THEORIE UND PRAXIS DES HISTORISCHEN DRAMAS

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SS 2012
VO NdL: Drama und Geschichte
Martin Neubauer
VO 1/13 - 6. MÄRZ 2012
THEORIE UND PRAXIS DES HISTORISCHEN DRAMAS
EINFÜHRUNG
1 Geschichtswissenschaft und historische Dichtung
1.1 Darstellung von Geschichte
Dem Nachdenken über Geschichte folgt ein Gestalten von Geschichte. Literatur und Geschichte stehen in einem
Dialog. Es ist immer die Rolle des Helden zu betrachten, es existiert ein Verhältnis von Drama und Revolution. Auch
das Verhältnis von Theorie und Praxis ist nicht auszublenden, wie sieht es in der Relation Geschichtswissenschaft
und historische Dichtung aus? Die Geschichtswissenschaft beschäftigt sich auch mit der Darstellung von
Geschichte, es soll etwas vermittelt werden, das vergangen ist. Es ist das Erzählen einer Geschichte.
Geschichtswissenschaft in Hinblick auf ihre Wurzeln in der Philologie bedeutet, mit Texten umgehen zu können,
Quellenkritik. Zu nennen sind Francesco Petrarca und Erasmus von Rotterdam. Literaturwissenschaft war lange Zeit
Literaturgeschichte.
1.2 Zugänge zur Geschichte
Der Unterschied zur Wissenschaft liegt in deren Legitimation. Leopold von Ranke hat als Aufgabe der Geschichte
die Frage nach dem Wie genannt. Es geht um die neue Methodik, die die alte erzählende Geschichte mit den neuen
wissenschaftlichen Grundlagen, mit einer zunehmenden Professionalisierung verbindet. Der Historiker hat demzufolge
die Aufgabe, aufzuzeigen, zu rekonstruieren, „wie es eigentlich gewesen“ ist. Ranke geht es um möglichst große
Objektivität bei der Wiedergabe der Geschichte. Er stellt die Forderung der Unparteilichkeit. Der Wissenschaftler
muss auf Theorien zurückgreifen, der Dichter nicht. Die Vermischung von Authentischem und Fiktivem war das
gängige Prinzip in der Antike.
Zur Darstellung der Wirklichkeit: Schriftliche Quellen werden zu Behauptungen über bereits Geschehenes, somit wird
die Darstellung der Wirklichkeit zu einer Utopie. Sprache ist für beides das relevante Medium! Hayden White
(Metahistory): zwischen dem Historiker und dem Dichter ist keine große Differenz (jegliche historische Darstellung
unterliegt der Poetik, Anm. PS). Der Dichter hat die Aufgabe, den Sinn und das Relevante aus dem Geschehenen
herauszufiltern. Es geht darum, dem Vergangenen einen Sinn zu geben.
Geschichte und in welcher Form sie geschildert wird: das Napoleon-Thema passt beispielsweise zum Schema des
Dramas (Tragik), eine Komödie aber nicht zur Schilderung des Holocaust.
2 Geschichte und Drama
2.1 Gestaltung von Geschehenem (Geschehen vs. Interpretation)
Geschichte kann nicht nur in Dramen gestaltet werden, auch in Novellen, Moritaten. Geschichte ist der Anfang der
europäischen Literatur. Das Mythische wird in einen Text verwandelt. Aischylos‘ Stück Die Perser protokolliert ein
Ereignis, das 8 Jahre zurückliegt. Es stellt sich die Frage, ob dies schon Geschichte ist. Historische Dichtungen
machen sich zur Aufgabe, das Was der Geschichte zu reproduzieren und auch die Frage nach dem Wie (Benno von
Wiese wird genannt). Literatur geht über das rein faktenmäßige der Geschichte hinaus, sie arbeitet mit Interpretation.
2.2 Zeitliche Dimension des Geschichtsdramas
Der Schriftsteller arbeitet z.T. auch wie ein Historiker. Das Geschichtsdrama schafft sich eine eigene Welt und zwar
so, wie sie der Dramatiker in seiner heutigen Welt sieht. Perspektiven in der Geschichtswissenschaft sind wechselnd,
man muss die Vergangenheit der Gegenwart irgendwie anpassen. Irakkrieg und der Film „300“ aus 2007: ein
Machwerk oder ein Meisterwerk? Es handelt sich um einen „großen, umstrittenen Heldengesang aus der Ära G. W.
Bush“. Kolbenheyer schreibt über Reformation und Investiturstreit, hat schlechte geschichtliche Belege. Viele Texte
werden von den Nationalsozialisten übernommen, wegen der Ideologie, die darin zu finden ist. Daran sieht man
wieder die zeitgenössische Perspektive, ein Beweis für die wechselnden Perspektiven. Blickwinkel und
Inszenierung sind dann für das Theater wichtig. „Brechung der Geschichte“ ist ein Schlagwort.
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erstellt von Patrizia Schlesinger
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2.3 Geschichtsdrama und historische Wirklichkeit
Tatsachen und Erdichtung, beides wird in Dramen präsentiert. Montage wird verwendet, es wird auf Vorproduziertes
zurückgegriffen. Auch die Geschichtswissenschaft greift auf Vorproduziertes zurück, es gibt aber eine genaue
Unterscheidung zwischen Fiktion und Realität. Für den Dichter hingegen ist es legitim, Fiktives aufzunehmen. Hegel
sagt, historische Dichtung muss immer etwas akzentuieren, etwas herausheben. Alles, was darüber hinausgeht, ist
Fälschung.
In der Theorie lautet die Frage: Wie wahr muss historische Dichtung sein? Aristoteles sagt, der eine erzählt, wie es
wirklich war, der andere, wie es hätte sein können. Die Geschichte leiht nur die Namen, der Dichter verfügt von
Anfang an über alles andere. Es geht um die „Lizenz“. So sieht es Lessing. Der Begriff Innere Wahrscheinlichkeit
meint das Besondere ins Allgemeine zu transponieren (auf die Frage, was einen historischen Sachverhalt
glaubwürdig macht, also eine Art induktiver Schluss, probabilistische Aussage, Anm. PS).
Lessing findet auch, die Absicht der Tragödie ist weit philosophischer als die Absicht der Geschichte. Er fordert,
sensibel mit den Charakteren umzugehen.
Goethe im Gespräch mit Eckermann sagt, wenn es um die Wirkung geht, kann man die Geschichte aufschreiben.
Goethes Egmont ist in seiner Dichtung ledig, ungebunden und mutig bei politischen Angelegenheiten. Der historische
Egmont hingegen war verheiratet.
Der „Fiktionsvertrag“ (unausgesprochene Übereinkunft zwischen Autor und Leser, während der Rezeption der
Darstellung zu glauben, nach der Lektüre die Suspendierung des Unglaubens wieder aufzugeben, nur
vorübergehende ästhetische Illusion, Anm. PS) handhabt, was der Dichter erfunden hat und was historisch ist. Dies
erfordert Quellenkritik.
3 Perspektiven auf das historische Drama
3.1 Held
Der Held ist die Hauptfigur in der dramatischen und epischen Erzählung. Was die Auswahl des Stoffes betrifft, so
musste gerade der Held in der barocken Tragödie der Oberschicht angehören (Ständeklausel muss eingehalten
werden). Damit hängt auch der Begriff der tragischen Fallhöhe zusammen: Nur, was oben steht, kann tief fallen.
Später weitet sich der Blick auf die armen Leute (Hauptmanns Weber).
Beim historischen Roman gab es schon viel früher den Blick von unten. Die Instanz des Erzählers fällt weg. Das
Schicksal und die Geschichte ist auch ein großer Aspekt: der historische Held und die Passivität. Es impliziert eine
gewisse Widersprüchlichkeit, beispielsweise muss Wilhelm Tell erst seine Familie bedroht sehen, bevor er handelt.
3.2 Dramatischer Konflikt
Geschichtsdramen sind Dramen der Macht, es geht um Rechte und Vorrechte, häufig sind Liebesgeschichten
eingebettet in soziale Konflikte. Es gibt 3 Strukturen: Krieg, Legitimität und Revolution.
Es herrscht eine Machtkonkurrenz zwischen Repräsentanten der gleichen Schicht (wie in Schillers Maria Stuart), dann
geht es um die Legitimität, die häufig verbunden ist mit einer Verschwörung, mit Intrige und Krieg (z.B. König Ottokars
Glück und Ende). Die Revolution steht bei Dantons Tod im Vordergrund und marginal bei Agnes Bernauer.
4 Intentionen des historischen Dramas
Wozu historische Dramen?
Es herrscht eine diachrone Vorgangsweise. Das Drama des 20. Jh. hat eine ganz andere Intention als das barocke
Drama. Es gibt 4 Funktionen des historischen Dramas:
1
Funktion der Veranschaulichung
2
Funktion der Deutung
3
Funktion der Erinnerung
4
Funktion der Unterhaltung
4.1 Funktion der Veranschaulichung
In der (a) Barockzeit galt die Ständeklausel. Die Kenntnis der Politik bedeutet eine Kenntnis dessen, wie intrigiere ich
am besten. Die Geschichte liefert Beispiele. Ein Drama will Werte und Tugenden veranschaulichen, z.B. die
Beständigkeit (constantia). In Andreas Gyphius‘ Papinian (1659) bleibt Papinian den Prinzipien treu. Verderbliche
Aspekte werden in Lohensteins Agripina thematisiert. Sie ist die Mutter des Kaisers Nero und entbrennt in einer solch
krankhaften Liebe zu ihm, dass Nero sie ermorden lässt.
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Während der (b) Aufklärung geht es um die Vernunft, Gottsched befasst sich mit Theorie und Praxis (Versuch einer
critischen Dichtkunst vor die Deutschen, 1730). Er meint, dass Geschichte moralische Lehrsätze vermitteln soll, er
spricht auch für eine „rationale Abfolge“ in seiner Dichtkunst. Künstlerische Inspiration hat hier keinen Platz, das
Komische braucht etwas mehr Inspiration. In Gottscheds Der sterbende Cato liefert die Vorrede programmatische
Absichten. Wie das Leiden des Menschen in der Barockzeit auf die Bühne gebracht werden soll, so ist es in Zeiten
der Aufklärung die Autonomie des Menschen.
4.2 Funktion der Deutung
Bei Shakespeare steht die Leidenschaft im Vordergrund, auch die Entwicklung von Zusammenhängen. Bei ihm beugt
sich die geschichtliche Genauigkeit den dramatischen Absichten. Im Blick auf die Geschichte lautet das Modell des
offenen Dramas anders, es ist die Wende zu einem neuen Typus des historischen Dramas.
4.3 Funktion der Erinnerung
Im 19. Jh. wird die Geschichte in Geschichtsmythen fortgeschrieben (z.B. König Ottokars Glück und Ende). Im 20. Jh.
geht es um das Erinnern an den Nationalsozialismus, an Vorurteile, es geht darum, an die Verbrechen zu erinnern, an
die Unmenschlichkeiten. Die Rolle des Papstes im Holocaust wurde lange tabuisiert, im Drama wieder aufgegriffen.
4.4 Funktion der Unterhaltung
Die Faszination für historische Romane ist eigentlich zur Trivialliteratur geworden. Gegenwärtig versucht sich das
Drama von Film und Fernsehen abzugrenzen. Der Film suggeriert Authentizität und genießt gegenwärtig großen
Einfluss. Auf der Bühne hingegen wird gegenwärtig wenig Wert auf Authentizität gelegt. Es gibt aber sehr oft
Verfälschungen der Geschichte im Film. Der Film orientiert sich sehr stark an den Bedürfnissen des Publikums und ist
eine sehr teure Produktion.
Geschichte verfälscht auch, aber Literatur und Film geben diese Lüge wenigstens zu.
VO 2/13 - 13. MÄRZ 2012
GÖTZ VON BERLICHINGEN MIT DER EISERNEN HAND
JOHANN WOLFGANG GOETHE
1773
Das erste, große Geschichtsdrama in deutscher Sprache, das auch heute noch aufgeführt wird, ist Goethes Götz
von Berlichingen aus dem Jahr 1773.
1 Entstehung
1.1 Goethe und die Geschichte
Goethe hatte ein gebrochenes Verhältnis zur Geschichte. Er zweifelte an der Möglichkeit, aus der Geschichte zu
lernen und sie objektiv darzustellen (seine Interessen lagen eher in den Naturwissenschaft und in der Kunst).
Geschichte entziehe sich dem menschlichen Verständnis, meint er. Er lebt in einer Zeit, in der die napoleonischen
Kriege toben, dies ist der Grund für seine Anschauung. Niemand kann aus der Geschichte lernen, meint er. Sie wäre
nur eine „Ansammlung von Torheiten und Schlechtigkeiten“. Er interessierte sich viel mehr für seine eigene
Geschichte, seine Biografie. Weltgeschichtliche Fragen interessieren ihn nicht, aber seine große Autobiografie. Bei
Schiller ist es genau umgekehrt (da gilt die Geschichte als Magazin für Schillers Texte).
Goethe hinterließ 2 große Geschichtsdramen: Götz (1773) und Egmont (1788). Diesen beiden gemeinsam ist der
freiheitssuchende Held, der sich gegen bestehende Systeme auflehnt und am Ende dafür im Gefängnis landet.
Goethe stimmt allerdings nicht in die Tyrannenstimmung ein, er nimmt den historischen Stoff her und versucht, ein
tragisches Moment daraus zu destillieren. Dieses besteht immer im Konflikt zwischen dem einzelnen Individuum
(der brave Mann) und der Umwelt (die Gesellschaft, die nicht versteht).
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1.2 Fassungen
Goethes Götz hat eine sehr lange und komplizierte Entstehungsgeschichte. Der Urgötz entstand nach ungefähr 6
Wochen Arbeit 1771, es war eine handschriftliche Version. Erst im Todesjahr Goethes wurde der Götz gedruckt.
Herder ist derjenige, der das Werk lesen darf. Er kritisiert, es wäre von Goethe verdorben. Der Urgötz ist ein textlich
autonomes Produkt, 1761 will Goethe ihn im Selbstverlag drucken (man riskiert Publikation auf eigene Kosten, um
Verlag zu umgehen). Dies gelang ihm gemeinsam mit seinem Freund Merck. Dichtung und Wahrheit ist seine
Autobiografie. Da gesteht Goethe, er wollte sich dadurch eine Niederlage, eine Abfuhr durch den Buchhändler
ersparen. Aber leider war der Vertrieb schlecht (Gefahr des Raubdrucks).
1774 wird Text aufgeführt in Berlin, man will das Authentische einfangen (die Kostüme sollen der Epoche
entsprechen, in der das Stück angesiedelt ist). 1803/04 befindet sich Goethe in seiner klassischen Phase, er
bearbeitet den Text für das Weimarer Theater (die Aufführung dauerte dann 6 Stunden). Goethe entschärfte in der
Bearbeitung den Sturm-und-Drang-Charakter, denn er ist Minister in Weimar. Das bekannte Götz-Zitat wird nur noch
in Punkten dargestellt. Es wird aber der radikale Bruch beibehalten: Das Drama bleibt in der offenen Form (Abschied
von 3 Einheiten).
2 Inhalt
Das Drama spielt am Anfang des 16. Jh. Zweck ist es, das Symbol einer bedeutenden Weltepoche abzuspiegeln. Für
Goethe ist Götz der ideale Repräsentant seiner Zeit.
Götz befindet sich im Streit mit dem Bischof von Bamberg. Auf den ersten Seiten schon erkennen wir eine
Sympathielenkung! Ein positiver Wertekanon wird hier anschaulich repräsentiert: Treue, etc. (alles, was im späten
18. Jh. wichtig ist). Götz hat Weislingen entführt, der im Dienste seines Feindes (Bamberg) steht, gleichzeitig aber ein
ehemaliger Jugendfreund ist, der die Fronten gewechselt hat. Er wird nicht als Gefangener, sondern als Gast von
Götz behandelt. Er gibt ihm sogar seine Schwester Maria zur Frau. Weislingen ist Götz aber nicht treu, er schlägt auf
die Seite des Bischofs von Bamberg zurück. Dort findet sich eine ganz andere Welt: sie ist unmoralisch. Die
maßgebliche Figur dort ist Adelheid von Waldorf (Engel in Weibsgestalt). De facto jedoch ist sie ein dämonisches
Machtweib, das die höfische Intrige repräsentiert und die Heuchelei. Goethe schreibt in Dichtung und Wahrheit, wie
sehr er hingerissen ist von ihr, er sei verliebt in sie (als einzige seiner Figuren). Weislingen vergisst Maria für seine
Lebensplanung, sieht sich als Gatte der Adelheid.
Er spielt sich den Widersachern Götzens in die Hände, Kaiser Maximilian verhängt die Reichsmacht über Götz,
dessen Burg belagert wird. Dachrinnen werden heruntergerissen und eingeschmolzen, um genug Munition zu haben.
Götz wird verschleppt, muss sich nach Jagsthausen zurückziehen, und ist eidlich verpflichtet, dass er auf der Burg
sitzen bleibt und Ruhe gibt. Er muss Urfehde schwören (Frieden). Aber er wird zum Anführer aufständischer Bauern,
soll Grausamkeit und Wut zügeln, um dem Reich etwas Gutes zu tun. So erwirkt Weislingen Götzens Todesurteil.
Am Schluss kommt es zum Tod der Hauptfiguren. Nur Götz wird ein schöner Tod zugestanden (zwar als Gefangener,
aber im Kreis der Familie). Adelheid will Konkubine Karl V werden, überredet Weislingens Knappen, seinen Herrn zu
vergiften. Gesellschaft beim Tod ist etwas Entscheidendes in jener Zeit. Götzens letzte Worte sind „Freiheit,
Freiheit“, wobei Freiheit von Fürsten gemeint ist. „Wehe dem Jahrhundert, das dich von sich stieß“, lauten die letzten
Worte von Maria (Schwester).
Das Geschichtsdrama versucht, Götz und seiner Person die Ehre und Würde zukommen zu lassen, die er in den
Augen seiner Zeitgenossen nicht gehabt hat.
Goethe hat kurz vorher Friederike Brion in Straßburg verlassen und ließ ihr das Werk schicken. Er hat sich seine
Treulosigkeit nicht ganz verziehen und im Werk die Untreue Weislingens vergiftet – dies sollte sie trösten. Adelheid
wird zum Tode verurteilt vom Femegericht (Geheimgericht, Privatgerichtsbarkeit, Anm. PS). Goethe verwendete
dieses Gericht, um Schauer einzustreuen, so etwas (auch Geheimgesellschaften) wollte das Publikum damals lesen.
Geschichtlich Verbürgtes wird mit Fantastischem garniert.
Kleists Käthchen von Heilbronn (Ritterdrama) ist eine Kopie des Femegerichts.
3 Historischer Hintergrund
Wir dürfen nicht nur fragen, was die Unterschiede zwischen historischer Vorlage und dem literarischen Werk sind,
sondern auch, warum.
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3.1 Der reale Götz und das frühe 16. Jh. als Umbruchszeit
Goethe verstellt Blick auf die historische Gestalt, er hat sie popularisiert. Götz entspricht dem Typus des Sturm-undDrang-Kraftkerls. Götz war ein schwäbischer Reichsritter und lebte ungefähr von 1481 bis 1561. Die Zeit ist der
Übergang vom Mittelalter zu Neuzeit, da wird sein Stand immer bedeutungsloser. Es ist eine brutale Zeit, wo das
Faustrecht gilt. Götzens Leben ist eine Kette von Auseinandersetzungen, in die er verwickelt ist.
Zunächst ist da der Landshuter Erbfolgekrieg (1504), in dem er die rechte Hand durch einen Kanonenschuss
verliert. Man hat eine Prothese mit einem raffinierten Mechanismus angefertigt, mit dem er sogar ein Schwert halten
konnte (das war wichtig für Ritter). Das Muster des Mechanismus hat man dann für Verwundete des 1. Weltkrieg
übernommen.
Die Fehde ist die legitime Form für die Durchsetzung von Recht, denn die staatliche Obrigkeit konnte diese nicht
immer durchsetzen. Das Fehdegesetz besagt, dass man in strittigen Angelegenheiten selbst eingreifen darf, es ist
eine Erlaubnis für körperliche Auseinandersetzungen. Im Mittelalter sucht sich jeder selbst das Recht. Das Faustrecht
war in deutschen Gefilden typisch für das MA und die Welt des Abenteuers. Vergleichbar ist es mit dem Wilden
Westen (Welt, wo jeder sein eigenes Recht selbst sucht). Götzens Leben kann gesehen werden als Serie von Fehden
(15 sind historisch überliefert). Auch Erpressung und Verschleppung zählen dazu.
Götz sitzt eine 3-jährge Haft in Heilbronn ab. Das Fehderecht geht zurück, der ewige Landfrieden ersetzt ihn. Der
goethesche Götz fällt in eine Wendezeit hinein. Das Drama schreibt über den Wandel in der Rechtsauffassung,
Goethe war Jurist!
Er schreibt dieses Drama zum Zweck einer geänderten Rechtsvorstellung! Das einsetzende römische Recht stärkt
die Fürsten (Befehl, Unterordnung). Im Berufsstand der Juristen gibt es Unmut und Widerstände bei der Ablösung der
alten Rechtsordnung und von Lehensständen.
Beim Götz geht es nicht nur um die individuelle Biografie sondern er thematisiert den Denkwandel in rechtlichen
Dingen.
Es ist also in diesem Sinne eine Zeit des Umbruchs, als dass die mittelalterliche Ritterwelt endgültig versinkt und mit
der Einführung des römischen Rechts emporsteigt. Götz bleibt den alten Ritteridealen treu.
