., autosomal rezessiv; a.d., autosomal dominant
worden sind. Bei zufälliger Verteilung
der Inaktivierung ist ein 50 : 50-Verhältnis am wahrscheinlichsten. Klinisch können Konduktorinnen unauffällig sein oder variable Veränderungen bis hin zum Vollbild der Erkrankung aufweisen.
Nicht alle X-chromosomal vererbten Erkrankungen gehen mit einem
klinisch nachweisbaren Konduktorinnenbefund einher. In der klinischen
Genetik ist dies besonders für die korrekte genetische Beratung wichtig, zumal eine Reihe X-chromosomal vererbter Augenerkrankungen mit einer
beträchtlichen Sehbehinderung bis
hin zur Erblindung einhergehen. Tabelle 1 zeigt eine Gegenüberstellung
der derzeitigen Wahrscheinlichkeiten,
Konduktorinnen für X-chromosomale
retinale Erkrankungen klinisch beziehungsweise molekulargenetisch zu
Deutsches Ärzteblatt½ Jg. 98½ Heft 51–52½ 24. Dezember 2001
M E D I Z I N
Textkasten 5
identifizieren.
Grenzen der Phänotypisierung
erblicher Netzhauterkrankungen
❃ Patientenseitig
– Compliance
– Fähigkeiten
❃ Methodisch bedingt
– Räumliche und funktionelle Auflösung
– Genauigkeit psychophysischer
Untersuchungen
❃ Kosten
6 Jahre
31 Jahre
Phänotypisierung
Die angeführten Beispiele belegen,
dass neben der Rekrutierung möglichst
vieler Familien die präzise Phänotypisierung ein wesentliches Element der
klinischen Genetik war und auch heute
nach der Sequenzierung des humanen
Genoms bleibt (Textkasten 3). Die Phänotypisierung, das heißt die ausführliche klinische Untersuchung und Beschreibung der pathologischen Veränderungen am Auge ist die zeitlich aufwendigste Tätigkeit des klinischen
Ophthalmogenetikers. Hierfür stehen
ihm hochdifferenzierte elektrophysiologische, sinnesphysiologische und
morphologische Methoden zur Verfügung, die aus Platzgründen nur tabellarisch angeführt werden können (Textkasten 4). Da sich Biopsien wegen des
irreparablen Funktionsausfalls meist
verbieten, hat die In-vivo-Phänotypisierung besondere Bedeutung. Abbildung 1 und 2 zeigen einige Beispiele.
Grenzen der Phänotypisierung sind in
Textkasten 5 aufgeführt. Bei progredienten Erkrankungen sind Longitudinalstudien unerlässlich. Querschnittsuntersuchungen sind wegen der interund intrafamilären Variabilität zwar
nur begrenzt aussagekräftig, zeigen
aber bereits die Problematik der Phänotypisierung (Abbildung 3).
Ausblick
71 Jahre
Abbildung 3: Querschnittsdarstellung des Phänotyps in einer Familie mit autosomal dominanter
Retinopathia pigmentosa (ADRP). ADRP aufgrund einer Leseraster erhaltenden Deletion von
3 Basenpaaren im Rhodopsin-Gen (I255/256del
[24]). Starke zeitliche Abhängigkeit des Phänotyps. Dies erschwert die Phänotypisierung ernorm und führt immer wieder dazu, dass durch
Wertung eines momentanen Erscheinungstyps
eine falsche Klassifikation durchgeführt wird. So
könnte der Befund bei der Sechsjährigen als Sine-pigmentu-Form beschrieben werden, was
aber in späteren Stadien nicht mehr zutrifft.
Am Beispiel der erblichen Netzhautdegenerationen wird besonders deutlich,
wie viel die klinische Genetik in der
Vergangenheit zur Aufdeckung der
Ätiologie und Pathophysiologie genetischer Erkrankungen im Speziellen und
zur Analyse der Zell- und Gewebephysiologie im Allgemeinen beigetragen
hat. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. So sind Veränderungen in
der Mehrzahl der Proteine in der Sehkaskade und der Regeneration der Sehpigmente mit definierten Erkrankungen korreliert worden (Grafik, Tabelle
2). Die Entdeckung neuer Proteine (mit
zum Teil nach wie vor unbekannter
Funktion) hat darüber hinaus zum Ver-
Deutsches Ärzteblatt½ Jg. 98½ Heft 51–52½ 24. Dezember 2001
ständnis von Physiologie und Pathophysiologie beigetragen. Die Isolierung
von Transkriptionsfaktoren und die
Analyse ihres räumlichen und zeitlichen Expressionsmusters geben wichtige Einblicke in die Entwicklung des
Auges.
Noch ist man weit entfernt von der
Entschlüsselung aller genetischer Faktoren. Da viele „Hauptgene“ schon
identifiziert sind und andererseits für
rezessive Erkrankungen oft nur kleine
Familien zur Verfügung stehen und
durchaus zu erwarten ist, dass hier die
Heterogenität besonders groß ist, spielt
die klinische Genetik sicher noch über
geraume Zeit eine wesentliche Rolle.
Andererseits bewegt sich die Forschung
zunehmend von einfacher Genomik zu
Proteomik, um die Vorgänge auf zellulärer Ebene weiter aufzuklären. Die
Erforschung gentherapeutischer Methoden ist ein weiteres wichtiges Element auf dem Weg zur Therapie genetischer Erkrankungen. Aufsehenerregend sind die kürzlich publizierten Ergebnisse einer erfolgreichen somatischen Gentherapie bei Hunden mit homozygoten Mutationen im RPE65Gen. Die vorher in der Dunkelheit blinden Hunde zeigten eine wesentliche
Funktionsverbesserung. Der therapeutische Effekt konnte durch elektrophysiologische Untersuchungen objektiviert werden (1). Beim Menschen
führen Mutationen im gleichen Gen zu
frühkindlicher schwerer Sehbehinderung mit nachfolgender Erblindung
(23). Ein wichtiges Forschungsanliegen
der klinischen Genetik ist daher die
möglichst präzise Phänotypisierung einer ausreichenden Zahl von Patienten
mit definierten Genotypen.
❚ Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 2001; 98: A 3445–3451 [Heft 51–52]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das über den Sonderdruck beim Verfasser
und über das Internet (www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.
Anschrift für die Verfasser:
Prof. Dr. med. Birgit Lorenz
Abteilung für Kinderophthalmologie, Strabismologie
und Ophthalmogenetik
Klinikum der Universität Regensburg
Franz-Josef-Strauss-Allee 11
93053 Regensburg
E-Mail: [email protected]
A 3451
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