Der 3. Konflikt ist der Bauernkrieg 1525, Götz übernimmt auf Drängen der Bauern eine Gruppe aufständischer
Bauern, will aber eigentlich nicht. Goethe übernimmt einen Satz aus Götzens Autobiografie („nie werde ich euer
Haupt“). Götz wirkt als dämpfende Gestalt, die die Bauern vor allzu großen Exzessen bewahren sollte. Die
Befehlsgewalt legt er nach 4 Wochen wieder nieder. Er wird verhaftet und muss Urfehde schwören.
Auch die Teilnahme an kaiserlichen Feldzügen gehört zu Götzens bewegtem Leben (der reale Götz wurde über 80!).
Die markanteste Abweichung in Goethes Darstellung: Er bringt seinen Götz Ende 40 um. Real ist der Ort
Jagsthausen, wo Götz friedlich starb.
3.2 Historische Quellen
Quelle für Goethe und andere Historiker war Götzens Autobiografie (Bild am Handout). Aber Götz hat nicht selbst
geschrieben, sondern seine Erinnerungen einem Pfarrer diktiert, der sie dann niedergeschrieben hat. Es zeichnet sich
aus durch eine volksnahe Sprache und es handelt sich um eine Verdrehung der historischen Wirklichkeit in der
Autobiografie von Götz, die 1781 gedruckt wurde. Goethe liest sie und ist fasziniert von dem Helden (Rokoko-Helden
waren damals zeitgenössisch, ganz anders).
Inwiefern ist das 16. Jh. eine Umbruchszeit? Worin findet dieser Fakt seinen Niederschlag? Götz ist eine Gestalt, die
sich gegen die neuanbrechende Zeit stemmt und die alte Ordnung zu verteidigen versucht. Das zeigt sich im
Anschluss an die revoltierenden Bauern. Er ist ein Opfer der Revolte, der Erhalt des alten Rechts wird gewollt. Es
geht auch um den Wechsel von Naturalwirtschaft zur Geldwirtschaft. Diese unterschiedlichen Prämissen des Wandels
hat Goethe erkannt, befand sie als fruchtbaren Boden für das Drama.
Der geschichtliche Umbruch wird in der dialektischen Figurenkonzeption widergespiegelt:
Götz vs. Weislingen
Sturm und Drang: Die Entzweiung des ursprünglich Einen. Es ist das Motiv der feindlichen Brüder. Es sind Brüder
im Geiste, das wird hervorgehoben (Zwillingsbruder seines Freundes). Castor und Pollux werden erwähnt, das
mythologische Brüderpaar. Götz und Weislingen entwickeln sich zu Antagonisten, mehr noch: Weislingen ist der
Negativabdruck von Götz (konsequente Kontrastfigur) in den Charaktereigenschaften. Götz ist aktiv und wird zu
Passivität verurteilt, Weislingen hat ein passives Naturell, ist leicht knetbar durch Adelheid, kann dann aber nicht
mehr. Götz sucht die Konfrontation mit der Macht, er möchte selbstständig sein (Freiheit, Freiheit sind seine letzten
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Worte), Weislingen sucht das Arrangement mit der Macht zur Anpassung. Der Naturmensch Götz steht gegenüber
der höfischen Intrigenwelt, dem charakterlich deformierten Weislingen.
Wichtig ist, dass Götz eine historische Gestalt ist, Goethe aber entwarf ihn als Idealfigur. Weislingen hingegen ist eine
Erfindung ohne historisches Vorbild, wirkt in seinem Schwanken aber viel realistischer!
Götz ist Repräsentant der mittelalterlichen Feudalgesellschaft, einer Welt von gestern. Weislingen gehört zu
dem Morgen, er vertritt den höfischen Absolutismus, dieser ist realer Hintergrund von Goethes Welt. Diese ist
konkretisiert in Weislingen, dem Bischof von Bamberg und Adelheid.
Der historische Umbruch manifestiert sich durch die unterschiedlichen Zugänge zur Welt (alte vs. neue Welt).
Götz geht nicht durch seinen Gegenspieler (Weislingen wäre zu schwach) unter, sondern durch die Verhältnisse der
Zeit (er kann mit Dynamik nicht mehr Schritt halten). Die alte Zeit gilt als gute Zeit. Auch ein anderes Pärchen
manifestiert den Umbruch, allerdings weniger stark betont:
Götz und sein Sohn Karl
Karl hat keine Ader für die väterliche Lebensauffassung. Er ist das Kind, in das man die Hoffnungen hineinsteckt, aber
das letztlich kein Hoffnungsträger ist, um das weiterzuführen, was die Eltern wollen (wie bei Buddenbrooks).
Götzens Sohn Karl zeigt, dass er nicht fähig ist, das weiterzuführen, was sein Vater gefestigt hat. Erstmals in der
deutschen Geschichte agiert ein Kind als Kind auf der Bühne. Die Entfremdung der Generationen wird gezeigt, eine
kleine Szene des Familiären bildet sich ab. Es zeigt eine verweichlichte Nachfolge. Karl reproduziert fremdes
Wissen, anstatt eigene Anschauungen zu generieren. Er weiß viel über Jagsthausen, aber nicht, dass es seinem
Vater gehört (trockenes Bücherwissen, das nicht aus dem Leben kommt, ist ein Gräuel für den Stürmer und Dränger).
Götz im Gegensatz zu Karl hat als Kind die Umgebung um die Burg auf eigene Faust erkundet.
Gekocht vs. roh
Gekochtes ist ein Symbol für Verzärtelung, ein gebratener Apfel liefert Karl den größeren Genuss – diese
Entfremdung ist im Urgötz besser ausformuliert. Elisabeth spricht über Kartoffel (Fehler: Kartoffelanbau gab es in
diesen Gebieten erst rund 100 Jahre später: Anachronismus Goethes) und Rüben, mit welchen sie erzogen wurde.
Karl könnte eher der Sohn von Weislingen als von Götz sein.
4 Geschichtsauffassung des späten 18. Jh., des Sturm und Drangs
Die geschichtsphilosophischen Grundlagen zeigen, dass die neuen Geschichtskonzepte dem Christentum und der
Aufklärung zuwiderlaufen. Es wird keine heilsgeschichtliche Erklärung gesucht, keine stetige Entwicklung vom
Dunklen zum Hellen, denn die Aufklärung wollte einen Pfeil ohne Umwege in den Fortschritt (bei Herder).
2 Texte von Herder spielen dabei eine Rolle:
a) „auch eine philosophie der geschichte der menschheit“
Teleologisch bedeutet, dass etwas eine Zielgerichtetheit impliziert. Herder sieht das anders: er glaubt an eine
organische Entwicklung, die Völker blühen auf, befinden sich in einem Werden, erleben die volle Blüte und vergehen
wieder. Die Epochen werden mit dem Lebensalter der Menschen verglichen bei Herder, jeder Zeitabschnitt hat seinen
eigenen Wert. Es gibt keine Hierarchie und kein Fortschrittsdenken (denn was man hinter sich lässt, wäre ja
schlechter). Der Wert einer Epoche liegt nicht in ihrem Resultat, sondern in ihrer Existenz.
Gottsched hat die Epochen an einem Maßstab gemessen. Dieser Hochmut, sagt Herder, sei unangebracht, denn es
gibt kein Idealvolk, keine ideale Epoche. Dies hat eine große Bedeutung für die deutsche Geistesgeschichte. Alles
Folkloristische, das Mittelalter und alles Alternative wird aufgewertet bei Herder.
b) 2. Text: Ideen zur Ph. zur Geschichte der Menschheit
Gedanken zur zuvor besprochenen Schrift werden hier weiterentwickelt, es geht um die unterschiedlichen
Erscheinungen, von den Faktoren, von welchen historische Erscheinungen abhängig sind. Der Volkscharakter wird
hervorgehoben.
Ein neues Geschichtsbild wird von Herder geformt: er markiert den Beginn der deutschen Geschichtsphilosophie und
versucht sich an einer Erklärung, was Geschichte ist (interdisziplinär). Andere Bereiche des Menschseins werden
angesprochen und Herder fordert auf zu subjektivem Hineinhorchen – oft unwissenschaftlich! Fühle dich in alles
hinein, sagt er. Dieses Vorgehen ist eher künstlerisch. Annäherung von Geschichte und Kunst wird gefordert bei
Herder!
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Geschichte als Chronik
Neuer Geschichtsbegriff: der damit verbundene Reinhard Koselleck wollte herausfinden, welchen Wert Geschichte im
Laufe der Zeit hatte. Bis 1780 gilt die Geschichte als Bericht von Geschehenem (Chronik, Annalen), danach wird
Historie (Querverbindungen) hervorgehoben. Das Chronikdrama ist die ästhetische Realisierung historischer
Begebenheiten. Es kommt zu einer Gegenüberstellung von altem vs. neuem Geschichtsbegriff. Der
Paradigmenwechsel parallel geht einher mit der Umorientierung, wie Geschichte im Drama gezeigt wird. Als Chronik
hier präsentiert die Geschichte, die eigentliche Bedeutung des Götz. Es ist das erste deutsche Geschichtsdrama, das
immer noch gespielt wird.
Im Götz sehen wir vorgeprägt, was dann bei Schiller und Grillparzer kommt.
Das alles kommt von Shakespeare (Königsdramen), er ist Vorbild für den chronikalen Stil. Das Wandeln auf 3
Einheiten (frz. Regelpoetik: Handlung, Zeit und Ort ist nicht immer möglich bei Geschichtsdrama!) Shakespeare hat
eine größere Zeit zusammengefasst.
Historisches Panorama
Im Gegensatz zum Barockzeitalter ist Götz ein historisches Panorama: umfassend soll es sein und total. Totalitär
meint total hinsichtlich des Ortes, der Zeit, der Handlung und der Personen.
a) Totalität des Orts: Die Handlung spielt zwischen Mainz und Regensburg (300km Luftlinie). Es geht von
Jagsthausen nach Bamberg und zurück, der Zuschauer überwindet eine Strecke von 100 km. Dem Einortdrama kehrt
Goethe den Rücken zu. Es soll möglichst viele Schauplätze geben, weil sich die Geschichte an vielen Orten abspielt.
Protagonist und Antagonisten befinden sich in anderen Lagern und springen hin und her.
b) Totalität der Zeit: es gibt keine Einheit! Die historische Chronologie ist vergleichsweise diffus. Das Stück muss
nach 1504 einsetzen (nach dem Krieg, wo Götz den Arm verliert, denn Götz betritt die Bühne schon mit eiserner
Hand). Ad quem (wann hört es auf) hat ein Indiz für größere Zeit, gemessen an Götzens Sohn. Kaiser Maximilian tritt
im 3. Akt auf, stirbt in echt aber schon 1519. Wir haben hier eine umgestürzte Chronologie, die historischen
Ereignisse würfelt Goethe großzügig durcheinander. Bei der Figur Franz von Sickingen drehen sich die Ereignisse
auch in umgekehrter Reigenfolge um.
Das Genie Goethe springt mit Geschichte um, wie er will. Es gibt keinen chronologisch roten Faden, eher erinnert es
an ein Mosaik. So ergibt sich ein Mosaik aus Schlüsselbegriffen, das sich zusammenstellt ohne Chronologie und
historischen Assoziationsfeldern. Die Person Bruder Martin: Es liegt nahe, Ähnlichkeiten zu Martin Luther zu
erkennen, aber nicht 100%. Letztlich bleibt seine wahre Identität in der Schwebe, nur die Möglichkeit an die
historischen Anspielung bleibt und lässt eine Leerstelle.
c) Handlung: Die Handlung ist gekennzeichnet durch verzweigte Stränge: Spannung, Überangebot an Aktion. Die
Haupthandlung betrifft das Schicksal Götzens, sowohl öffentlich als auch privat (öffentlich: Bischof von Bamberg,
privat: Weislingen). Es gibt auch nebengeordnete Handlungsstränge: Adelheid (berechnende Karrieristin), die aber nie
mit Götz gemeinsam auf der Bühne zu sehen ist.
Das Drama beginnt mit „Erzähl das noch einmal von Berlichingen“. Dies ist ein Auftrag an den Dramentext selbst,
Historisches festzuhalten.
d) Personen: Das Verzeichnis ist lang, es gibt ein breites soziales Spektrum, das alle Stände übergreift. Es ordnet
aber: Der Kaiser steht ganz oben (oben in der Hierarchie des Verzeichnisses, obwohl nur wenig Text). Historische
Authentizität der Milieus wird ebenfalls geboten. Das Drama wirkt glaubwürdig dadurch.
Wir haben hier ein Abkommen von der frz. Regelpoetik! Die ausladende Darstellung, wie es der chronikale Stil
erfordert, ist nicht tragbar. Die ästhetische Neuorientierung zur lockeren Bilderfolge ist ideal für ein Drama, aber die
Aufführung ist unmöglich (zu viele Leute, zu viele Schauplätze), daher ist der Götz als Lesedrama konzipiert. Bei
Wieland wird er als „Ungeheuer“ benannt, ähnlich bei Humboldt.
Wir finden eine filmische Darstellungsweise, noch lange vor der Filmerfindung.
Es handelt sich um ein offenes Drama ohne die Einhaltung der 3 Einheiten.
5 Stellung des Dramas in der Literaturgeschichte
Goethe etabliert sich als führende Kraft, 1774 Werther – machte Goethe zum Star in der Weltliteratur. In der
deutschen Literatur hat er das Genre des Ritterdramas und des Ritterromans begründet! Das Ritterdrama enthält
unabkömmlich das Femegericht. Goethe will eigentlich die Rezeption seines eigenen Dramas, eine Kette von
Imitationen folgt. Es finden sich 38 Titel von Ritterdramen, die davon inspiriert sind, die Hälfte orientiert sich auch am
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Titel (z.B.: Käthchen von Heilbronn). International setzt die Wirkung verspätet ein, aber der historische Roman wird
dann in Schottland geboren (von Sir Walter Scott). Er war so begeistert, dass er 1799 den Götz (trotz mangelnder
Deutschkenntnisse) ins Englische übersetzt.
Er nahm Goethes Drama als Inspiration für sein Schaffen, in Schottland erfand man das Genre des Ritterromans als
Abkömmling von Goethes dramatischer Dichtung.
Goethe war nur distanziert, kein Geschichte-Muffel (Italienreise: Interesse am Geologischen), bei Schiller ist es
umgekehrt.
VO 3/13 - 20. MÄRZ 2012
DON KARLOS, INFANT VON SPANIEN
FRIEDRICH SCHILLER
1787
1 Entstehung
1.1 Schiller und die Geschichte
Friedrich Schiller nimmt Geschichtliches als Grundlage, vernachlässigt aber Lebensweltliches (keine Biografie oder
Tagebücher – die wichtigsten Quellen über ihn sind Briefe). Schiller meint, Geschichte hat menschenbildenden
Faktor, nicht nur Fakten: „Ich würde ein ganz anderer Kerl sein, hätte ich 10 Jahre nur Geschichte studiert.“
Von ihm ist auch eine Niederschrift theoretischer Texte erhalten, Texte über die Geschichte, er wollte
Themenbezirke so vernetzen, dass sie gleichermaßen Wissenschaftliches und Poetisches umfassen. Eine historische
Abhandlung verfasste er über den Abfall der Niederlande (Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande von
der spanischen Regierung/1788). Die zweite historische Abhandlung ist von 1790 über 30-jährigen Krieg (Geschichte
des dreißigjährigen Krieges). Beispiele für seine historischen Dramen: Don Karlos und Wallenstein (1799).
Bei Wallenstein gehen wissenschaftliche Geschichtsstudien dem Theaterwerk voraus, bei Don Karlos ist es
umgekehrt. 1789 ist Schiller Professor der Philosophie in Jena. Schiller ist uns als Dichter historischer Theaterstücke
vertraut. In einem Brief an Goethe schreibt Schiller über das historische Drama: Die Geschichte selbst wird zum
Protagonisten. Schiller gilt kurioserweise als deutscher Nationaldichter, obwohl keines seiner Geschichtsdramen auf
deutschem Boden spielt (sondern in Spanien, England, Frankreich, Wilhelm Tell in der Schweiz).
Problem der historischen Genauigkeit: Schiller hat als falscher Geschichtsprofessor gearbeitet. Um seine
historische Genauigkeit ist es nicht so gut bestellt, sie muss sich der Aussage des Künstlers unterordnen. Geschichte
ist überhaupt nur ein Magazin für meine Fantasie, sagt Schiller. Gegenstände werden unter seinen Händen geknetet
und formbar. Die historische Korrektheit fällt dahinter zurück. Beispiel an Maria Stuart: Königinnen treffen sich, in
Wirklichkeit haben sie sich nie gesehen. Im Wilhelm Tell werden historische Gegebenheiten verschmolzen mit
sagenhaften Elementen.
Schiller hat an mehreren Werken gleichzeitig gearbeitet, in seinen Plänen befinden sich nicht vollendete Stücke: die
Malteser, Agrippina, Warbeck (Episode aus englischer Geschichte), Demetrius (nur die Exposition existiert, man
datiert es auf die Woche vor seinem Tod).
1.2 Fassungen
Werkprozess
Die Textgenese ist wie bei Götz komplex, 1782 hat Schiller den Stoff kennengelernt, Interesse dafür entwickelt bis ins
Todesjahr 1805, wo seine Fassung erscheint. "Die Geschichte des Spaniers Carlos verdient allerdings den Pinsel
eines Dramatikers", schreibt Friedrich Schiller in einem Brief 1782 (und teilte seinem Freund und späteren Schwager
Reinwald 1783 mit, dass er "nunmehr entschlossen und fest auf einen Carlos zuarbeite", Anm. PS).
Der Bauerbacher Plan ist die Skizze zum Drama (die ersten Arbeiten am Karlos lagen in der Zeit des Aufenthaltes
Schillers in Bauerbach und werden demnach als "Bauerbacher Entwurf" bezeichnet, Anm. PS), darin ist dokumentiert,
dass es sich um kein politisches, sondern um ein Familiendrama handelt. 1787 erscheint für die Bühne das Stück mit
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einem anderen Ende, dann folgt eine Jambenfassung. Kein anderes Drama hat Schiller so oft überarbeitet wie Don
Karlos.
Konsequenzen
Was kann man aus dieser Serie von Überarbeitungen herausdestillieren?
1. Straffungsprozess: das Werk wird immer kürzer. Schiller ist vertraglich an kein Theater gebunden, es ist also ein
Lesedrama! Wieland bezeichnet das Stück als dramatischen Roman. Die Endfassung von 1805 ist im Vergleich zu
1787 viel kürzer. Als Einzeldrama ist es am längsten von Schiller. Schiller leidet am Zwang, sich zu übertreffen, er
schreibt ständig an das an, was er zuvor geschrieben hat, ist ständig unzufrieden. Er arbeitet nach dem Vorsatz: das
beste Stück soll entstehen. Danach trifft ihn eine Abscheu, es ekelt ihn an. Als es fertig ist, will er es besser machen.
2. Einheitlichkeit? Der Plan lautet: Familiendrama. 1784 nennt er es „Familiengemälde aus fürstlichem Hause“. Das
Wort Gemälde verweist auf Tableau-Charakter (Tendenz zur abgeschlossenen Szene, Begriff aus dem Film, Anm.
PS). Das Stück wächst auf dem Boden des bürgerlichen Trauerspiels (Konflikte und Werte), die Figuren (spanischer
Hochadel Ende 16. Jh.) jedoch nicht. Der Text gerät im Zuge seiner Entstehung immer mehr auf die Seite des
Politischen. Koopmann (1979) widerspricht dem, er meint, das Familiäre bleibe durchgehend der Motor des Stücks.
Eine Trennung wird aufgrund der Übersicht im Unterricht angewandt. Die 3 Ebenen Familien-, Politik- und
Freundschaftsdrama sind zopfförmig verflochten.
3. Drama zwischen den Epochen (wegen der langen Entstehungszeit). Die Grundschicht besteht aus spätem Sturm
und Drang, die Endredaktion 1805 stammt aus Schillers klassischer Zeit. Der frühe Schiller zeichnet sich durch
häufigen Szenenwechsel und Vater-Sohn-Konflikt aus, die Werke zeigen einen stürmerisch-drängerischen Komplex
vom Aufdrängen der Freiheit, aber: gebunden durch den Vers!
2 Inhalt
Im Vergleich zu Götz sind es Gegenmodelle zur höfisch-absoluten Gesellschaftsordnung, Goethe blickt auf die
zurückliegende alte Ordnung bei Götz, bei Don Karlos richtet Schiller den Blick in die Utopie, die vorne liegt! Beide
(Götz und Don Karlos) sind Verlierer, die Größe der Protagonisten liegt in ihrem Scheitern. Götz hat breite Palette
durch die Stände, bei Schiller konzentriert es sich auf Aristokratie. Bei Schiller gibt es ein homogeneres soziales
Umfeld.
In der Exposition wird die Frage nach dem Wo behandelt und das Kernproblem dargestellt, auch die Akteure, der
politische und familiäre Aspekt werden verhandelt. Der politische Aspekt betrifft den spanischen Hof (Ende des 16. Jh.
ist er die größte katholische Macht Europas) und das wirtschaftlich bedeutsame Flandern, dort herrscht Aufruhr.
Philipp II spricht ein Pauschaltodesurteil gegen die Niederländer aus, es folgt der Freiheitskrieg (80-jähriger Krieg,
längster Unabhängigkeitskrieg überhaupt). Der familiäre Aspekt betrifft Elisabeth von Valois (frz. Prinzessin), sie war
Karlos, dem Sohn von Philipp zugedacht, Vater Philipp hat sie jedoch aus politischem Berechnen selbst geheiratet
(Auslöser für den Vater-Sohn-Konflikt).
Marquis Posa ist Don Karlos‘ Freund, er versucht ihn zu therapieren, ihn aus der Depression herauszuholen. Er soll
sich der Lage der Niederländer annehmen. Aus der Dreiecksgeschichte wird etwas Politisches. Auch im Egmont
erscheint die düstere Figur des Alba. Menschenliebe steht über der individuellen Hingabe. Zu Beginn herrscht noch
Optimismus (Marquis: Dein Bruder! Carlos: Jetzt zum König. Ich fürchte nichts mehr - Arm in Arm mit dir, So fordr' ich
mein Jahrhundert in die Schranken“).
Don Karlos wird zurückgewiesen, der König hegt ein Misstrauen gegenüber seinem Sohn (zukünftiger Rebell?).
Prinzessin Eboli (Mätressenfigur) zeigt Zuneigung zu Philipp, ist aber verliebt in Karlos. Er erhält eine Einladung zum
Stelldichein, Briefe sind bei Schiller wichtig als Handlungskatalysatoren! Sie bringen die Handlung in Schwung. Karlos
glaubt, der Brief wäre von Elisabeth. Es kommt zur Intrige. Die fruchtlose Leidenschaft zum Infanten lässt Ebolis
negative Eigenschaften durchbrechen. Es geht dem Höhepunkt entgegen: Philipp brütet über der Korrespondenz
zwischen seinem Sohn und Elisabeth, Marquis Posa konfrontiert den König mit den Idealen von Gleichheit und Glück
(vorwärtsgewandte Utopie), mit der berühmten Aufforderung: „Geben Sie Gedankenfreiheit“. Dies hat im 3. Reich
dazu geführt, dass man zu Don Karlos eine Distanziertheit geführt hat. Der Nationalsozialismus sah in Schiller einen
Deutschen.
Posa ist neuer Vertrauter des Königs, es kommt zu einem Umschwung der Handlung: Elisabeth wird in die Pläne
(Revolte in Flandern) eingeweiht, er zeigt eine Zugeknöpftheit gegenüber Karlos und lässt ihn sicherheitshalber
verhaften. Elisabeth: Briefe durch Indiskretion – Erregung und Verachtung, wird von Eboli über die Wahrheit ins Bild
gesetzt. Philipp bekommt Brief Posas (vermeintlicher Verrat) – „Der König hat geweint.“
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Die Selbstbezichtigung soll von Karlos ablenken, bedeutet den Tod für Marquis Posa. Der Großinquisiteur stellt fest:
Nicht Philipp hat die Macht in diesem Land in Händen, sondern die Kirche. Der König ist bloß Marionette. Er besiegelt
den Tod des Thronfolgers. Am Ende steht die Vernichtung, die totale Auslöschung einer Familie.
3 Historische Wirklichkeit
Es werden beispielhaft 4 Aspekte behandelt: die Chronologie, der Don-Karlos-Charakter, der Vater-Sohn-Konflikt, und
Marquis Posa als zwielichtig irisierende Gestalt.
3.1 Chronologie
Die Chronologie ist nicht ernst zu nehmen, sie wird von Schiller frei behandelt. Der Untergang der Armada wird
erwähnt, Philipps Spanien gegen Elisabeths England, (tatsächlich in 1588). Da war Karlos schon tot, es soll Philipps
Versöhnlichkeit gezeigt werden, er vergibt dem gescheiterten Kommandanten, bereitet auf Audienzszene vor (positiv
gestimmter Philipp). Schiller zieht auseinanderliegende Ereignisse zusammen, um die Plausibilität zu erhöhen.
3.2 Don Karlos
Er war der einzige Sohn Philipps mit seiner portugiesischen Cousine Maria, (ein Habsburger-Inzest), angeblich röstete
er Hasen und biss einer Schildkröte den Kopf ab. Nach 1562 stürzt Karlos, erleidet eine Hirnblutung. Der Staranatom
seiner Zeit war Vesalius, er macht eine Trepanation. Karlos‘ Geisteszustand wird nicht besser, er wird zum
Sicherheitsrisiko und stirbt in Haft (zu viel Eiswasser getrunken). Das Gerücht verbreitet sich: der Vater hat seinen
Sohn umgebracht (manipulative Propaganda). Dieser pathologische Don Karlos wird von einem anderen gestaltet.
Der Schiller‘sche Karlos ist eine tragische Figur (er stirbt mit 23).
3.3 Vater-Sohn-Konflikt
Dieser zieht sich bei Schiller durch alle Dramen. Auch die Vaterfigur ist eine Konstante im Werk Schillers. Zum
historischen Vater-Sohn-Konflikt: der echte Karlos war gezeichnet von Vaterhass (pathologische Züge), misshandelte
das Lieblingspferd des Vaters, er hat eine schwarze Liste geführt mit dem Vater an erster Stelle. Dies wird verlagert
durch Schiller und anders gestaltet. Betont wird die Generationendifferenz durch das Alter: Schiller macht Philipp zu
einem alten Mann, zu einer greisenhaften Erscheinung. 18 Jahre war in Wirklichkeit die Altersdifferenz zwischen
Philipp und Karlos. Elisabeth war 15, als sie König dem Sohn weggeschnappt, um Frieden mit Frankreich zu
gewährleisten. Geschichtlich betrachtet war es dem Sohn egal.
3.4 Marquis Posa
In der Hauptquelle Schillers (Abbé de Saint Réal) taucht er gar nicht auf! Posa ist der Günstling des Prinzen. Bei
Schiller ist er ureigenste Schöpfung, ein Produkt der Fantasie. In Schillers langer Arbeit bekommt Posa immer
stärkere Konturen, mehr Charakter, mehr Individualität, mehr Bedeutung im Drama. Die Audienzszene ist der
Höhepunkt (3. Akt 10. Auftritt): da spielt die Titelfigur keine Rolle! Karlos bleibt der Peripethie
(Handlungsumschwung) fern. Es ist die längste Versszene eines Schiller-Dramas.
4 Schillers Konzeption des Marquis Posa
4.1 Schiller und die Illuminaten
Wie es aussieht, ist Marquis Posa keine Lichtgestalt. Die Illuminaten sind ein Geheimbund. Gegründet wurde er von
Adam Weishaupt, der Freimaurer war, 1776 in Ingolstadt. Der Bund war für Gelehrte und Künstler, deren Identität
durch Tarnnamen verschleiert wurde (Goethe: Abaris), 1785 wurde er verboten, die Zugehörigkeit in Bayern unter die
Todesstrafe gestellt. Das Ziel der Illuminaten war es, Menschen zu vervollkommnen (sie wollten durch Aufgeklärtheit
ein Herrschen der Menschen über die Menschen überflüssig machen, Anm. PS). Sie waren Perfektivisten, vertraten
das aufklärerische Gedankengut, emanzipatorische Bestrebungen gegen den Adel, gegen Despotismus und Kirche.
Der Bund arbeitete wie es heute Sekten tun, als Bildungsinstitution. Sie standen für die Realisierung aufklärerischer
Ideen, auch Unterwanderung. Wie bei Schiller geht es um Bespitzelung und andere Praktiken, die der Aufklärung
nicht unbedingt zugeordnet werden (Fragebogen mit Seelenstriptease, Denunzieren). Die Illuminaten wurden
Gegenstand wildester Verschwörungen (Weishaupt – Washington). Schiller hat Kontakt zu dem Orden gehabt, hat
sich gut informieren können. H.J. Schings hat Marquis Posas Verbindung zum Illuminatenorden erforscht. Die Haltung
der Illuminaten wird in Don Karlos in Gestalt des Marquis Posa eingeschleust.
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4.2 Marquis Posa als ambivalente Figur
Marquis Posa ist eine janusgesichtige Gestalt, ein wandelnder Anachronismus. Die Geschichte spielt im späten 16.
Jh., das aufklärerische Gedankengut (18. Jh.) ist der Zeit aber weit voraus, „das Jahrhundert ist meinem Ideal nicht
reif“, heißt es (3. Akt, 10. Auftritt: „Das Jahrhundert Ist meinem Ideal nicht reif. Ich lebe Ein Bürger derer, welche
kommen werden.“ Anm. PS) Seine hochfliegenden Pläne erleiden Schiffbruch, er vertritt ein zu fortschrittliches
Gedankengut, auch noch zu Schillers Zeit. Es wurde verboten, es war ein provokantes Stück. Marquis Posa ist eine
Idealgestalt, als lebensferne Kunstfigur („sonderbarer Schwärmer“ sagt Philipp auf die Aufforderung zur
Gedankenfreiheit). Er steht für Weltverbesserung. Schiller sagt selbst: er ist eine Figur der Umbruchsepoche.
Schopenhauer meint, es ist leicht, in schwarz/weiß einzuteilen (Engel und Teufel) im Stück Don Karlos. Marquis Posa
ist in dieser Trennung sehr fragwürdig. Als Engel hätte er dunkle Flecken auf der Weste (bei ihm heiligt Zweck die
Mittel). Moralische Integrität liegt ihm fern. Er zeichnet sich auch durch Unaufrichtigkeit aus: er spielt nicht immer mit
offenen Karten und nimmt aus politischen Gründen Kontakt mit Machthabenden auf. Dies verheimlichter Karlos (er
hält ihn für zu unreif). Es existiert eine subtextuelle Anspielung: läuft etwas zwischen Marquis Posa und Elisabeth?
Schließlich ist sie seine primär Vertraute. Er übt Gewaltanwendung gegen Eboli: Mord ist eine Handlungsoption, dann
entscheidet er sich aber für die Selbstopferung.
Ein Hochverräter ist er auch: er träumt von einem türkischen Angriff auf Spanien (erinnert an ParadeVerschwörerpersönlichkeit Wallenstein). Posa verheddert sich in seinen eigenen Fäden. Er ist bereit, über Leichen zu
gehen. Schiller distanziert sich von aufklärerischen Geheimbünden. Posa versucht, emanzipatorische Ideale mit
dubiosen Methoden zu verwirklichen. Er agiert mit Verweis auf einen höheren Zweck, die Moral wird unwichtig. Das ist
das gefährliche an Fanatikern (Legitimation zu allem).
4.3 Posa und die Tugend
In der frz. Aufklärung (Montesquieu, Staatstheoretiker) bringt man mit Monarchie Ehre in Verbindung. Ehre ist die
Triebfeder allen aristokratischen Handelns. Sie dient nur dazu, um außergewöhnliche Taten zu vollbringen. Zweitens
ist die demokratische Regierungsform mit der Tugend verbunden. Tugend war auch ein Schlüsselwort der frz.
Revolution. Sie findet statt, nachdem die erste Phase des Don Karlos abgeschlossen ist. Schiller wird als
Freiheitsdenker geschätzt. Das Ziel der frz. Republik nach Robespierre ist der Tugendstaat. Diese Dialektik, diese
Janusgesichtigkeit und der Schlüsselbegriff der Tugend in der Aufklärung findet man in der politischen Praxis.
Schiller hat in Maria Stuart auch das Problem der Tugend (sündige Titelheldin und Sympathieträgerin bei
Katholizismus). Die Tugend von Elisabeth wird instrumentalisiert, es kommt zum Königsmord. Es ist ein geheimes
Thema, obwohl die Revolution noch gar nicht stattgefunden hat.
Audienzszene (3. Akt, 10. Auftritt )
Marquis
Die unnatürliche Vergöttrung auf,
Die uns vernichtet! Werden Sie uns Muster
Des Ewigen und Wahren! Niemals - niemals
Besaß ein Sterblicher so viel, so göttlich
Es zu gebrauchen. Alle Könige
Europens huldigen dem spanischen Namen.
Gehn Sie Europens Königen voran.
Ein Federzug von dieser Hand, und neu
Erschaffen wird die Erde. Geben Sie
Gedankenfreiheit. - (Sich ihm zu Füßen werfend.)
König
(überrascht, das Gesicht weggewandt und dann wieder auf den Marquis geheftet)
Sonderbarer Schwärmer!
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VO 4/13 - 27. MÄRZ 2012
DIE HERMANNSSCHLACHT
HEINRICH VON KLEIST
1821
Die Hermannsschlacht ist unmittelbar in der Zeit verankert, in der sie geschrieben wurde. Es werden zeitgenössische
Probleme dargestellt, die die Leute zu der Zeit bewegt haben. Es ist kein typischer Schullektüren-Text.
1 Stoffgeschichte
1.1 Historische Grundlagen
Kaiser Augustus plant zu jener Zeit Reichsgrenzen an Elbe und Donau zu verlegen, eine militärische Intervention. Er
will eine Infrastruktur und militärische Kontrolle über die neue Provinz, wird Tiberius anvertraut. Arminius ist der Sohn
eines Fürsten, er stammt aus einer romfreundlichen Familie. Arminius wird als Geisel genommen, er wird AdoptivRömer. Er studiert die römischen Sitten, Militärtaktik. In den Augen der Römer gilt er als kultivierter Barbare. Die
Schlacht im Teutoburger Wald fand im Jahr 9 n. Chr. statt. Sie wird auch Hermannsschlacht genannt, als weiteres
Synonym gilt Varusschlacht.
Varus war ein römischer Stadthalter, Arminius sagt ihm, die Germanenstämme wollen eine Rebellion, Arminius lockt
ihn so in den Hinterhalt.
Kaiser Augustus soll in tiefer Verzweiflung nach Varus‘ Niederlage gesagt haben: „Legiones redde“ („Varus, gib mir
meine Legionen wieder“).
Ein weiterer Akteur ist Marbod, er hält sich zurück, schließt sich dem Germanenaufstand nicht an, er möchte die
Römer nicht provozieren. Kaiser Tiberius schickt die Legionen nach Germanien, zu einem Rachefeldzug.
Alexander Demandt: Ungeschehene Geschichte, da geht es um kontrafaktische Geschichtsschreibung (was wäre
geschehen, wenn…?) Die Zwistigkeiten unter den Germanen werden von römischen Agenten geschürt, Arminius wird
umgebracht, seine Frau Thusnelda wird ausgeliefert. Das hat welthistorische Bedeutung: Die Römer geben Germania
auf, die Weichen für die weitere Entwicklung Europas sind gestellt, das betrifft die römische Sprache.
Der Sieg des Arminius hat in der deutschen Stoffgeschichte so große Bedeutung, weil Deutschland dadurch eine
Nation wurde (Nationalstoff). Außerdem liefert der Stoff dramatische Elemente und Motive: die Empörung gegen die
Unterdrücker, ein heldisches Charisma, fragwürdige politische Strategien (Verrat). Es ist großes
Identifikationspotential für die deutsche Nationalliteratur gegeben.
Im Humanismus feiert der Stoff seine erste Konjunktur: Römer und Germanen werden wieder interessant, Luther ist
für die Eindeutschung verantwortlich: aus Arminius wird Hermann.
Daniel Kaspar von Lohenstein hat den Arminius-Stoff auch verarbeitet, bei ihm geht es um den großen Feldherrn
Arminius (höfisch-eroischer Roman um die 3000 Seiten). Der Roman verschlüsselt Zeitgeschichte (30-jähriger Krieg)
mit antiken Figuren: aktuelle Charaktere entsprechen antiken. Bei Kleist gibt es auch eine Projektion.
Im 18. Jh. wird Arminius zur Schlüsselfigur, zur nationalen Identitätsfigur, er wird behandelt in 3 Bardieten (Bardiet:
von Klopstock geschaffene Bezeichnung für ein vaterländisches Gedicht, Anm. PS)
Im 19. Jh. wird Arminius gleichgesetzt mit Siegfried (Otto Höfler greift das auf: es werden 2 Nationalhelden
verschränkt, dies ist überholt, aber dennoch sind Parallelen sichtbar: Tod durch Verrat, Varusschlacht ist
Drachentötung). Höhepunkt der Arminius-Rezeption ist die Errichtung der Hermannstatue bei Detmold (NordrheinWestfalen, im südlichen Teutoburger Wald, Anm. PS). Man sieht die Figur weit, wobei der Standpunkt der Schlacht
aber umstritten ist, das Mal soll weit sichtbar bleiben.
Das Denkmal wurde durch Spenden finanziert, es kommt auch in der Literatur zum Tragen: Heinrich Heines
Wintermärchen ist ein kontrafaktisches Geschichtsmärchen, dem Kaiser zu Ehren wird der Symbolgehalt umgewertet.
Jetzt ist es eine symbolisch verwirklichte Einheit, das Schwert zeigt nach Westen (nach Frankreich, entweder defensiv
oder offensiv, Anm. PS).
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2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund
2.1 Europäische Politik 1808/09
Kleist beginnt 1808 mit dem Drama, 1809 übersendet er die Dramenabschrift, es soll bei der Aufführung helfen, aber
vergeblich. Das Stück wird nicht aufgeführt. Die Napoleonischen Kriege toben gerade in der europäischen
Geschichte, nur an Großbritannien beißt sich Napoleon die Zähne aus.
2.1.1 Deutschland und Napoleon
Kleist: Katechismus der Deutschen (1809) ist ein Dialog zwischen Vater und Sohn. Der Vater bekrittelt, dass
Deutschland ein sehr schwammiger Begriff ist. Es gibt eine Unklarheit in der Wesensbestimmung, zurück liegt eine
jahrhundertelange Zersplitterung. Es existiert eine ähnliche Anspielung im Distichon von Goethe und Schiller in den
Xenien: Was ist Deutschland überhaupt? Wo das Gelehrte beginnt, hört das Politische auf. Das Distichon hat einen
neuen Sinn durch Napoleon bekommen (er ist ein Unterjocher des Vaterlandes in Kleists Augen). Das Deutschtum
musste man gegenüber Napoleon verteidigen.
1806: Deutschland liegt in Regionen zersplittert: Preußen, Österreich und Rheinbund (frz.). Preußen wird dann sehr
reduziert, Kleist als preußischer Offizier hat die Niederlage seines Landes nicht hinnehmen können, 1807 wurde er
verhaftet.
Österreich: ein nationalsozialistischer Philologie hat das patriotische Entdeckungserlebnis wichtig für Kleist
empfunden. Napoleon ist Herrscher über Europa, man sieht die Erosionserscheinungen in seiner Machtausübung.
Krisenerscheinungen im Inneren (Kontinentalsperre in Außenpolitik, Feldzug gegen Spanien ist ein Wetterleuchten
am Horizont des Untergangs Napoleons) und kompromisslose Radikalität (kommt in der Hermannsschlacht auch zur
Geltung) treten auf. Österreich wird zum Hoffnungsträger der Erhebung Deutschlands, aber nur kurz. Grund dafür ist
der Sieg Erzherzog Karls gegen die Franzosen (bei Aspern). Die Schlacht bei Wagram 1809 ist für Österreich eine
Niederlage, auch für Kleist eine Niederlage (an eine Aufführung des Stücks am Burgtheater ist gar nicht mehr zu
denken). Zwei Jahre später kommt es zum Freitod Kleists.
2.2 Nachwirkung als politisches Drama
Zu Lebzeiten Kleists gab es keine Resonanz auf das Stück. 1821 hat Tieck es erstmals abgedruckt, 10 Jahre nach
Kleists Tod. Aufgeführt wurde es in einer unvollständigen Version. Das Stück wird als Vaterlandsdrama aktualisiert.
Es richtet sich eigentlich gegen Franzosen, aber dieser Bezug verblasst mit der Zeit. Bismarck, der große
Reichseiniger, wird damit assoziiert, lässt Napoleon vergessen. Die Realgeschichte wird vermischt mit römischer
Geschichte aus der Perspektive Kleists. Kleist wird als Dichter des deutschen Nationalismus verherrlicht. Kleists
Lebenswerk sei als Offenbarung der deutschen Nation zu lesen und zu ihren Zwecken zu instrumentalisieren (Sänger
des Nationalismus). Kleist lässt sich auch für oppositionelle Kräfte verwenden (z.B. für sozialistische Zwecke bei Anna
Seghers). Es ist zu dieser Zeit das meistgespielte Kleiststück überhaupt. Zitate werden herausgelöst und etikettiert:
Es wird zu einem nationalsozialistischen Stück, noch lange vor dem Nationalsozialismus. Arminius wurde aus der
nationalen Namensgebung ausgeblendet.
Die Nationalsozialisten lasen es als Beispiel rücksichtloser Machtdurchsetzung, aber: es enthüllt, wie verhetzende
Propaganda manipulativ funktioniert!
3 Inhalt
Die Ausgangsbedingungen lauten: Die germanische Freiheit ist in Gefahr, Augustus erhebt Ansprüche, er profitiert
von den feindlichen Stämmen. Hermann ist ein passiver Held, er beugt sich den Eindringlingen nur zum Schein! Dies
ist ein charakterisierendes Moment, politisch nicht sehr interessant. Das Motiv der Jagd ist wichtig für ihn. Varus wird
getötet (22. Auftritt im 5. Akt). Es wird das Wortmaterial der Jagd verwendet. Es existiert eine durchdachte formale
Geschlossenheit im Drama (Anfang und Schluss: Jagd), der Zeitraum umfasst nur 5 Tage. Es handelt sich um ein
Intrigendrama! Einerseits gibt es politische und andererseits private Intrige.
a) politische Intrigen sind die Intrigen der Römer. Sie machen Arminius ein Angebot, gemeinsam mit den Römern
gegen germanische Rivalen zu verbünden. Rhetorisch ist das geschickt gemacht, Arminius macht das Angebot,
Herrschaft über alle Germanen. Cheruskerfürst Arminius weiß aber, dass die Römer Marbod das identische Angebot
gemacht haben. Taktik der Römer läuft daraus hinaus, dass die Germanen gegeneinander ausgespielt werden sollen.
Arminius/Hermann ist aber bereit, sich unterzuordnen unter Marbod. Dieser ist von Hermanns Integrität überzeugt, er
lenkt ein. Marbod ist bei Kleist mehr konform mit den Germanen als in Wirklichkeit.
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Persönlicher Ruhm wird hintangestellt, es geht um die Freiheit!! Macht ist nicht das Wesentliche, es geht darum,
gemeinsam gegen den Feind vorzugehen. Hermann und Varus: tragische Ironie, Frieden steht im Vordergrund, im
Hintergrund wird am Untergang der Römer gearbeitet. „Dieser Tag soll für Cherusker stets ein Festtag sein.“
Dem Leser wird der Tag der Schlacht im Teutoburger Wald schmackhaft gemacht. Tragische Ironie heißt, der Leser
weiß mehr als der Protagonist (Publikum weiß mehr als Schauspieler).
Hermann zeigt sich als Meister der Manipulation: Gehirne der Massen durchkneten und in eine bestimmte Richtung
lenken mittels psychologischer Propaganda, das ist sein Talent.
b) private Intrige: die weibliche Eitelkeit wird bedroht, aufgebauscht. Dies erscheint im kleineren Ausmaß. Mittel der
Satire kommen zur Anwendung, auch komische Aspekte. Hermann zeigt sich als Manipulator gegenüber seiner
eigenen Gattin Thusnelda, er setzt ihre Ehe aufs Spiel. Es ist männlich dominiert, das Bild eines unbedarften
Mittelstands. Thuschen zeigt Sympathie für die Römer (Ventidius), eine Haarlocke wird ihr geraubt, daran hängt sich
Hermann an. Es kommt zum Vergleich der Orangenschale (Ventidius will Thuschen nur aussaugen wie Orange, und
den Rest auf Müll werfen, meint Hermann, Anm. PS). Zur Zeit der Antike gab es aber noch keine Orangen in Europa
(Anachronismus von Kleist).
Die Deutschen werden mit Rohstofflieferanten gleichgestellt, der Deutsche wird als Rohstofflieferant für römische
Truppen hingestellt. Thusnelda schwenkt auf ein römerfeindliches Lager um. Später wird sie selbst zur Vollstreckerin.
Sie lässt Ventidius von hungrigen Bären zerfleischen. Arminius neigt zum Täuschungsmanöver, er infiziert ein
schlichtes Gemüt wie Thusnelda, es endet mit einer Bärin. Vorbereitungen werden gezeigt: Römer werden
demoralisiert, die Schlacht wird nicht gezeigt. Es ist ein Vorgefühl auf die Epochenwende, das Sprachrohr Varus sieht
die Vision des Untergangs.
4 Identifikation und Inhumanität
4.1 Verschlüsselung
Es ist ein brutales Theaterstück mit Drastik, was will Kleist, dass wir uns 1808/09 vorstellen? Der Schlüssel, mit dem
man das Stück aufsperren kann, ist offenkundig: Germanen sind die Deutschen, Uneinigkeit der Stämme entspricht
der Uneinigkeit der deutschen Staaten. Zwist und Hader, eine eindeutige Zuordnung Hermanns ist nicht möglich. Das
ist nebensächlich (Preußen und Österreicher zu Arminius und Marbod). Wichtig ist der Aufruf: Aufbruch nach Rom,
Zug nach Rom, um ins Herz des Feindes (Imperium) vorzustoßen, zu tilgen, gemeint ist: Paris!! 1814 wird Paris von
Koalition besetzt. Kleist hätte sich gefreut, war aber tot.
Napoleon selbst hat sich mit Caesar verglichen. Napoleon als der neue Caesar, er tritt in seine Fußstapfen. Asterix in
den 50er Jahren bildet den Mythos der Resistance gegen Hitler, gegen die ungeliebte Besatzungsmacht, ab.
4.2 Billigung unmenschlicher Mittel
4.2.1 Terror
Kleist benutzt unmenschliche Mittel jenseits aller Moral: Leichenschändung und Terror. Die Moral ist völlig
dehumanisiert, skrupellos wird Gewalt gerechtfertigt, Kleist macht das auch in seinen vaterländischen Gedichten (s.
Handout). Napoleon muss vom Erdboden getilgt werden, seine moralischen Werte sind durch seine große Person
außer Kraft gesetzt. „Dämmt den Rhein mit ihren Leichen“ schreibt Kleist in Germania an ihre Kinder. Das
Hassgedicht ruft mit grellen Bildern auf gegen den Feind. Es ist das gleiche Versmaß wie bei der Ode an die Freude.
Es ist eine Palinodie: der Rhythmus knüpft an anderen Text an, aber Gehalt ist ganz anders! Ode an den Hass.
Im Kriegslied der Deutschen wird zum Erschlagen aufgefordert. Das ist Hasslyrik, Propagandalyrik. Es werden
Untermenschen geschaffen. Es ist auch ein Offert an den abtrünnigen Rheinbündler, sich auf die Seite der
Deutschen/Preußen zu schlagen. Kritiker sagen, die Leistung Kleists liegt in der Einführung des Terrorismus in die
Literatur!!
Der Unterdrückte siegt (wie oft bei Kleist).
4.2.2 Radikale Kriegsführung
Radikale Kriegsführung wird in der Taktik der verbrannten Erde begangen. Im Umgang mit Kriegsgefangenen ist
Hermann radikal. Er lässt einen guten Römer mit einer extra schweren Keule erschlagen. Das ist die Moral des
Fanatikers. Vaterlandsehre ist das Nonplusultra.
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4.2.3 Gräuelpropaganda
Man muss Übertreibungen erfinden, um die römische Disziplin zu unterwandern. Hermann ist unzufrieden mit der
römischen Selbstzucht. Er erfindet und schiebt Untaten Römern in die Schuhe.
Kein Wunder, dass dem Nationalsozialismus das so gut gefallen hat, gegen Polen hat er genau das gemacht. Das
Werk ist ein Propagandastück in zweierlei Hinsicht: Man will den Kampf gegen die Franzosen schüren, andererseits:
wie können Strategien von Propaganda und Machtsicherung so greifen? (Gräuelpropaganda ist ein Mittel der
psychologischen Kriegsführung: es wird ein Gegner diffamiert, indem man ihm erfundene Untaten zuschreibt, oder
Handlungen bewusst verzerrt darstellt, Anm. PS)
4.2.4 Leichenschändung
Literaturgeschichtliche Reminiszenz: Germanin Hally wird zerstückelt in 15 Teile, soll an alle Teile Germaniens
geschickt werden. 16 Leute sind beteiligt, das hat Signalwert. 16 Staaten werden abgelöst vom heilig-römischen
Reich und treten in den Rheinbund ein. Kleist ist wie Thomas Bernhard ein Übertreibungskünstler, der polarisiert,
drastische Mittel verwendet.
4.3 Agitation und Widersprüchlichkeit
4.3.1 Gegenprogramm zur Klassik
Kleist ist kein Klassiker in diesem Stück (diese wollten ja das Völkerverbindende sehen), das Irritierende will Kleist,
den Aufruf zum Hass und Terror, keiner widerspricht der Klassik sonst so. Goethe zeichnete sich durch ein
problematisches Verhältnis zu Kleist aus, denn Goethe war ein Bewunderer von Napoleon (sie haben sich getroffen,
haben auf Augenhöhe verhandelt). Dies ist das Gegenprogramm zu Kleist, weil dieser Unmenschlichkeit zur Maxime
erhebt. Er will zeitgenössische Werte vermitteln. Die Bühne ist dazu da, um Tagesprobleme darzustellen, ist für den
Augenblick berechnet. Die Zeitumstände müssen bedacht werden.
4.3.2 Die Hermannsschlacht als Agitationsdrama
Es ist ein Agitationsdrama, ein zeitgebundenes Drama, anders als die bereits besprochenen. Das Stück fordert zum
politischen Handeln auf, es richtet einen Appell an das Publikum. Heute haben wir keinen problemlosen Umgang
damit, wegen der radikalen Strategien, auch weil die Grenzen zwischen Gut und Böse verwischt sind. Lügen bleiben
unwidersprochen, auch Inhumanität bleibt unkritisiert. Was positiv dargestellt wird, ist heute nicht mehr tragbar. Es
gibt kein Identifikationspotential. Hermann ist inkonsequent. Er ist ein Bilderbuchdeutscher, der auch Züge von
Napoleon hat (Hermann the German). Er zeichnet das Psychogramm eines kalten Machtmenschen, ein Taktiker,
der das Humane allen Zielen unterordnet. Erst dann kommt der Mensch. Es ist ein antinapoleonisches
Tendenzstück, das eine Napoleonsfigur zeigt, die gegen Napoleon agiert. Der echte Arminius kannte die Römer aus
eigener Erfahrung, macht eine Art Mimikry (Angleichungsprozess), er passt sich den Römern an.
Es handelt sich um ein widersprüchliches Stück, aber auf einer anderen Ebene als bei Don Karlos. Posa will, dass
der Leser die Position der Freiheit übernehmen soll, ist aber nicht so ins Extreme gesteigert wie bei Kleists Hermann.
Geniales Machtwerk? Man kann sich als Normaler nicht mit den Tendenzen des Stückes identifizieren, aber die
ästhetische Gestaltung ist gut. Aber Vorbehalte müssen immer bedacht und erwähnt werden. Das Stück ist spannend,
komisch, es ist kein sprachlicher Qualitätsabfall zu bemerken, es ist dubios.
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VO NdL: Drama und Geschichte
Martin Neubauer
VO 5/13 - 17. APRIL 2012
KÖNIG OTTOKARS GLÜCK UND ENDE
FRANZ GRILLPARZER
1825
1 Stoffgeschichte
1.1 Historische Grundlagen
Es geht um Ottokar von Böhmen und Rudolf von Habsburg, er wird wirklich an dem Datum zum König gewählt.
Ottokar war ein Prominenter, er war König von Böhmen. Sein Territorium war wirtschaftlich sehr reich, profitiert haben
sie dadurch, dass die Babenberger geschwächt waren. Ottokar wird bei der Königswürde abgewählt von den
Kurfürsten, weil er zu mächtig ist. Er erkennt den neuen König nicht an, verweigert ihm die Huldigung, legt so die
Grundlagen für den Konflikt. Folgen: die Reichsmacht wird über Ottokar verhängt, ein Reichskrieg als Scheinlösung
gefunden, Frieden von Wien. Ein neuer Waffengang ist unausweichlich, die Anhänger von Ottokar haben die
Habsburger provoziert – 1278 kommt es zur Schlacht am Marchfeld, der wichtigsten Ritterschlacht auf
österreichischem Boden.
1.1.2 Schlacht auf dem Marchfeld
Am Papier spricht viel für Ottokar: viel mehr Soldaten, doppelte Überzahl, das ist aber oft die Quellenlage nicht
richtig… ein heidnisches Steppenvolk hat er: die Kameraden entschuldigen sich zuerst, dass sie nicht teilnehmen
können, verstecken sich, nehmen dann teil. So kam es zum Sieg Rudolfs. Ottokar wird auf der Flucht erschlagen,
seine Leiche wird nackt auf dem Schlachtfeld zurückgelassen. Die Leiche wird 30 Wochen lang in Wien ausgestellt.
Die Hausmacht der Habsburger ist in Österreich gesichert, Przemysliden verschwinden allmählich.
Rudolf stammt aus Schwaben, wird in Österreich nie wirklich heimisch. Grillparzer hat sich nicht als erster diesem
Stoff angenommen.
1.2 Stofftradition vor Grillparzer
Das Thema lautet Legitimation von Herrschaft, es geht um den richtigen Herrscher, um einen Nationalmythos für
Österreich, einen Aufsteiger aus dem Nichts. Dabei war er ein kriegserprobter Kämpfer. Durch das Gottesurteil wird
er mit dem Ornament des Sagenhaften versehen, bald machen es die beiden (Rudolf und Ottokar) im Zweikampf aus.
Fromme Legenden bilden sich, schon im 14. Jh. Eine davon: Rudolf und der Priester. Die vorbildliche Gottergebenheit
Rudolfs soll verbildlicht werden. Lohn: er wird zum deutschen König gewählt, weil er den Geistlichen geehrt hat.
Schiller hat das gestaltet in einer späten Ballade 1384. Der Rudolf-von-Habsburg-Stoff: es gibt ein reges
Desinteresse an dieser Geschichte außerhalb des Habsburgerreiches. Er ist unbekannt und ohne Reaktion
außerhalb. Er ist ein Ahnherr, der Rudolf darstellt. Hormayer ist ein wesentlicher Multiplikator, ein Historiker, der
emsig veröffentlicht hat (170 Bände), er hat eine konsequente Abneigung gegen Napoleon. Sein Werk:
Österreichischer Plutarch (antiker Historiker, wollte griechische und römische Geschichte vergleichen), HormayerChronik, Hormayer-Portraits: Grillparzer hat das herangezogen, sie waren Zeitgenossen. Grillparzer entwirft im
Schulunterricht eine Lobrede auf Rudolf, während die napoleonischen Kriege in Europa toben.
August von Kotzebue war ein erfolgreicher Dramatiker. Grillparzer hat von ihm ein Drama besucht, Stern Habsburg in
schwarz weiß gemalt, 4 Romanzen ausgestaltet. 1822 notiert er im Winter einiges über das historische Interesse an
dem Stoff (s. Handout). Sieht sich zur Abfassung des Stücks noch nicht in der Lage, 1923 aber beginnt er mit
Niederschriften.
Poetik ist das, was wir seit der Antike her kennen: Realhistorisches hat sich der dichterischen Freiheit
unterzuordnen! Historische Begebenheiten werden mit Fantasie verkettet und gefüllt (Selbstbiografie-Stelle s.
Handout). Faktenlage ist nicht wichtig, das Hinzuerfundene ist wichtig, die dichterische Erfindung allein entscheidet
über den künstlerischen Wert.
Grillparzer verfügt großzügig mit der Zeitstruktur und den realen Begebenheiten. Es existiert eine freie Zeitstruktur wie
beim Götz, Grillparzer komprimiert die reale Zeit von 25 Jahren zunächst. 1254, 1255 beginnt die Handlung vielleicht.
1282 kommt es zur Belehnung von Rudolfs Söhnen, er hat eine große Spanne gefasst! Grillparzer hüpft 4 Jahre nach
vor. Es sind sechs Jahre Ereignisfolge, wir als Leser haben aber nicht diesen Eindruck (es macht den Eindruck, als
wäre es ein kontinuierlich ablaufendes Geschehen). Die Umstellung von Ereignissen spielt eine Rolle (Verhaftung
Merenbergs im 3. Akt). In Wirklichkeit war das früher.
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2 Inhalt
Ottokar ist am Zenit seiner Macht, zusammen mit Rudolfs Sieg über Ungarn, er nimmt die Huldigung entgegen. Er
bekommt die Krone angeboten. Ottokar ist einer, der von Macht korrumpiert ist, er zeigt selbstherrliches Verhalten.
Darin liegt der Keim für seinen späteren Sturz. Die Gemahlin Ottokars ist Margarete, kurz vor der Auflösung will er die
Tochter des Ungarnkönigs Bela, Kunigunde, heiraten, er macht sich Feinde. Die Rosenberger, weil er die ursprünglich
ihm zugedachte Braut Berta sitzen lässt, auch Zawisch gehört dazu. Im 2. Akt verbünden sie sich, Habsburg gewinnt
die Unterstützung. Es gibt eine Peripetie im 3. Akt., Rudolf und Ottokar treffen zusammen, der Böhmenkönig hat
Anhänger verloren, Rudolf gewinnt welche. Ottokar muss sich belehnen lassen mit seinen Ländern (Böhmen und
Mähren, Anm. PS), sein Stolz ist gekränkt, weil er vom armen Habsburger Länder empfangen muss. Im Zelt
verhandeln sie. Zawisch, intrigant, durchtrennt die Zeltschnüre, Ottokars Unterwerfungsakt wird publik. Das ist eine
Anekdote, die Grillparzer nicht erfunden hat, er hat es als Höhepunkt im 3. Akt eingeschoben. 4. Akt: Ottokar kann die
Schmach nicht ertragen, spricht mit Rudolf. Er will eine Entscheidungsschlacht, das kommt dann im 5. Akt, der junge
Merenberg tötet Ottokar und rächt damit seinen Vater.
Man sieht den Einfluss des spanischen Theaters und von William Shakespeare. Desengano: Desillusionierung
aus der spanischen Dramatik: der, der im ganzen Stück gesündigt hat, erfährt eine innere Umkehr, das sieht man im
Schlussmonolog: die späte Erkenntnis.
Shakespeare: Grillparzer hat mit 16 hat alle Stücke im Original gelesen. Der Riese Shakespeare war eine
Bildungsmacht, die den eigenen Freiraum einengte, sagt Grillparzer, er engt das Ende ein.
Schlachtendramaturgie: Ottokar ist nicht das Opfer eines Gemetzels, sondern er verliert das Leben in einem
ritterlichen Zweikampf, ein bestimmtes Ereignis wird fokussiert. Wie Richard III herausgegriffen, der Untergang des
Titelhelden, er hat noch etwas von Shakespeare gelernt: die Erhöhung der Leiche: Schändung wird ausgelassen,
sie erfährt respektvolle Behandlung (bei Romeo und Julia auch).
3 Grillparzer und das Geschichtsdrama
Es ist der erste Versuch eines ausgereiften historischen Dramas bei Grillparzer. Es wird ein großer Wurf, schlägt
einen Bogen von Mittelalter bis in die Gegenwart, er hat vorher auch eines geschrieben, darunter Blanka von
Kastilien. Alle haben mit der Erosion ihrer Autorität zu kämpfen, mit der Art des Guten und dem verantwortungsvollen
Regieren: treuer Diener seines Herrn, die Jüdin von Toledo, der Bruderzweist in Habsburg (die letzten zwei wurden
erst posthum veröffentlicht).
Treuer Diener seines Herrn: König Andreas zieht in den Krieg, Bancban wird zum Regenten bestimmt. Regentschaft
endet in mehreren Katastrophen: junge Gattin Bancbans muss sich töten, öffentliche Ebene: das Volk begehrt auf.
Andreas muss als Deus ex machina auftreten, um ein Chaos zu vermindern. Da gibt es einen Vergleich mit Ottokar,
aber andere Akzente werden gesetzt. Die Figur des Herrschers: innerstaatliche Konflikte, Ottokar hat ein sehr
eigenständiges Territorium. Ruhe gilt als oberste Maxime, sonst ist es unbequem. Revolte ist das Schreckgespenst,
bei Ottokar geht es primär um die Durchsetzung des Rechts. Er ist ein Regent ohne innere Größe und ohne
Charisma.
Jüdin von Toledo: das ist ein spanischer Tragödienstoff. Alfons der VIII von Kastilien verfällt der schönen Jüdin
Rachel. Eros bedroht die Machtposition. Die Frau wird am Ende dem Staat geopfert. Die Ehekrise wirkt sich negativ
auf Staat aus. Verschränkung zwischen Politischem und Privatem.
Bruderzwist in Habsburg: Rudolf II, Habsburger, ist ein menschenscheuer Sonderling und zieht sich zurück. Er ist
den Spannungen vor dem 30-jährigen Krieg nicht mehr Herr, das Land versinkt im Krieg. Er übergibt die Kaiserkrone
an seinen ehrgeizigen Bruder Matthias: Schluss in Perspektivlosigkeit, bei Ottokar verspricht eine bessere Zeit
anzubrechen.
4 „König Ottokar“ als problematisches Nationaldrama
Die Schweizer haben ihren Wilhelm Tell, die Österreicher haben ihren Ottokar. Es gibt das Problem der ÖsterreichVerherrlichung. Es ist ein nationales Drama, ein Mythos. Dazu beigetragen hat die Rede aus dem 3. Akt, Vers 1670ff.
Das ist eine der populärsten Stellen im ganzen Werk.
Ottokar von Horneck: entspricht im Mittelalter Ottokar uz der geul, er war nur unter Ottokar bekannt. Er hat eine
Rheinchronik hinterlassen, etwa 100 000 Verse. Für Grillparzer ist das eine wichtige Quelle, er hat das Original
studiert. Eine mittelhochdeutsche Grundlagenforschung hat es noch nicht gegeben, er musste ohne diese Basis
arbeiten.
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Die Prunkrede liegt genau an der Mittelachse des Dramas. Am Schluss bekommt der Redner von Rudolf eine Kette
geschenkt. Das ist die Wunschvorstellung vom gerechten Dichterlohn (auch bei Schnitzler). Auch bei Richard II,
John of Gaunt, gibt es ein Lob auf England. Es wird vorgeschoben in den 2. Akt. Das ist das Vorbild für Grillparzer
in der Struktur und Wortwahl. „This precious stone set in die silver sea“, heißt es dort und bei Grillparzer
dementsprechend: „Vom Silberband der Donau rings umwunden“. Auch die Regierungstätigkeit Richard II ist ähnlich,
auch er ist präpotent und wird entmachtet. Bei Ottokar ist die Rede über die Heimat vom politischen Konflikt
aufgeladen. Das ist als Showstopper gedacht: ein positives Österreichbild, Publikum applaudiert (oder nicht).
Idyllisches Österreich der nachnapoleonischen Ära, es ist ein Bekenntnis zur Heimat und gegen das Chaos,
Österreich soll die Geschichte überdauern.
Die Nachwirkungen des Königs Ottokar sind an die Lobrede von Horneck geknüpft: es wird eine Art
österreichisches Nationaldrama. Die Schüler mussten die Rede auswendig lernen, am Anfang der 2. Republik
wurde es an die junge Generation vermittelt. Es ist selbst Teil der österreichischen Geschichte geworden. 1955 wollte
man das Burgtheater wieder eröffnen, man hat überlegt, wie soll man die österreichische Staatsbühne wieder
einweihen? Egmont von Goethe oder Ottokar standen zur Wahl. Das Premierenstück war dann echt Ottokar, die
Frage wurde sogar im Parlament behandelt. Die Habsburger werden verherrlicht, lauteten die Stimmen dagegen.
Es wurde als Bekenntnis zur Souveränität eines neuerstandenen Österreichs verstanden.
Die Frage lautet: ist König Ottokars Glück und Ende wirklich ein Habsburgerlob? Der Ahnherr der Dynastie, Rudolf,
wird als besonnene Siegergestalt gezeichnet, Österreich für immer! Für Habsburg wird eine Lanze gebrochen, sie
haben es in der Heimat schwer gehabt. Grillparzer hätte das nicht geahnt, schreibt er in seiner Selbstbiografie
(Schmeichler).
Es ist nur nach außen hin ein Bekenntnis zu Habsburg, je mehr man aber alte Habsburger verklärt, desto mehr
versteckt sich Kritik an den Figuren der Gegenwart. Grillparzer geht in seiner Lyrik hart ins Gericht mit Metternich.
Den Habsburgern ginge die Fähigkeit zu herrschen ab, zur Zeit Rudolfs war es besser. Ottokar wurde für die Zensur
zum Problemfall (s. Handout). Die aktuelle politische Lage verleitet zur missverständlichen Lektüre. Die Trennung
Ottokars von seiner Gattin erinnert die Zensoren an die Scheidung Napoleons von Josephine. Als 2. Frau heiratete
er Marie Luise, eine Habsburgerin. Die Auflösung der ersten Ehe bedeutete eine Schicksalswende. Diese Parallele
könnte Anlass zu unangenehmen Erinnerungen geben.
Das Nationalitätenproblem kann bis in die Gegenwart reichen, zeigt Reibungen der Völker untereinander. Angst vor
der Gefährdung des inneren Friedens tritt auf, deswegen wurde es zunächst nicht aufgeführt.
Böhmen/Österreicher. Eineinviertel Jahre lag es bei der Zensurbehörde. Es ist als zur Aufführung ungeeignet
betrachtet worden. Grillparzer hat sich um jahrelange Arbeit betrogen gesehen.
Ein Zufall hat das Stück dann doch auf die Bühne gebracht: die Gattin des Kaisers war krank, sie bittet um ein
ungespieltes Stück, liest den Ottokar, erkundigt sich, wird in Kenntnis gesetzt über das Aufführungsverbot. Sie setzt
sich dafür ein beim Kaiser, 1827 wird es doch uraufgeführt. Das ist ein Beispiel der Literaturpolitik zu der Zeit.
Charles Sealesfield: Was wär da aus Shakespeare geworden? Meistgequältes literarisches Klima ist in der
Biedermeierzeit.
Epochenwenden sind für historische Dramen immer ein gefundenes Fressen.
Grillparzer hat die Napoleon-Literatur zu Rate gezogen. Grillparzer war von Shakespeare fasziniert, auch von
Napoleon in den Bann gezogen (schon den jungen Grillparzer: „wie die Schlange den Vogel“). Aufmerksame Leser
bemerken: Ottokar und Napoleon sind Männer der Tat, es geht über das Scheidungsdrama hinaus, beide sind
politische Entscheidungsträger, die als Manipulatoren der Geschichte fungieren. Rudolf steht als Legitimist dar, stützt
sich auf geltendes Rechts, pocht auf Durchsetzung seiner Königswürde. Der Herrschaftsanspruch ergibt sich aus sich
selbst bei Ottokar. Auch Napoleon aus Korsika gehörte nicht zu einer Adelsfamilie.
Napoleon ist eine Gestalt, die sich die Macht durch eigene Leistung sichert und nicht durch das blaue Blut in seinen
Adern. Die Karriere hat seinen Aufstieg begünstigt. Der Herrschaftsanspruch kommt aus sich selbst. Die
Selbstkrönung in der Kathedrale von Notre Dame zeigt die Maßlosigkeit des Ichs. Es ist der Gipfelpunkt des
Ehrgeizes und der Maßlosigkeit, auch Ottokar verfügt darüber. Sie verfügen über keine traditionellen Familienbande,
das Individuum ist die Machtgrundlage. Es sind moderne Politiker, könnte man meinen, bisherige Prinzipien werden
über Bord geworfen, ihnen haftet eine zweifelhafte Legitimität an, sie unterstreichen dies durch ihr Scheitern.
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Epochenwende: im 3. Akt heißt es: wir stehen am Eingang einer neuen Zeit. Gegenteil des Biedermeierherrschers
(Beharrung): Rudolf suggeriert, er lenkt die Hoffnung auf den augustäischen Frieden, wie innere und äußere Ruhe.
Rudolf stellt eigentlich keinen Aufbruch dar, sondern führt eine rückwärtsgewandte Strategie durch. Ottokar ist die
Überwindung eines Herrschertyps wie aus dem Schlag Napoleons (gerade nicht progressiv). Das josefinische
Herrschaftsverständnis stellt gegenüber der Modernität Napoleons einen Rückschritt dar, es spricht vom
verantwortlichen Dienst am Staat, keine anmaßende Selbstinszenierung, der Herrscher soll hinter seine Pflichten
zurücktreten. „Doch solltet ihr je… an den Ottokar zurückdenken, an sein Glück und an sein Ende.“
Der Titan ist tot, die wahre Herrscherwürde liegt in Gottesfurcht und Zurückhaltung. Rudolf als Gestalt, mit Blick
voraus in einen aufgeklärten Absolutismus, von Grillparzer aus der Blick zurück auf die veraltete Regierungsform.
Rudolf ist nicht der Restaurator eines aufgeklärten absoluten Staates sondern eines Lehensstaates.
Grillparzer sieht im Schritt ins Mittelalter eine progressive Wende. Ottokar (durchaus modernes Herrschaftskonzept
vertreten, auf Individualität wie Napoleon aufgebaut) wird diskreditiert. Es geht in der Epochenwende zurück!! Das
Rad der Geschichte wird zurückgedreht. Das ist die Pointe, ein antiliberales Schauspiel. Es herrschen veraltete
Machtstrukturen, Ottokar ist ethisch zwielichtig, Rudolf gilt als leuchtendes Beispiel.
Entsprechend sieht die Bildebene des Dramas aus: es ist ein Paradigmenwechsel in die reale Geschichte. Es ist ein
Schritt zurück in eine Form von Herrschern, die aber schon längst überholt war! Wiener Kongress hat das praktisch
betrieben: 1814/15. Legt 1792 als das Jahr zurück, weit nach Napoleon zurück. Karl X revitalisiert das mittelalterliche
Brauchtum: heilende Könige, Gottesgnadentum. Könige konnten heilen durch Handauflegen. Fortschritte der Medizin.
Epochenwenden, so sehr sie zum Drama gehören, bedeuten nicht immer einen Schritt nach vorne! Es ist ein
Schauspiel mit dem Geist der Restaurationszeit!
VO 6/13 - 24. APRIL 2012
NAPOLEON ODER DIE HUNDERT TAGE
CHRISTIAN DIETRICH GRABBE
1831
Bei diesem Text handelt es sich nicht um eine verschlüsselte Form des Stoffes wie bei Kleist, sondern Napoleon tritt
uns unverstellt entgegen.
1 Autor
Chr. D. Grabbe fristet im Deutschunterricht ein Schattendasein. In der biedermeierlichen Epoche wirkt er wie ein
Fremdkörper.
1.1 Lebenslauf
„Er starb an Selbsttrunk“, heißt es und man nannte ihn den betrunkenen Shakespeare, da er die größte
Verwandtschaft zu Shakespeare aufweist und ein Alkoholiker aus Verzweiflung war. Von H. Heine wurde aber sehr
gewürdigt.
In seinen Texten wirkt er wie ein verspäteter Stürmer und Dränger, kümmert sich nicht um das, was die anderen
sagen. Sein Dramatiker-Kollege F. Hebbel meint, dass er die Idee durch die Erscheinung vernichten will. In der
Restaurationszeit dann herrscht eine progressive Einstellung, der tote Grabbe wird zur Ikone. Jungdeutsche sehen es
so: er wurde von deutschen Zuständen zerstört. Napoleon lebt zur Zeit der Veröffentlichung des Dramas noch, Zeit
der Todesjahre Schiller (1805) und Goethe (1832). Das Studium bricht Grabbe ab, dann arbeitet er als Jurist, als
Militärrichter später wird er gefeuert, legt ein Feuer. Er heiratet, seine Ehe ist eine Katastrophe, die Frau wird vom
bewaffneten Grabbe durch das Haus gejagt. Gestorben ist er in Detmold, aufgrund seines exzessiven Lebens stirbt er
jung (34). Zusammen mit Büchner gilt er als Revolutionär des deutschen Dramas. Büchner stammt aus dem
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Bildungsbürgertum, Grabbe aus einfacheren Verhältnissen: sein Vater ist Zuchthauswärter in Detmold. Zu Lebzeiten
hat Grabbe aber erfolgreicher veröffentlicht. Napoleon oder die 100 Tage kam 1895 auf die Bühne.
1.2 Dramatisches Werk
Die Figuren, die in Grabbes Dramen auftauchen, sind sehr übersteigert (Maßlosigkeit). Das Stück Titus Andronicus
von Shakespeare ist wie kein anderes von Grausamkeit gekennzeichnet, Grabbe betreibt das ebenfalls. Exzessive
Gewalt und Grausamkeitsdarstellungen gehen Hand in Hand, Schurken stellen das Böse dar. Ebenfalls in Grabbes
weiteren Werken Marius und Sulla, Kaiser Friedrich Barbarossa und Hannibal setzt der Autor sich zum Ziel,
darzustellen, wie Charaktere das Normale überbieten, abgekoppelt von moralischen Ansprüchen, wie auch bei
Kleist. Im Nazi-Deutschland stößt dies auf großes Interesse. Es gibt auch eine überzeichnete Behandlung des
Fauststoffes, Grabbe will den Fauststoff überbieten, er fügt Don Juan hinzu! Es kommt zur Konfrontation zwischen
den zwei Figuren, die etwas anderes repräsentieren. Grabbe hat sich für die Größe Napoleons interessiert. Es ist sein
ausladendstes Theaterstück.
2 Grabbe und der Napoleon-Stoff
2.1 Entstehungsgeschichte
1829 erwähnt Grabbe erstmals den Dramenplan. Europas politische Ordnung ist zu diesem Zeitpunkt noch
vergleichsweise stabil. Es gibt noch keine großen Revolutionen, das ändert sich um 1930. Das berühmte DelacroixBild bezieht sich übrigens auf die Julirevolution.
2.1.1 Nähe des Stoffs
Es gibt eine historische Zäsur, anhand welcher Heinrich Heine 1831 rückblickend das Ende einer Kulturepoche
diagnostiziert. Ideen des Nationalismus und Liberalismus verbreiten sich. 1831 wird das Napoleon-Drama
veröffentlicht. Das ist dann schon eine ganz andere Zeitdimension als damals, als es entstanden ist (2 Jahre zuvor).
Die anderen Autoren haben Geschichte beschrieben, die schon 100 Jahre zurücklag, dieses hier nicht, der Inhalt liegt
nur 16 Jahre zurück. Beispiel an einer brieflichen Korrespondenz: der Schreiber hat Probleme, das wichtige vom
unwichtigen zu trennen, denn es liegt noch so nahe. Es handelt sich um eine Nähe des Stoffs, um die Nähe der
Zeitereignisse.
Geschichte im Stück: Es geht um das Schicksalsjahr 1815, ein Jahr, das über die Zukunft Napoleons entscheidet,
gleichzeitig über das Schicksal Europas. Dies ist ein roter Faden für den Inhalt. Das Drama beginnt mit der Rückkehr
Napoleons aus Elba. Am 1. März 1815 landet er in Cannes, er möchte Macht in Frankreich wiedergewinnen. „Der
Werwolf von Korsika“ wird er in den Zeitungen genannt. Am 20. März marschiert er in Paris ein, da schrieb die Presse
schon wieder „kaiserlich“ und „königliche Majestät“. Truppen laufen scharenweise zu Napoleon über, er marschiert in
Paris ein, ohne überhaupt einen Schuss abgeben zu müssen. Die Vertreibung der Bourbonen wird im Stück auch
beschrieben, Napoleon ist noch einmal 100 Tage an der Macht (unterbricht für 100 Tage die Herrschaft Ludwigs
XVIII).
Napoleon schlägt in der Schlacht von Ligny seine Gegner, aber er setzt ihnen nicht nach. Das war ein Fehler, es folgt
die Schlacht von Waterloo. Jeder 3. Franzose ist am Ende der Schlacht getötet oder verwundet. Napoleon hätte den
Sieg gegen den englischen Befehlshaber Wellington haben können, es war aber sein Waterloo. Die preußische
Verstärkung führt die Entscheidung zu Ungunsten Napoleons herbei. Er wird endgültig auf St. Helena verbannt (liegt
im atlantischen Ozean vor der afrikanischen Küste, aus Kapstadt, am anus mundi). Dort bleibt er bis zu seinem Tod,
sein Exil wird bewacht.
2.2 Zeitgeschichtliche Aktualität
Die geschichtlichen Vorgänge zur Zeit Grabbes haben zeitgeschichtliche Aktualität besessen. Es ist der Übergang
vom Geschichtsdrama zum Zeitdrama. Zu Beginn der Niederschrift ist Napoleon erst 8 Jahre tot. Der Herzog von
Orleon im Stück wird tatsächlich während der Niederschrift König. Der neue König Louis Philippe sichert dem Drama
zusätzliche Aktualität. Der Brief vom 10. November schildert Grabbe als Seher.
3 Inhalt
Nun konkret zum Stück: seine Struktur. Der Beginn des Dramas findet kurz vor Napoleons Rückkehr aus Elba statt.
Das Bourbonenregime hat sich in Frankreich breitgemacht, alte Machtstrukturen erheben sich aus der
Vergangenheit. Es kommt zu widersinnigen Konzentrationen von Zeitabläufen innerhalb einer Szene. Beispiel 1.
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Szene 3. Akt: Das Gerücht macht die Runde, der Kaiser sei von Elba zurück, nach Ende des Akts marschiert er dann
echt ein, er ist also nur ein bisschen langsamer als Gerücht. Das wirkt gekünstelt!
Zu den Personen: 170 Sprechrollen sind verzeichnet, Pferde und Statisten. Es ist ein breitgefächertes
Sozialpanorama, noch breiter als bei Götz. Das ist etwas problematisch, Grabbe hat das Personenverzeichnis
strukturiert (Volk von Paris, Engländer, …). Es ist die Struktur eines offenen Dramas, es gibt 20 Schauplätze auf 25
Szenen verteilt, in 7 davon ist Napoleon zu sehen. Dies bildet den Gravitationspunkt des Theaterstücks. Die übrige
Figurenrede wird Napoleon ausgerichtet, er ist die titelgebende Figur. Das Stück ist wie folgt angelegt: Anfangsteil Schauplatz Paris, 2. Teil ab 4. Akt 4 Szene, Szenerie verlagert sich. Dieses Drama ist unspielbar für Bühnen.
4 Ästhetische Innovationen
Innovativ sind Volksszenen, Massenszenen und große Schlachtszenen im 2. Teil.
4.1 Massenszenen
Die Masse auf ästhetisch innovative Weise darzustellen, bricht mit der romantischen Tradition. Es gilt als Vorverweis
auf Brechts episches Theater, Grabbe stößt die Tür auf zu realistischer Geschichtsdarstellung. Grabbe streift den
Vers ab, das Stück ist in Prosa gehalten! („Der das schreibt, zeugt nichts an falscher Sentimentalität!“) Zum
inhaltlichen Programm: die Form gibt uns Auskunft über die Intentionen des Inhalts. Es geht auch um
Zeitangemessenheit: Arminius kann im Vers reden, aber bei jemandem, der erst 8 Jahre tot ist, kommt das nicht so
gut.
Grabbe rückt ab von der traditionellen Darstellung. Die Masse bestand aus stummen Komparsen, man hat den
Figuren zugenickt. Die Masse rief in früheren Dramen unisono Kommentare (Alle: es lebe der König). Hier ist es
anders: die Masse hat individuelle Stimmen. Massenszenen, wie später bei Büchner, dienen nicht dem Setzen
eines konkreten Spannungsbogens. Es erscheint zusammenmontiert, das Verfahren der Montage ist modern, es wird
angewendet (Szene 1/1). Ausrufer ohne Kommentare werden einander gegenübergestellt, zum Beispiel Bildergalerie
und Menagerie, der eine hat Bilder über König, der andere mit Tieren (Affen und Dronten (ausgestorben)).
Zusammengeschnitten bedeutet das: die Bourbonen gegen ausgestorbene Affen. Das ist Montage, man hat
Assoziationen, Analogien mit dem Herrscherhaus. Sie tragen nicht zur Handlung bei, aber sie vermitteln ein
Stimmungsbild, nach dem Vorbild Shakespeares: er lässt das Volk auftreten. Themen erscheinen in Form von
Genrebildern, sie werden im Dramenverlauf weiter verarbeitet. Einer tritt auf, S.14: Geschick-Aussage, Kernaussage:
Den einen ertränkt das Geschick.
Es lässt sich eine Uneinheitlichkeit der Volksszenen feststellen. Sein Äquivalent liegt in der Ziellosigkeit der
Geschichte. Es gibt keine ideelle Kontinuität. Es gibt Vordeutungen und Verklammerungen, ihr Zweck ist es,
Wendepunkte darzustellen. Es sind Themen, die wieder aufgegriffen werden, die Massenszenen fungieren als
Stimmungsbarometer, Äußerungen sind ein Spiegel der Stimmung im Volk: es spiegelt die Heterogenität der
politischen Einstellungen wider. Die Darstellung von unterschiedlichen Parteien (Bonapartisten, Royalisten, …)
macht die erfolgreiche Wiederkehr plausibel. Es ist eine Zeit der Kleingeistigkeit, Chassecoer äußert seinen
Überdruss auf S. 15, spricht von einer erbärmlichen Welt, von einem Überdruss an der Welt (auch Generalthema bei
Dantons Tod). Büchner hat viel Wert gelegt auf die große Bedeutung der Volksszenen. Die Idee dahinter: das Volk ist
machtlos gegen die Launen der Geschichte (von einer Welle getragen ohne Einfluss).
4.2 Schlachtszenen
4.2.1 Mediale Vermittlungen außerhalb des Theaters
Die Schlachtszenen bilden ab, was vor Augen geführt werden soll. Es ist eine mediale Veranschaulichung: wie hat
sich eine Schlacht abgespielt? Wie sieht die mediale Darstellung außerhalb des gedruckten Wortes aus? Musik (a) ist
die ästhetische Lösung ohne Visuelles, Beispiel ist das Schlachtportrait: Beethovens Wellington Sea. Die Aufnahmen
waren mit echten Kanonen. Das war die lukrativste Komposition, die Beethoven je geschrieben hat, ein knalliges
Werk. Eine Möglichkeit, Schlacht vermittelt zu bekommen, sind auch Schlachtengemälde (b). Panoramagemälde
sind nur erfassbar durch die Bewegung des Betrachters. Bei Rundgemälden muss man auf und abgehen, um alle
Details zu erfassen, die waren schon zu Napoleons Zeit in Mode. Eine monumentale Sache: das Ziel, ein
Nachempfinden zu erleichtern. Das bekannteste Panoramagemälde ist die Schlacht von Moskau (1812), von dem
heute nur noch eine Skizze erhalten ist (110mx12m). Eine dritte Möglichkeit, Schlachten zu veranschaulichen, ist das
Diorama (Guckkasten, c), es wird zu den Jahrmarktsattraktionen gezählt. Das ist ein entgegengesetzter Weg zum
Vorherigen: nicht monumental, sondern alles wird verkleinert. Das Diorama kommt im 1. Akt. (S.11) vor. Chassecoer
und Vitry liefern kritische Kommentare, sie kennen die Wirklichkeit. Sie sind von der medialen Darstellung nicht
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angetan, sie wissen, es kann die Realität nicht veranschaulichen. Eine Respektlosigkeit gegenüber Napoleon: Er wird
mit der Nennung beim vollen Namen (samt Bonaparte) vom Ausrufer verbürgerlicht (Reduktion wie beim Diorama).
4.2.2 Filmische Darstellungsweise
Die Schlacht von Waterloo ist wie ein Film, Parallelen zum Film 1-3. Grabbe schreibt an Kettembeil: er hat sich nichts
gepfiffen, es ist Kopftheater, das sich wohl oder übel auch im Kopf des Lesers abspielen muss. Er kümmert sich nicht
um die theaterpraktische Realisierung, ein Hinweis auf seine Maßlosigkeit. „Das jetzige Theater taugt nichts, meines
ist Welt.“
Es ist eine Totalität zu zeigen, was das Schlachtgetümmel betrifft. Die Realisierbarkeit ist nur eine Nebensache. In
der Praxis ist das erst im Film auszulösen. Spezialeffekte, die im Drama gefordert werden (ungeheure Flammen
fliegen in die Luft - Theater würde abbrennen?) brechen mit dem klassischen Verständnis des Geschichtsdramas.
Gewalt wird unzensiert auf die Bühne gebracht, es ist ein ungekannter Realismus. Wie macht Grabbe das? Er gibt
beste (1) Regieanweisungen! Sie sprengen die Grenzen des Machbaren ins Absurde! Von den Surrealisten wurde er
als einer von ihren anerkannt. Die Regieanweisungen sind übertrieben. Es heißt „zahllose Reiterscharen“, das ist
grotesk: Schreckliches vermischt sich mit Lächerlichem. Eine Kanonenkugel reißt Ephraim den Kopf ab, wie ist das
auf der Bühne darstellbar?
Die Regieanweisungen sind noch unerfüllbar! Innovatorisch kommt etwas für den Bühnenraum hinzu, das Geschehen
muss trotzdem irgendwie sichtbar sein.
Bis dato gab es die Methode der Teichoskopie: auf der Mauer sitzen zwei Männer und beschreiben, was dahinter
passiert, oder ein Bote erzählt. Die Episierung, das Erzählen ersetzt das Sehen. Bei Grabbe ist das ganz anders,
alles soll auf die Bühne. Man sieht die Schlacht in allen Facetten (im Diorama hat sich nichts bewegt). Es ist Theater
für alle Sinne! Der Schlachtenlärm fürs Ohr, zum Riechen der Pulverdampf. 60 schwere Geschütze geben Feuer.
Physisch ist das für das Publikum schwer zu ertragen, es wird in die Schlacht hineingezogen ohne Rücksicht auf die
Belastbarkeit. Die Regieanweisungen unmöglich zu realisieren, es geht ins Filmische.
Innovativ behandelt wird bei Grabbe auch der (2) Ort. Ein schneller Szenenwechsel wurde betrieben (Vorbild
Shakespeare). Shakespeares Bühne hat kein Bühnenbild gekannt, Vorstellungskraft war wichtig. Bei Grabbe wogt die
Schlacht auf und ab, unterschiedliche Szenen sind in einer einzelnen Szene zusammengedrängt. Der Ort wandert vor
Augen des Publikums auf und ab. Simultane Ereignisse sind sich vorzustellen.
(3) Der Höhepunkt ist die Schlacht: Schicksal Napoleons und Europas entscheidet sich, das ist ein Strukturmerkmal
des Films. Der Film zeiht den Showdown an den Schluss, hier: Schlachtspektakel als letzte entscheidende Wende,
als Schicksalswende. Es gibt eine Aufgabe des Heldentums (Napoleon ist am Ende nicht mehr der große Held).
5 Heldentum und historische Größe
5.1 Napoleons Nachleben im Deutschland der Restaurationszeit
Napoleon ist eine Ausnahmegestalt, nur auf welcher Seite? Er ist eine Figur, die in den biedermeierlich regulierten
Alltag wie ein Fremdkörper hineinragt. Ähnlich wie König Ottokar bei Grillparzer. Das Bild des glorreichen Habsburger
kritisiert die weniger glorreichen Habsburger der Gegenwart. Grabbe markiert seine Unzufriedenheit mit der
eigenen Gegenwart. Er malt eine visionäre Visualisierung: Napoleon als Visionär, zur Zeit der Niederschrift ist es
schon passiert! Napoleon im Stück: „Weltgeist hinter den Wogen der Revolution… welche nach meinem Austritt
zurückbleiben.“
Die deutsche Öffentlichkeit sieht in Napoleon eine andere Figur als noch zu seinen Lebzeiten. Nach seinem Tod wird
er zum Mythos erklärt (Heine). Napoleon wird zur Kontrastfigur (Projektionsfläche für Hoffnungen). Er ist die
Schlüsselfigur des Nationalismus. Napoleon hat unfreiwillig dafür Pate gestanden. Grabbe kommentiert die
zwiespältige Haltung im Drama. Resultat: er ist ein irisierender Charakter, der nicht leicht zu fassen ist. Der überlegen
ist, aber Distanz erweckt (kaltblütiger Tyrann), der mit Macht zu kalkulieren versteht.
5.2 Rhetorik der Macht
Napoleon beherrscht Lakonismus und rhetorisches Pathos. Wenn er spricht, spricht er von sich selbst. Napoleon
ist Gegenstand der Selbstbespiegelung. Napoleon macht sich selbst zum Gegenstand: wieder ein Hinweis auf
Maßlosigkeit. Beispielsweise die Rede ans Volk (S. 61): man hört ihn nur reden. Es ist es nicht wert, was er redet.
Der König hat nur die Sprache der Ohnmacht! Das ist es nicht wert, zu überliefern. Er ist mit der mythologischen
Figur des Prometheus verbunden, wenn man die Herrscherikonografie Napoleons betrachtet. Auf Elba empfindet er
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VO NdL: Drama und Geschichte
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sich als Prometheus: er ist das Opfer des Mittelmaßes. 4. Akt: „Hier hingeschmiedet ein anderer Prometheus, den
Geier im Herzen… von der Überzahl der Schwachen und Elenden.“ Das ist eine unausgesprochene Ironie: das
Schicksal wird sich auf St. Helena wiederholen, häufig gibt es eine Doppeldeutigkeit der Aussagen bei Grabbe! Das
Publikum weiß, es ist informiert über die Geschichtsabläufe. Wie Prometheus als Schöpfer des Menschen aus dem
Nichts, hat auch Napoleon seine eigene Karriere geschaffen. „Ich bin ich“, die einzige Ideologie, für die er eintritt, ist er
selbst.
Lakonismus (Knappheit): entspricht dem Tatmenschen (wer wenig redet, tut viel). Napoleon ist zum schnellen
Handeln gezwungen, er muss es schnell tun. Er spricht knapp, erteilt Befehle, ihn zeichnet eine Abscheu gegen
Unpräzises, entlässt den Kammerherrn, „ein stotternder Zweideutler“. Rhetorik der Machthabenden bleibt konstant. Es
ist eine ungebrochene Aktualität, Schrott sieht eine Verbindung zur heutigen Zeit: Wenn Grabbes Napoleon spricht,
hört man Bush.
5.3 Napoleons Scheitern
5.3.1 Maßlosigkeit des Weltbezwingers
Napoleons Scheitern resultiert aus seiner Maßlosigkeit des Weltbezwingens, er zerbricht an der Schlacht. Am
Schluss hat er sich emporgeschwungen an die Spitze des Staates, dann fällt er endgültig. Entscheidungen in der
Mikrostruktur verändern das Schicksal des großen Individuums. Die Geschichte treibt ihn in eine andere Richtung.
Stefan Zweig schreibt in der Zwischenkriegszeit die „Weltminute von Waterloo“. Nicht das Genie treibt es an, sondern
seine Entschlusslosigkeit. Dabei spielt Grouchy eine Rolle, aber Napoleon verwirkt Napoleons Chance auf Sieg.
Grouchy wird als Zünglein an der Waage dargestellt. Es gibt eine Einsicht in die Geschichte: einer verhält sich
anders/genauso wie geplant. Befehle: Geschichte läuft in anderen Bahnen.
Napoleon ist dramenfähig, weil seine Karriere auch einem Dramenaufbau ähnelt. Gustav Freitag hat das porträtiert,
siehe Dramenaufbau am Handout: Eine Peripetie: Krönung, langsamer Abstieg, retardierendes Element (Rückkehr
von Elba).
5.3.2 Intention Grabbes
Grabbe möchte ein Drama der Entheroisierung zeigen, will Napoleon dekonstruieren! Anhand der Maßlosigkeit
soll sein Fall katastrophal sein, Aussage: nicht er, sondern seine Geschichte ist groß. Es sind die Umstände!
Das historische Objekt Napoleon kann Geschichte bewegen, aber nicht steuern (wie Besucher des
Panoramagemäldes). In welche Richtung bewegt sie sich? (S.36:) „Nicht Völker, Kriege haben mich bezwungen,
sondern Geschichte wars.“ Es gibt ein offenes Ende! Auch die Zukunft Napoleons.
Das ist eine Unsicherheit, bedeutet es doch einen offenen Schluss auch für die Geschichte. Der Macht des Einzelnen
wird Bedeutung abgesprochen. Nicht der Einzelne ist es, es ist Geschichte selbst.
VO 7/13 - 8. MAI 2012
DANTONS TOD
GEORG BÜCHNER
1835
1 Historischer Hintergrund
1.1 Literarisches und geschichtliches Verstehen
Es handelt sich um einen historisch schwierigen Hintergrund. Heute haben wir eine große Modernität Büchners, ihn
zeichnen große rhetorische Fähigkeiten aus. Danton ist ein Anti-Held. Die Ziele der frz. Revolution von 1789 sind
andere Ziele als die der Revolution von 1792. Es gibt unterschiedliche Zugänge zu Fragen, die Ziele des Volkes sind
oft andere als die der Politiker.
1.2 Akteure der frz. Revolution
Kräfte der Mäßigung
Protagonisten sind Danton, Robespierre und Saint Juste. Die Revolutionäre haben rhetorische Fähigkeiten, sie sind
öffentliche Reden gewohnt. Danton und Camille gehören der Gruppe der Mäßigung an, Danton ist Jurist aus der
Champagne. Er hatte eine pockennarbige Haut (wegen eines Unfalls war sein Gesicht entstellt). 1791 tritt er wegen
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VO NdL: Drama und Geschichte
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seiner Rhetorik hervor. Es kommt zur Kundgebung am Maisfeld: die Absetzung des Königs wird gefordert (Danton
kann sich nur schwer retten). Ein Jahr später wird Danton als großer Rhetoriker gefeiert, König Ludwig XVI wird
hingerichtet.
Befürworter des Terrors
1792 kam es zu den Septembermorden (1100-1400 Royalisten und Geistliche wurden umgebracht). Danton wird
Justizminister, damit zeigt er jedem an, dass die Revolution unumkehrbar ist. Es ist eine moralische Tragiktheorie:
Schicksal, die Hinrichtung Dantons wäre die Folge. Danton ist zunächst Wegbereiter der brutalen Revolution. Es
gibt Ausgleichsbemühungen mit den Girondisten (die Gemäßigten). Danton und seine Anhänger werden durch
Robespierre verhaftet. Der Tod Dantons ist mit dem 5.4.1794 datiert, er wird mit 35 guillotiniert.
Büchner vermeidet es, eine Gruppe der Guten bzw. eine Gruppe der Bösen zu formieren. Danton zeichnet sich durch
eine Sinnenfreude und Entschlusslosigkeit aus, der Titelheld wird in einer Gesellschaft von Spielern und Huren
gezeigt. Das wird später vom Volk als unberechtigter Luxus gebrandmarkt. Danton ist ein passiver Charakter, er
ergibt sich seinem Schicksal. Im 2. Akt widerruft er seine Absicht zur Flucht. Camille besuchte dasselbe College wie
Robespierre, danach wurden sie entfremdet. Camille ist ein radikaler, der die Demokratie bevorzugt. Beim Sturm der
Bastille wird er gemeinsam mit Danton zum Cordelier (Strickträger), mit Danton gehört er zur Partei der Montagnards.
In der Zeitschrift „Le vieux cordelier“ wird der Despotismus verteidigt.
1793/94 zeigt sich Camilles politischer Idealismus durch die Hebertisten, die eine weitere Radikalisierung einfordern.
Damit kann Robespierre sich nicht anfreunden, also weder mit den Gemäßigten noch mit den Ultraradikalen
(Hebertisten). Büchner zeichnet Camille als positive Figur, er ist die hellste Figur überhaupt. Camille und Danton
sind die gemäßigten Kräfte. Robespierre und Saint Juste hingegen sind radikal, sie sind das Gegengewicht zum
Monarchen. Die Generalstände sollen ein Gegengewicht zur Macht des Königs bilden. Robespierre ist ein Vertreter
des 3. Standes, sein republikanischer Fundamentalismus zeichnet ihn aus. Es gibt eine Bildung hin zur
konstitutionellen Monarchie (im Gegensatz zur absolutistischen Monarchie). Letztlich ist Robespierre gegen die
Monarchie. Die Schreckensherrschaft ist eine Diktatur der Tugend. Robespierres Beiname lautet „der
Unbestechliche“, er war für Säuberungen seiner politischen Gegner. Danton ist die Gegenfigur zu Robespierre (der
ein leidenschaftlicher Fanatiker ist). Danton sagt über Robespierre, dieser wäre „empörend rechtschaffen“.
Robespierre ist einsam (das ist der Preis für seine Sendung als „Blutmessias“) und eine rein öffentliche Figur. Bei ihm
gibt es eine Absenz von Liebe, Trauer etc.
Saint Juste ist die Begleitfigur von Robespierre. Er ist deutlich jünger als die anderen und ein Machtmensch. Er will
sich selbst profilieren und ist zunächst ein Befürworter von lyrischen Gedichten, die er schreibt, über die Freuden von
Vergewaltigung von Nonnen, er ist also ein Psychopath. Er träumt von einer Erziehung der Kinder durch den Staat.
1793 wird er Mitglied des Wohlfahrtsausschusses. Diese wird zu einer Diktatur, die auch versucht, die Religion
abzuschaffen. Saint Juste ist der kalte Todesengel der Revolution. Er legt die Grundsätze der Jakobiner dar: Terror.
Für ihn ist die Terrorherrschaft durch rationale Logik gerechtfertigt. Er zeigt keine Spur von Moral. Bei Robespierre ist
wenigstens ein Funken Moral erkennbar.
1.3 Geschichte als Material
Die historische Treue wird hochgehalten. „Das Drama ist wie ein geschichtliches Gemälde, das seinem Original
gleichen muss“. Büchner will Realismus und Objektivität. Er hat einen Drang zum Panorama-Artigen. Das Sexuelle
wird beim Namen genannt. Der Erstdruck erschien 1835 und laut Büchner ging dem eine intensive Quellenarbeit
voraus. Büchner montiert Zitate in großem Umfang mit ein, er nimmt vor allem Reden und montiert diese in seine
Werke ein. Daraus ergibt sich ein Wirklichkeitsanspruch, auch aus dem direkten Einbau von Zitaten. Durch diese
Montagetechnik ist Büchner vielen seiner Zeitgenossen voraus. Der Dichter verfügt relativ frei über das Material, er ist
also doch auch Arrangeur. Es findet sich eine Feinheit in Bezug auf die Chronologie der Redepassagen, das
Nachgestalten betreibt er also nicht bruchlos.
2 Inhalt
Das Geschehen umfasst 13 Tage. 1794 kommt es zur Hinrichtung der Hebertisten. Am 4.5.1794 ist die Hinrichtung
von Danton. Von Dantons Seite gibt es keine Gegenhandlung, er wehrt sich nicht gegen Robespierre.
1. Akt: Robespierre gegen Danton
2. Akt: Freunde drängen Danton zum Handeln
3. Akt: Danton, spät aber doch, bringt durch seine Rede die Masse auf seine Seite. Trotzdem zeigt sich der
Wankelmut des Volkes, sie sind letztlich wieder gegen ihn.
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VO NdL: Drama und Geschichte
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4. Akt: Hinrichtung Dantons. Der Schwerpunkt der Männer liegt auf ihren Frauen. Lucile, die den Tod ihres Mannes
nicht fassen kann, geht auf den Revolutionsplatz und lässt den König hochloben, darauf folgt auch ihre Hinrichtung.
Julie vergiftet sich.
3 Büchner und die Revolution
Das Volk wurde unterdrückt, es gab Spitzelwesen und Zensur. Manche Gegenden Deutschlands (Hessen) erinnern
eher an Dritte-Welt-Länder.
Büchner wurde in Goddelau geboren, das ist eine extrem rückständige Gegend Deutschlands zu der Zeit, es gab
Pauperismus (Massenverarmung). Büchner war sozial engagiert, stammt aus einer Medizinerfamilie, die wesentlich
zu Deutschlands Geschichte beigetragen haben. Ludwig Büchner war Philosoph, seine Schwester Luise
Frauenrechtlerin, der andere Bruder Chemiker. Büchners Flugschrift aus dem Jahr 1834 ist das erste Dokument für
sein soziales Engagement. „Friede den Hütten, Krieg den Palästen“, das ist von ihm. Am Steckbrief ist Büchners
Name zum ersten Mal schriftlich gedruckt. Büchner stirbt mit 24 Jahren an Typhus. 1834/35 wird als Entstehungszeit
des Dramas angegeben. Büchner beschäftigt sich intensiv mit der frz. Revolution. 1879 erscheint die erste
unzensierte Ausgabe. Erst 1902 findet das Stück seinen Weg auf die Bühne.
Dantons Tod ist ein Stück, das zwischen zwei Revolutionen geschrieben wurde (1830 & 1848/49). Wie sieht
Büchner die Revolution? Der Text wurde auf unterschiedliche Art ideologisiert. Man kann es gleichermaßen als
progressives als auch als konservatives Stück lesen. Progressiv legt nahe, weil es positiv auf die Revolution
reagiert und auch die Agitation. Aber es ist auch ein konservatives Warnstück. Der Autor möchte seine negativen
Erfahrungen mit der Revolution verarbeiten. „Die Revolution ist wie Saturn. Sie frisst ihre eigenen Kinder.“ Die
Nationalsozialisten haben das Stück als Wende Büchners ins Apolitische gesehen. Die Darstellung der Masse ist
progressiv, sie ist Katalysator für die Revolution! Konservativ ist aber wieder, dass die sozialen Probleme des Volkes
nicht gelöst werden. Das Drama liefert keine eindeutige Auffassung der Revolution!!
Büchner seziert die Revolution ganz kalt und neutral. Es geht ihm darum, Abhängigkeiten individueller
Entscheidungsträger zu zeigen. Die Revolution ist unkontrollierbar.
4 Büchner und die Geschichte
Einerseits zeichnet er sich durch einen Fatalismus, andererseits aber auch durch einen Nihilismus aus.
Fatalismus
Es bedeutet, man ergibt sich seinem Schicksal. Trotz allem hat der Mensch keinen Einfluss auf die Geschichte. Der
Untergang des Helden ist vorgeprägt, und der Held durch eine Unfähigkeit zum Handeln. „Wir haben nicht die
Revolution, die Revolution hat uns gemacht.“ Fatalismus steht für eine Austauschbarkeit des Subjekts, am Handout
der Fatalismusbrief sagt, dass das Individuum dem Schicksal unterworfen ist. Es gibt demnach keinen freien Willen,
und das ist das, was den Untergang Dantons bewirkt: der Determinismus.
Nihilismus
„Das Nichts wird bald mein Asyl sein“, Danton hat Todessehnsucht. Es zeugt auch von der demonstrativen
Gelassenheit Dantons. Das Aufgehen im Vergessen wünscht sich Danton, die Gegensätze verschwimmen.
Dantons Tod ist ein Drama der Verzweiflung. Nihilismus führt zum Atheismus, es gibt philosophische Diskussionen.
Religion als Trostmittel im Kerker wird nicht in Erwägung gezogen. Nicht nur der König, auch Gott wird gestürzt. Welt
ohne Gott ist eine Welt ohne Sinn. Dieses Werk vermittelt ein sehr trostloses Weltbild.
VO 8/13 - 15. MAI 2012
AGNES BERNAUER
FRIEDRICH HEBBEL
1852
Auch dieses Stück ist aus dem Kanon weitgehend verschwunden.
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VO NdL: Drama und Geschichte
Martin Neubauer
1 Hebbel und die Stofftradition
Der Agnes-Bernauer-Stoff ist für unterschiedliche Gattungen aufbereitet worden, auch in volkstümlichen Texten
(Balladen), in einem alten Bühnenwerk von Orff, einem Unterhaltungsroman von Manfred Böckel und in einem Film
(B. Bardot in einem Episodenfilm), ein ICE-Zug, auch eine Torte trägt ihren Namen.
1.1 Historische Grundlagen
1.1.1 Protagonisten
Historische Agnes Bernauer: anonymes Portrait am Handout (18. Jh., nach einer Vorlage aus dem 16. Jh., der Stoff
wird im 15. Jh. angesiedelt). Sie ist um 1400 in Augsburg geboren, es gibt eine Quellenarmut! Nach ihrer Hinrichtung
hat man die Dokumente vernichtet.
Hebbelsche Agnes Bernauer: Baderstochter (Bader: Unternehmer mit Badehaus - betrieben fließende Grenzen zum
Bordell, auch medizinische Dienstleistungen: Aderlass und Körperpflege), vielleicht war sie aber auch nur Magd dort
oder Tochter des Knechts.
Albrecht: war bayrischer Herzog Albrecht der Dritte, Beiname: Liebhaber der zarten Frauen, nach seinem Tod dann
der Fromme. In Augsburg sucht er Ablenkung bei einem Turnier (Grund: Elisabeth, seine vorgesehene Braut war
schon eine andere Ehe eingegangen). Dort lernt er Agnes kennen, 1433 schließen sie die Ehe. Aber eine
Badehausbekanntschaft? Eine flüchtige Bekanntschaft zu pflegen mit Damen aus Stand darunter, widerspricht dem
Adel nicht, aber dass gleich geheiratet wird, schon. Agnes Bernauer tritt selbstbewusst auf, sie ist eine
Standesfremde, die sich in den Augen des Hofes in ein Nest setzt, das ihr nicht gebührt.
Herzog Ernst: Vater, sein einziger Sohn ist Albrecht, seine analytisch geweitete Augen sehen: sein Sohn verheiratet
sich nicht standesgemäß. Er sieht sich gezwungen, einzugreifen. Ansonsten würde Bayern in 4 Herzogtümer
zersplittern. Wohin soll das führen? Die Bernauerin muss man loswerden, damit der Staat gerettet wird.
1.1.2 Hinrichtung der Bernauerin
In Landshut geht Albrecht jagen, das Unheil beginnt mit der Jagd. Die Liebenden werden getrennt. Agnes Bernauer
wurde 1435 zum Tode verurteilt, man weiß nichts über die Prozessführung. Als Vorwand gilt: sie hat als böse Frau
das Leben ihres Gatten vergiftet, sie soll versucht haben, die Familie zu beseitigen. Im Film gibt es ein Gottesurteil:
sie wird in Donau geworfen, aber die Fesseln lösen sich, so eine Überlieferung. Sie wurde im Sack ertränkt – so eine
andere Überlieferung. Noch am selben Tag wurde sie beigesetzt.
Am Straubinger-Petersfriedhof liegt das Grab der Agnes Bernauer. Der toten gegenüber zeigt sich Herzog Ernst
respektabel, er stiftet ihr eine ewige Messe.
1.2 Geschichtliche Treue bei Hebbel
Der Stoff, aus dem Hebbels Drama geschmiedet ist, ist durch künstlerische Werke gegangen, auch durch die
Augsburger Lokalhistorie. Hebbel wollte den Stoff geschichtsgetreuer als seine Vorgänger behandeln!
Der bayrische König Maximilian ist ein Nachkomme dieser Figuren. Hebbel stellt die Arbeit streng historisch dar, er
habe Geschichtsangaben und Quellen verwendet (politisch). Er zeichnet sich durch geschichtliche Treue aus, darin
grenzt sich Hebbel ab vom Drama, das den Stoff vor ihm behandelt hat (Josef August Graf von Törring). Auch Törring
ist ein Nachkomme einer Gestalt der Bernauer-Geschichte (ein Nachkomme einer historischen Gestalt, die auch
Hebbel verwendet). Törring kommt im Törring-Stück sehr gut weg. Aus dem 18. Jh. gemäß stellt sich die Frage nach
dem guten Herrscher. In der Literatur des 18. Jh. ist das ein zentrales Diskursfeld. Im Gefolge von Goethes Götz
wachsen typische Ritterdramen (wie Gras aus der Erde), es ist die beliebteste Gestaltung bis dato.
2 Inhalt
Die Geschichte enthält drei wesentliche Figuren: Agnes, Albrecht und Herzog Ernst. Agnes ist eine Naturschönheit,
sie besitzt erotische Ausstrahlung, aber sie nutzt sie nicht aus, ist ihr nicht bewusst. Seelenqualen löst sie unschuldig
aus (bei Theobald, er opfert sein Leben für sie), löst auch Eifersucht aus (Barbara). Das tut sie nicht absichtlich, ihr
verfallen eben alle. Albrecht hat Liebeskummer zu tragen. Er ist zur Ehe bereit, nachdem er Agnes gesehen hat, aber
der Widerstand bei seinen adeligen Freunden würde eine Staatskrise heraufbeschwören. Jemand verliebt sich in eine
unstandesgemäße Frau, das hat dann Auswirkungen auf die politische Lage, den ganzen Staat. Franz Grillparzers
Die Jüdin von Toledo hat eine ähnliche Konstellation, ein ähnliches Thema. Mord begegnet uns dort als einzige
Möglichkeit, um den Staat wieder in ordentliche Bahnen zu lenken. Privates versus öffentliches Leben treten bei ihm
und Hebbel gleichermaßen auf.
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Besonders seine Taten sind moralisch anrüchig, Gegenspieler der Liebenden ist Ernst. Seine Person wird erst später
eingeführt, wenn ihm das Gerücht zu Ohren kommt. Es kommt zum Konflikt, der Vater hat eine Welfin als Plan B
(Heirat), Albrecht bekennt sich aber zu Agnes. Die Teilnahme wird ihm verwehrt, weil er mit bürgerlichen Mädchen
zusammenwohnt, er wird enterbt, zum Nachfolger Ernsts macht man Adolf, den schwächlichen Neffen. Der 3. Akt
endet in Getümmel. Eine Scheinlösung wird gefunden: der schwächliche Adolf rettet den bayrischen Staat über die
Runden, Albrecht und Agnes können zusammen bleiben. Aber Adolf stirbt, Plan B muss in Kraft treten: die
Beseitigung von Agnes Bernauer. Ein gerichtliches Gutachten wird erstellt, man entführt sie in Albrechts Abwesenheit,
man fordert sie auf, auf ihren Gatten zu verzichten, aber sie lehnt ab. Sie wird ertränkt. Vater und Sohn begegnen
einander im Krieg, ihre Begegnung kann nur noch durch den Eingriff höherer Instanzen kontrolliert werden. Der Vater
dankt ab und überträgt seinem Sohn die Verantwortung, geht ins Kloster. Der Verzicht auf die Macht ist von
taktischem Denken geprägt. Er will die tote Agnes begraben.
3 Dramenstoff und Zeitenwende
Geschichte wird für Dramatik oft erst brauchbar, wenn sie angesiedelt wird zwischen zwei Epochen. Drei
verschiedene Lesarten sind möglich. Aber immer gilt der Boden der Geschichte als Grundthese. Hebbel hat seine
eigene Zeit (Mitte des 19. Jh.) als Umbruchszeit empfunden, das spielt eine Rolle.
Als er daran arbeitet, wirkt noch Revolution von 1848 nach, die Erfahrung einer Staatskrise, die mit ein Grund ist,
warum Hebbel sich dem Stoff zuwendet. Revolution bedeutet auch Reaktion! Das Pendel schwingt aus, Österreich
ist ein autoritärer Einheitsstaat (Neoautoritärer Totalismus). Es gibt Revolutionäre und Reaktionäre. Weltenwenden,
Zeitenwenden hat Hebbel sich ausgesucht. Eine welthistorische Dialektik kommt öfters vor: Hebbels 1840
uraufgeführte Judith (Bibel) wurde von Nestroy parodiert (Judith und Holofernes), (Hebbel: Genius der Gemeinsheit?),
es gibt darin ein Aufeinandertreffen von Monotheisten und Polytheisten (Holofernes), auch das Hebbels Werk
Herodes und Mariamne (Ehetragöde, 1849 uraufgeführt) vor dem Zerbrechen des zweiten Triumvirats. 1853/54 hat
Hebbel Gyges und sein Ring verfasst, welches in der sagenhaften Antike angesiedelt ist, für Hebbel gehen Antike und
moderne Atmosphäre ineinander über.
Die Tragödienformel bei Hebbel: er ist sehr auf Stoffe aus Wendezeiten und überdurchschnittlichen Zeiten aus,
Stoffe, die das Maß überschreiten und dadurch in Konflikt mit der Welt geraten. Sie sind maßlos, übersteigert,
übertrieben und werden somit zum Ziel Nestroyschen Stoffs! Das Ablösen alter Ordnungssysteme gilt als
Grundierung auch bei Agnes Bernauer.
Die Augsburger Gesellschaft wird vorgestellt, der Bürgermeister personifiziert das alte Standesdenken, er ist alter
Stadtadel, steht für das Patriarchat. 1368 musste Augsburg den Stadtrat nach unten öffnen und für Zünfte zugängig
machen. Für den Bürgermeister war das der Untergang. Er bedient sich der Metaphorik der Unordnung (Perlen und
Erbsen in einem Sack). Im Beruf des Baders lässt sich die Dynamik auch nachvollziehen. Vorher war das noch eine
unehrliche Profession. Die Rechte waren ihnen vorbehalten, aber sie durften nicht nach Lust und Laune heiraten, wen
sie wollten. Sie durften nicht in andere gesellschaftliche Schichten wechseln. Das war soziale Abgrenzung. Das
geschieht im gegenteiligen Maße mit Agnes Bernauer. Sie fühlt sich nicht gebunden, besitzt Kraft durch Schönheit,
führt zu Exogamie (Heirat außerhalb der eigenen sozialen Gruppe). Automatisch folgt der soziale Aufstieg. Die
Bewegung nach unten vollzieht sich auch: Albrecht zeigt ich bürgerlich, er hat kein adliges Gehabe. Beim Tanzfest
unterstützt er die Zünfte, Panzer, Hemd und Schwert streift er ab. Seine Handlung zeigt: er streift den Herzog, den
Ritter ab. Er geht auf Distanz zum eigenen Stand, in einer durchlässiger gewordenen Gesellschaft. Der Wandel
vollzieht sich detailfreudig. Nachzulesen ist dies bei Monika Ritzer: Zeihen des Wandeln in der Wissenschaft: die
Heilkunst löst sich von der Kirche, aber der alte Aberglaube ist immer noch präsent, auch in der Kunst sieht man den
Wandel, anhand von Kunstgesprächen. Der konservative Herzog ist gegen Neuerungen.
4 Lesarten
4.1 Dramentheoretische Lesart
Hebbel schreibt im Tagebuch am Heiligabend: „Nie habe ich so genau erkannt“: es gibt zwei Brennpunkte: das
Individuum gegen den Staat. Man kann das Drama als Liebesdrama (Individuum) lesen, man kann es auch als
Staatsdrama lesen (weniger Neigung, mehr Pflicht – Schiller). Die Literaturkritik bekrittelt das unorganische
Zusammenfügen, denn es beginnt als Liebesdrama und endet als Staatsdrama. Schillers Maria Stuart geht den
anderen Weg.
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Es ist eine Tragödientheorie mit 4 Schwerpunkten: Antike und moderne Tragödie, Schuld der Protagonisten,
Pantragismus und das bürgerliche Trauerspiel.
4.1.1 Antike und moderne Tragödie
Im Brief vom 3. März an seine Frau (s. Handout) schreibt Hebbel nicht nur über historische Treue, auch über die
antike Tragödie. Von einer modernen Antigone ist die Rede. Der Antigone-Stoff wurde von Sophokles gestaltet.
König Kreon als neuer König von Theben verbietet Polyneikes die Bestattung, die Schwester des Gefallenen
widersetzt sich. Sie erfüllt das Gebot der Menschlichkeit. Kreon verlangt die Sühne durch den Tod, er lässt sie
einmauern, aber sie erhängt sich zuvor selbst. Parallelen: der tragische Konflikt ist ähnlich, das Private und das
Öffentliche sind miteinander verflochten. Es gibt Scheinsieger und Besiegte, auch bei Agnes Bernauer. König Kreon
ist der Sieger, meint man (weil einziger Überlebender). Doch es gibt einen Wermutstropfen, es ist ein zweifelhafter
Sieg. Antigone geht physisch unter, ist aber die moralische Siegerin. Auch bei Hebbel ist unklar: Wer ist der Sieger?
Die Keimzelle des tragisch Gezeichneten: Agnes handelt wie die Protagonisten aus Märtyrerdramen, sie wird von
außen bedroht. Ihre Prinzipientreue wird bis in den Tod verteidigt. Ernst hat juristische Mittel, kann sich somit
durchsetzen. Recht ist eine sehr dubiose Qualität! Agnes Bernauer ist eine Unschuldige und trotzdem muss sie dran
glauben. Ernst weiß, dass er moralisch fragwürdig handelt, er legt sein Amt am Ende nieder. Wer ist der Sieger?
Genauso schwierig wie bei Kreon und Antigone.
4.1.2 Schuld der Protagonisten
Wie schuldig sind die Personen? Zeitgenössische Literatur: Otto Ludwig (poetischer Realist), Dachdeckerroman
zwischen Himmel und Erde. Auch er hat sich über diesen Stoff hergemacht, hat am Ende (nach 3 Jahrzehnten) nur
ein Fragment hinterlassen. Er zeigt Agnes ganz anders, sie ist keine Schönheit, die sich dagegen nicht wehren kann,
sondern eine Hexe mit magischem Spiegel. Sie ist sehr eindeutig negativ besetzt, bei Hebbel ist sie anders konzipiert,
dort ist sie eine Idealfigur. Sie ist aufgrund ihrer ideale Schönheit ohne ihr Zutun zum Scheitern verurteilt. Ideal trifft
Welt, Ideal geht unter. Die Existenzschuld erscheint als tragisches Prinzip im Drama: die Figur ist unschuldig.
Rechnungen für alte Schulden werden beglichen: Ottokar, weil er seine Frau verstoßen hat, worin liegt aber die
Schuld der Agnes Bernauer? Kann die Liebe Sünde sein? Unschuld kann auch zum tragischen Untergang führen,
wenn man die Argumentation Preisings bedenkt: „Die Ordnung der Welt gestört… einen Zustand herbeigeführt, wo
nicht mehr nach Schuld und Unschuld gefragt wird sondern nur mehr kausale Dinge maßgeblich sind“!! Schönheit
entzündet und das ohne Hinzutreten des Willens!! Eine Faszination: es ist eine außergewöhnliche historische
Kausalität, in welcher keine Revolutionen und keine Männer die Geschichte verändern. Den Staat ins Wanken bringt
die Schönheit einer Frau. Eine vererbliche Attraktivität (Femme Fatal), das würde an der Intention aber vorbeigehen.
Herzog Ernst ist ein Tyrann, er ist der Gegenspieler der Titelgestalt, Hebbel konturiert ihn dergestalt,
Sympathielenkung zu vermeiden. Agnes ist der Engel von Augsburg, Ernst ist aber kein Teufel! Er handelt
nachvollziehbar, seine Motivation ist schlüssig. Er zeigt keine Habgier, keine negativen Triebkräfte, er steht auf dem
Boden des Rechts. Das ist der Faktor, aus dem das Stück heute keinen Anklang mehr findet. Ernst steht am Boden
irdischen Rechts, er hat wenig Handlungsspielraum. Die Einheit des Staats steht auf dem Spiel. Rudolf von Habsburg
wird als großes Vorbild gesehen, es gibt ein positives Habsburgerbild (Grillparzer). Ernst steht im Schatten. Ihm
stehen zwei Optionen zur Wahl: der Staat zu Grunde oder die Schwiegertochter – zweites als geringeres Übel. (Zitat
„Unglück und Glück, Agnes Bernauer, fahr hin“) Abgestützt wird sein Verhalten durch die Bibel: Es ist besser, es stirbt
ein einziger Mensch als ein ganzes Volk. Die Verantwortung liegt beim Staat, anders ist es vorher in den
Behandlungen. Die öffentliche Dimension ist es, ein politischer Notstandsmord. Es gibt Opfer einer privaten Intrige
aus Missgunst (Wurm bei Kabale und Liebe), im Intriganten (Blitzableiter, entlastet Entscheidungsträger moralisch).
Die sind dann das Hassziel des Publikums.
4.1.3 Pantragismus
D.h. alles ist tragisch, es herrscht eine lebensimmanente Tragik. Dies ist der Kern auch bei Hebbel.
Bein einem Rückblick auf die Geschichte, denn ohne Geschichte geht’s nicht. Sie ist die Instanz zum Tragischen
schlechthin. Informativ ist theoretische Schrift von Hebbel: Mein Wort über das Drama. Für Dichter ist die Geschichte
das Ventil zur Verkörperung für Ideen, er wehrt sich dagegen um der Geschichte willen, er sieht Geschichte als
Mittel, um etwas darzustellen.
Auf der einen Seite steht der Mensch, auf der anderen die Geschichte. Der Mensch sorgt mit seinem Willen für die
historische Dynamik (deswegen ein Ansiedeln an Wendezeiten), aber die Geschichte will das nicht, sie stellt sich ihr
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entgegen, sie duldet keine Herrschaft. Ähnlich wie bei Grabbe ist das philosophische Verständnis bei Büchner. Das
Individuum, das getrieben wird, die Vernichtung des Individuums. Den Punkt kassiert immer die Geschichte, nur sie
kann Siegerin sein. Geschichte agiert jenseits von Gut und Böse (kennt nur Kausales - Ursache und Wirkung), kennt
keine Moral. Frage nach Schuld und Unschuld ist nicht so maßgeblich. Fazit: es gibt keine Möglichkeit zur
Versöhnung, kein Ausgleich für eine Lösung. Ein Tragiker muss seine Figuren vernichten (alter deus), schreibt
Hebbel.
Es gibt eine praktische Realisierung des Pantragismus bei Agnes Bernauer. In der Oper (Herzog Albrecht von Krebs)
von 1833, da wird gemacht, was Hebbel verabscheut (Happy End). Es ist ein biedermeierliches Genusstheater, alle
gehen glücklich nach Hause. Nichts ist mit Tragödie. Hebbel arbeitet im Vergleich überzeugender, bei ihm gibt es
unauflösliche Konflikte. Die überirdische Schönheit ist eine ideale Figur, ein Liebesverrat ist undenkbar. Es ist eine
geschickte Stoffwahl, beiden Parteien wird die Möglichkeit genommen, nachzugeben. Zerbricht an Politik, Herzog
Ernst stemmt sich gegen das Zerbrechen von Bayern. Die alternative Nachfolge ist retardierendes Moment! Aber es
zeigt, dass es keine Ausweichmöglichkeiten für die Figuren gibt, aber es ist der Zug ist auf dem Gleis in die
Katastrophe.
4.1.4 Agnes Bernauer und das bürgerliche Trauerspiel
Das knüpft an die Zeit an (Lessing, Schiller). Das bürgerliche Trauerspiel des 18. Jh. ist eine Vertiefung des
Konfliktes: das Machtkalkül auf der einen Seite, jugendlicher Leichtsinn auf der anderen. Fürstenratgeber fallen
zusammen mit dem Intriganten (bei Schiller und Lessing). Preising bei Hebbel repräsentiert eine Figur, die auf der
positiven Seite (redlicher Mann bei Hofe als Wunschvorstellung) in Dramen des 18. Jh. steht.
Aber Unterschiede ergeben sich vor allem im sozialen Aspekt, der hier zurücktritt (er ist im 18. Jh. maßgeblich). Es
geht mehr um Realpolitik, Philosophie (Individuum und Welt, Unschuld und Schuld). Lessing und Hebbel,
dazwischen liegt ein Menschenalter, die sozialen Gegebenheiten haben sich verändert! Hebbel muss nicht mehr
anschreiben gegen Absolutismus. Die tragische Fallhöhe ist ganz anders konzipiert bei Hebbel (Grabbe: König, den
Weltendenker seiner Zeit schlechthin). Agnes muss, um fallen zu können, zuerst erhöht werden (Trick dahinter!). Es
beginnt mit der Außerordentlichkeit ihres Wesens von Anfang an (Schönheit und innere Werte), dann folgt auch ihr
sozialer Aufstieg.
Auch Art und Weise der Konfliktlösung ist unterschiedlich. Figuren sind Opfer von Kabale, psychischer/physischer
Gewalt. Bei Agnes Bernauer spielt das schon auch eine Rolle, aber Gewalt geschieht im Rahmen der Legalität
(Moral/Unmoral).
4.2 Politische Lesart
4.2.1 Zeitgenössische Rezeption
Otto Ludwig (3 Jahrzehnte), 3 Monate hat Hebbel gebraucht. Am 17. Dez. 1851 kam seine Schrift zu einem
Abschluss, im Tagebuch vermerkt: „zufrieden“. Die Wirkungsgeschichte ist von Kontroversen begleitet. Das
Publikum war nicht so zufrieden wie Hebbel. Der Mehrwert aus dem Stück führte zu Unklarheiten. Die Uraufführung
war eine zeitgenössische Rezeption. Zeitgenössische Rezeption dokumentiert zeitgenössische Prozesse (Revolution
von 48 ist erst 3 - 4 Jahre her), als das Stück in Berlin uraufgeführt wird. Der Bürgerkrieg hängt im Stück in der Luft,
„Bürger und Bauern heran“, da schrillen die Alarmglocken. Das Bild der eruptiven Menge hat das Publikum verstört:
schon wieder eine Revolution- Der konservative Teil war abgeschreckt. Die reaktionäre Botschaft bekam von
fortschrittlicher Seite kein Beifall! Hebbel hat beide verprellt. Wochenschrift betitelte: Das Drama sei ein
Rundumschlag gegen Adel, Fürsten und Bürger. Noch dazu von einem Nicht-Bayern (kann sich nicht hineindenken)!
Hebbel schreibt an seine Gattin, das Publikum habe kein Interesse an Tendenzdramen, alles was den Staat angeht,
ließe es kalt. Es zeigte, dass Gesellschaft und Theaterlandschaft sich von der Politik distanzierten.
4.2.2 Drittes Reich
Im 3. Reich galt es als ein antidemokratisches Drama. Auch von Spielplänen und Schulen ist es verschwunden. Die
Nazis unterstützten seine Botschaft: die Moral wird höheren Interessen untergeordnet, die Staatsautorität behält das
letzte Wort, das gefällt den Braunen. Das große Ganze habe Priorität vor dem Einzelnen. Das ist totalitär. Nach 1945
steckt das Drama in einer Sackgasse der Lesarten. Es transportiert eine fragwürdige Meinung, das Drama vertrete die
Seite der Sieger, ein reaktionäres Denken.
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erstellt von Patrizia Schlesinger
SS 2012
VO NdL: Drama und Geschichte
Martin Neubauer
4.3 Feministische Lesart
Hebbel ist für die Genderforschung sehr ergiebig, er schuf scharf profilierte Frauenfiguren: Judith, Genoveva, Maria
Magdalena, die sogar im Titel erscheinen. Hebbel stellt den Geschlechterkampf dar. Männer erscheinen ihren
weiblichen Pendants gegenüber schwächer. Hebbel war mit einer Burgschauspielerin verheiratet, die Wohlstand in
die Familie gebracht hat. Er schreibt aber unsensibel gegenüber Frauen im Tagebuch: „Die Weiber haben den Zweck,
jung zu sein.“ Es ist ein kausulierter Geschlechterkampf über Staat und Familie. Der Staat ist geschildert als
männlicher Vaterstaat, die Familie als Weibliches (Sphäre des Privaten). Auffassungen von Recht auch: der Staat
hat absolutes Recht, in der Familie gilt das Individual- und Menschenrecht! Hegel schreibt (Phänomenologie des
Geistes) von einem Interessenskonflikt zwischen staatlichen und familiären Interessen (innerer Feind). Das Weibliche
ist der Feind des Staates. Elke Grüns, Andrea Rudolf (Literatur) sehen die Frau als Störfaktor bei der Durchsetzung
staatlicher Interessen. Ernst und seine Widersacherin Agnes verbindet ein unpersönlicher Antagonismus, sie
haben sich nie getroffen, es geht um Staatsräson. Die Inkarnation der Schönheit sichert den Erhalt, die
Weiterentwicklung einer männlichen Staatsordnung, dafür muss Weibliches geopfert werden. Er hat ihr dankgesagt,
sie heiliggesprochen nach ihrem Tod (Grab). Bei historische Stücke vergleichen: die Funktion historischer,
männlicher Leichen: sie markieren Ende eins Wertesystems. Bei Götz geht eine ganze Zeit zu Ende, die Tragik
wird vertieft. Eine weibliche Leiche ist hingegen ein Katalysator, da geht die Welt weiter auf einer anderen Ebene,
sie stirbt, damit die Männerwelt ein Stück weiterkommt. Stereotyp von Hebbel als Dichter der Frau: sie ist
Sympathieträgerin, bewirkt Anteilnahme, die gerechtfertigt ist, aber die Männergesellschaft weiterbringt!
Fazit: Das Historische ist ein maßgeblicher Interpretationsfaktor und auch ein Faktor für das Erzeugen von Tragik.
VO 9/13 - 22. MAI 2012
DIE WEBER
GERHART HAUPTMANN
1892
VO 10/13 – 5. J UNI 2012
MUTTER COURAGE UND IHRE KINDER
BERTOLT BRECHT
1941
Das Werk ist exemplarisch für das Einnehmen einer unheroischen Perspektive. Menschlichkeit und
wirtschaftliche Interessen liegen im Zielbereich des brechtschen Dramas, es gibt keine tragischen Fallhöhen!
1 Entstehung
Der Tross ist das, was die Soldaten begleitet, z.B. Unterhalter, Prostituierte (Yvette). Der Tross ist nicht in den
Heeresverband eingegliedert, er untersteht nicht der Befehlsgewalt der Offiziere. Am Handout ist ein Bild von einem
Reiter abgedruckt, der eine Trosskolonne überfällt. Söldnerheere sind mobile Gesellschaften, die Historiografie
(Geschichtsschreibung) sieht Parallelen zur zivilen Welt: Nahrung, Unterhaltung, Sex, das sind Bedürfnisse, die
gestillt werden müssen. Brecht sucht sich eine alternative Sichtweise, das Heer ist keine Parallelwelt zur zivilen
Gesellschaft sondern eine Gegenwelt, eine verkehrte Welt mit anderen Tugendmaßstäben, in der andere
Voraussetzungen herrschen, die das Tun und Treiben präfigurieren. Schätzung der Historiker: 3000 Mann werden
begleitet von 300 Frauen und Kindern.
So ein Massenaufmarsch an Menschen erfordert Logistik, Kriegsunternehmer als Kriegsmanager. Ein Vergleich ist
Wallenstein, der als Geldgeber für die Regierung in die Presche gesprungen ist, hat logistisch ein Heer auf neue
Beine gestellt. So ein Heer braucht 40 000 kg Brot, aber Raub ist auch eine Variante.
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erstellt von Patrizia Schlesinger
SS 2012
VO NdL: Drama und Geschichte
Martin Neubauer
Der Krieg ernährt den Krieg, das Kriegsunternehmen auf kleineren Ebene wird dargestellt: Mutter Courage ist eine
Marketenderin mit ihrem Planwagen, der Fokus wird auf die kleinen Leute gerichtet! Das Stück selbst besteht aus
einer lockeren Szenenfolge, die Szenen sind unterschiedlich lang. 7 und 9 bestehen nur aus Liedern, die vorerst in
anderen Szenen integriert waren. Es ist ein offenes Drama, es verweigert sich dem klassischen Pyramiden-,
Dreiecksschema! Der Zeitraum wird sehr großzügig gehandhabt, umfasst etwa 12 Jahre. Es ist kein geschlossenes
Drama: das ganze wird aus Ausschnitt serviert. Räumlich und zeitlich gibt es eine breite Streuung, ein breites
geschichtliches Fresko. Der Brennpunkt wird von Brecht auf das Schicksal einer einfachen Familie gelegt, diese
Schicksale werden revuehaft dargestellt. Es wäre möglich, die eine oder andere Szene hinzuzufügen, ohne dass es
stört.
2.3 Personen
Mutter Courage wird als erste genannt, sie ist eine fahrende Händlerin, zieht dem Krieg nach. Sieg und Niederlage
interessiert sie nicht, sie will Profit machen, einen guten Schnitt. Der Krieg diktiert die Konjunktur der kleinen
Leute. Die Lehre lautet auch im Umkehrschluss: die Kleinen wiederum bestimmen den Krieg! Zuerst feilscht sie um
Schnallen und merkt nicht, was ihrem Sohn widerfährt. Die Sorge um die Waren ist ganz markant. Im 6. Bild herrscht
Angst vor dem Frieden, denn er könnte das Geschäft ruinieren. Ihre Kinder stammen von 3 verschiedenen Männern.
Den Kindern werden unterschiedliche Tugenden zugewiesen. Diese verwandeln sich durch den Krieg in
Verhängnisse: Die Tugenden werden zu einer Last, zu einem Verhängnis in Zeiten des Krieges.
Schweizerkas verfügt über die Tugend der Redlichkeit: er verrät das Versteck am Ende nicht, er wird erschossen,
die Mutter hat zu lange gefeilscht, sie ist dadurch mit schuld an Schweizerkas‘ Tod!
Eilif ist der älteste Sohn, er geht zur schwedischen Armee, überfällt Bauern und tötet sie (in Friedenszeiten!). Diese
zweifelhafte Ehre ist eine Untat und wird streng bestraft, seine Tugend ist die Tugend der Kühnheit, er wird in den
Untergang gedrängt. Es war aber schon wieder Krieg zu dem Zeitpunkt, diese Nachricht hat nur das Lager noch nicht
erreicht. Die Mutter hofft bis zuletzt auf ein Wiedersehen.
Kattrin erleidet eine Misshandlung durch Soldaten. Ihre Stummheit ist eine dramaturgische Notlösung. Brechts Gattin
war Schauspielerin und er hat diese Rolle für sie geschrieben (er wollte, dass sie die Rolle unabhängig von der
Sprache spielen kann). Kattrin hat die Tugend des Mitleidens, sie greift ins Kriegsgeschehen ein. Die Mutter hat ein
passives Mitläufertum, Kattrin trommelt, einer schießt sie daraufhin vom Dach (9. Bild).
2.4 Ende des Stücks
Alle Tugenden sind gefährlich auf dieser Welt, das wird anhand der Lebensläufe bestätigt. Die Titelgestalt bleibt
uneinsichtig, sie lernt nichts daraus. Sie ist immer auf der Jagd nach Gewinn, am Ende steht sie ohne Kinder da,
hat kein Geld, sie muss sich selbst vor den Wagen spannen. Als Geschäftsfrau zieht sie weiter, sieht den Krieg als
profitable Angelegenheit. Das Publikum soll aus dem Umstand lernen, dass Mutter Courage nichts gelernt hat. Die
Zuschauer sind bei Brecht Lernende, sie sollen sich nicht einfühlen. Ein verstandesgemäßer Blick ist notwendig,
auch intellektuelle Schlussfolgerungen. Wenn die Einsicht fehlt bei einer breiten Masse, dann werden Kriege möglich,
die Kriege der Großen. Am Handout ist ein Text aus dem Jahr 1949, daran kann man Brechts Intentionen ablesen.
Der Kapitalismus braucht den Krieg, den Kampf aller gegen alle. Man muss erkennen, dass der Kapitalismus
schlecht ist! Auf dialektische Art und Weise wird der Gehalt des Dramas besprochen. Kapitalismus und Krieg sind
miteinander verbunden und schlecht.
3 Brecht und der 30-jährige Krieg
Der 30-jährige Krieg hält nur als Parallele zum 2. Weltkrieg!
1.3 Brecht und die literarische Tradition
Der Stoff stammt aus der Barockzeit, aus einem Roman von Grimmelshausen. Darin geht es um die
Lebensbeschreibung der Erzbetrügerin und Landstörtzerin Courasche, die Titel im Barock waren immer so
umfangreich! Der Text ist mit dem Simplicissimus verbunden. Was Brecht macht: er übernimmt gerade nicht die
Handlung des Romans, auch nicht den Charakter der Titelfigur (bei Grimmelshausen ist sie eine Soldatenhure, eher
eine Yvette von Brecht). Unfruchtbar ist sie und von hoher Geburt. Brecht hat Grimmelshausen wegen seiner
realistischen Schreibweise geschätzt, er hat den Krieg als soziale Erscheinung dargestellt. Grimmelshausen stellt
exzessiv Gewalt zur Schau, das versucht Brecht zu vermeiden. Wenn wir heute von couragierten Personen reden,
dann meinen wir das anders.
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VO NdL: Drama und Geschichte
Martin Neubauer
Die Kenntnis des historischen Hintergrunds ist für das Lesen nicht notwendig. Bei Wallenstein muss man die
Konfliktlager kennen, Details sind für das Courage-Drama weniger von Belang. Deshalb hat es vielleicht mehr als
Wallenstein im Unterricht durchgesetzt. Es geht um den Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten. Wenn im
3. Bild der Koch spricht, schenkt er dem Zuschauer Mehrwert: Der Glaubenskrieg-Begriff ist nur ein
propagandistisches Konzept. Die ironische Position wird verständlich gemacht! Der 30-jährige Krieg ist eine Kette
verschiedener Konflikte. Man unterscheidet vier verschiedene Kriege, Katholiken gegen Protestanten ist nicht der
einzige Konflikt. Der Kaiser und die Fürsten werden gegeneinander ausgespielt das Eintreten der europäischen
Staaten in deutschen Krieg ist auch ein Teil. Davon ist bei Brecht nicht die Rede, aber im 5. Bild etwa wird die
Konfliktebene Soldaten gegen Bauern sichtbar!
3.2 Parallelen mit der Zeitgeschichte
Warum also der 30-jährige Krieg als Parallele zum 2. Weltkrieg?
Diese Parallelen sind nicht auf Brechts Mist gewachsen, sondern entsprechen dem Denkmodell der damaligen Zeit.
Parallelisierung taucht schon bei den Nationalsozialisten auf. Hitler meinte, Deutschland trete im Krieg auf zur
Liquidierung des westfälischen Friedens. Hitlers Krieg soll eine Fehlentwicklung korrigieren. Johannes R. Becher, ein
Dichter, der die sozialistische Partei unterstützte, greift die Parallele auch auf, indem er an ein Sonett von Gryphius
anknüpft: Tränen des Vaterlandes, er hat die Jahreszahl ausgetauscht.
Ina Seidel sieht Parallelen im globalen Charakter, die Exzesse, das extreme Leid der Zivilbevölkerung, die nachhaltige
Schwächung als Folge. Moderne Historiografie sagt, dass man den 30-jährigen Krieg im 17. Jh. genauso wenig
isoliert betrachten kann wie den 2. Weltkrieg, auch der 1. Weltkrieg ist bedingt! Man spricht von einem neuen, 30jährigen Krieg. Bei Brecht wird der 2. Weltkrieg nur in Anspielungen erwähnt, nicht explizit. Der Konflikt zwischen
Schweden und Polen im 3. Bild ist historisches Faktum (1621). Die zwei Könige sind Cousins, der Schwede
präsentiert die Protestanten, der Pole den Katholizismus. Im Überfall auf Polen, haben sie sich „eingemischt in ihre
eigenen Angelegenheiten“. Das ist brechtscher Humor, ein rhetorisches Paradoxon: man kann sich nicht
einmischen in eigene Angelegenheiten.
Es geht auch um Kriegspropaganda, die zeitliche Anspielung auf den Überfall Deutschlands auf Polen, so hat 2.
Weltkrieg begonnen. Der Grund für Überfall auf Polen war gewaltsames Eingreifen: nur die Sicherung der Freiheit
steht dahinter, das will die Propaganda den Leuten aufs Aug drücken, in Wirklichkeit will man neuen Lebensraum
gewinnen. Der Koch sagt: der König kennt keinen Spaß, wenn einer nicht freigeben wollte (Gewalt).
Es gibt ein Sprichwort im 8. Bild: Wer mit dem Teufel frühstücken will, muss einen langen Löffel haben. Das
bedeutet: nicht berühren! Man hatte ein Arrangement mit dem Krieg: Wenn man vom Krieg profitieren will, muss man
sich mit dem Krieg einlassen, der ist aber unberechenbar! Der Krieg ist der Teufel und eine gefährliche Sache. Er
richtet sich an skandinavischen Staaten, sagt Brecht, der Hitlerstaat auf der anderen Seite. Brecht hat erkannt, dass
Verträge des deutschen Reichs unecht sind: sie werden gemacht, um gebrochen zu werden.
Was das Drama betrifft, zu musste in Brechts Zeit der 30-jährige Krieg unter dem Politischen und Militärischen
gesehen werden, Grimmelshausen musste man lesen, weil dort der Heldenmut besungen wird. Brecht akzentuiert
die Sicht auf den 30-jährigen Krieg anders: die Ereignisgeschichte interessiert ihn nicht, sondern die
Strukturveränderungen durch den Krieg!
Das Desinteresse am Krieg ist ein Spiel der Mächtigen, die Auswirkungen des Kriegs auf die einfachen Leute, nicht
Faktengerüst sondern ein Krieg für den Glauben ist nur ein Vorwand für das Verfolgen der Interessen, Brecht will
Soziales erforschen! Standpunkt der Herrschenden bei anderen. Für Nazis ist Geschichte bloß ein
Propagandainstrument zur nationalen Erbauung, für eine beispielhafte Lebenshaltung.
Das historische Gerüst kann man aufbauen (Eroberung Magdeburg, Begräbnis Tilly, Belagerung von Halle), die
Ereignisse lassen sich chronologisch eindeutig fixieren. Die Chronik ist eine Form historischer Darstellung, die
Wegmarken sind Staffage, sie sind austauschbar. Geordnetes ist nur oberflächlich! Brecht ruft das Chaos immer
wieder hervor, es gibt eine ständige Bewegung: Krieg und Frieden wechseln einander ab, ein ständiger Wechsel, ein
Auf und Ab, eine ständige Bewegung von Truppen. Das steht auch für eine Austauschbarkeit der konfessionellen
Parteien.
Das Drama beginnt in Schweden und endet in Mitteldeutschland, es geht auf verschlungenen Wegen (nicht direkt)!
Sie passieren Mähren, Bayern, Italien. Mutter Courage ist nur eine Mitläuferin, sie tut nichts gegen Krieg, denn sie lebt
von ihm, sie zieht mit dem Krieg mit, läuft mit.
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VO NdL: Drama und Geschichte
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4 Der „Salomon-Song“
Der Salomon-Song auf der S. 93. (9. Bild) sagt einiges über das Stück selbst aus. Das Stück ist durchsetzt von 12
musikalischen Einlagen, die ungleichmäßig auf 12 Szenen verteilt sind. Es ist ein Verfremdungseffekt bei Brecht,
es ist eine Wirklichkeit auf der Bühne, die präsentiert Gewöhnliches auf ungewöhnliche Weise. Es ist nicht zum
Identifizieren geeignet. Die Konzentration soll von dem Was auf das Wie gelenkt werden. Es heißt immer, man muss
aus der Rolle heraustreten, eine Distanz zur Rolle haben. Dies soll eine Einfühlung verhindern! Hineinversetzen in
die Handlung ist nicht gewünscht, sondern ein Gegenübersetzen! Brechts Konzept vom epischen Theater ist wichtig!
Seine Ziele sind Wissbegierde und Hilfsbereitschaft, welche auf den Verstand und nicht auf das Herz abzielt, auf den
Intellekt!
Auch Salomon-Song kommt das zum Tragen. Brecht war mit seinem geistigen Eigentum immer ein bisschen lax: Er
hat recycelt: in der Dreigroschenoper kommt er auch vor, er wird umgeschrieben und erfüllt im neuen Kontext eine
neue Aufgabe. Der Song wird von Mutter Courage und dem Koch gesungen als Bettelgesang, beinhaltet
strophenweise Exempla aus der Geschichte. Man findet die Intentionen des Dramas in gebündelter Form: Die Liste
der historischen Persönlichkeiten gegenüber der Dreigroschenoper fällt weg, er fügt neue hinzu: u.a. Sokrates und
Martin. Der Song wird unterbrochen durch prosaische Elemente, eine Moritat! Es werden im Gesamtkunstwerk
Feuersbrünste und Kindermörder gezeigt. Um 1900 gab es den Bänkelsang, durch Brecht und Wedekind landet es
auf dem Humus der Kabarettkultur, eine unpathetische Form der Geschichte ist von Relevanz. Die Strophen
funktionieren nach demselben Schema. Die Persönlichkeit steht stellvertretend für die Tugend. Diese ist aber
nachteilig, sie trägt nichts Gutes bei.
Salomon: Tugend der Weisheit – Weisheit führt zu nichts, Einsicht ist für einen Menschen nicht zu bewältigen, Caesar
ist ein Musterbeispiel für die dramatische Fallhöhe. Eilifs Eigenschaften haben auch zu nix geführt, Redlichkeit bei
Sokrates, die Menschen wollen seine Wahrheit aber nicht hören. Er trinkt aus dem Schierlingsbecher. Martin ist
bekannt durch seine Selbstlosigkeit, er teilt den Mantel und beide erfrieren. Das ist auf die Kinder bezogen!
Fazit: die Negation eines Tugendkatalogs ist das! Die Frage nach der größten Tugend durchzieht das
abendländische Gedankengut: Weisheit, Gerechtigkeit, im Christentum dann Frieden bei Gott. Das Gedicht von
Walther: Ich saz uf einem steine wurde von Ehrismann als Tugendsystem erläutert. Zeitliche Wirren gibt es bei
Walther und auch bei Mutter Courage. Bei Walther ist das höchste Gut Gottes Gnade, die alles überstrahlt. Brecht
stellt das Philosophiesystem auf den Kopf. Die Tugend ist nur ein Propagandainstrument, die Mächtigen reden nur
schön darüber, Tugend bedeutet eigentlich nichts. In der 2. Szene in Mutter Courage heißt es: die Tugenden der
Unteren müssen herhalten für die Tugenden der Oberen. Das Tugendsystem Gottes hat als Fluchtpunkt allen
tugendhaften Strebens ausgedient. Wir haben ein rhetorisches Achtergewicht: das Verlagern des Wichtigen auf
den Schluss. Die Tugenden zahlen sich nicht aus, so ist es, sind für den Alltags nicht brauchbar. Walther sagt ja was
anderes. Über allem steht bei Brecht nicht Gott, sondern die oberste Instanz ist Krieg. Der Krieg schafft Ordnung!
Er ist das höchste aller Güter.
Brecht vergleicht ihn mit der Naturwissenschaft. In der Physik erfahren Körper merkwürdige Abweichungen. Die
Tugenden kann man nicht mehr berechnend einsetzen wie in der Quantenphysik. Man kann nichts Genaueres mehr
sagen.
Song beschäftigt sich einerseits mit der Fragwürdigkeit der Tugenden und zweitens damit, wie verhalten sich kleine
Leute und große Geschichte? Kleine Leute singen über große Leute für kleine Leute. Es ist eine Sicht von unten!
Gesprochen wird in einer Sklavensprache mit grammatischen Schlenkern. Ein großer Mann ist Caesar, er ist Vorbild
aller Diktatoren. Er taucht immer wieder im Werk von Brecht auf (es existiert ein Romanfragment nur über ihn),
Kalendergeschichten. Wieder geht es um einen kleinen Mann, er will einen Vorteil aus dem Krieg ziehen, ist
letztendlich aber ein Opfer. Es geht um das Produkt, um Taten großer Männer, das Fokussieren von Handlungen auf
eine ganz bestimmte Person. Caesar gilt als Paradigma der Macht schlechthin in der Literatur (bei Brecht sowieso,
auch im Hamlet). Das ist die Rolle in Geschichte und Geschichtsschreibung. Sie fixiert sich zu sehr auf große
Männer, vernachlässigt kleine. Bei Brecht wird ein gegenläufiger Prozess initiiert. Das Schicksal kleiner Leute soll
nicht verschwendet werden, wie üblich.
5 Oben und unten
Es gibt im Werk eine Dialektik von oben und unten. Das verbindliche Denkmodell für das Drama lautet: soziale
Schichten und verkehrte Welt. Soziale Schichten erleiden unterschiedliche Schicksale. Ein Ereignis hat zwei
verschiedene Wirkungen, je nachdem, ob man sich oben oder unten befindet (je nach Stand), darum geht es auch
letztlich. Soziale Ungleichheit provoziert unterschiedliche Lesarten vom Lauf der Geschichte. Oben und unten geht
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VO NdL: Drama und Geschichte
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auch im Krieg: was oben war wird unten sein und umgekehrt. Der 30-jährige Krieg ist ein Musterbeispiel für den Krieg
schlechthin. Schuld sind die, die den Krieg anstiften, sie kehren das Unterste nach oben! Das Umstülpen, die
verkehrte Welt betrifft die Tugenden, Handlungsweisen, betrifft auch die Sprache- Es ist ein Hang zur paradoxen
Formulierung erkennbar: Ein Wort wird durch sein Gegenteil vertauscht, das ist eine humoristische Pointe.
Beispielsweise im 3. Bild. Es geht um die Bestechlichkeit: Ein Unschuldiger kann durchkommen vor Gericht. Oder im
8. Bild: wer verdummt ist, ist ein besserer Mensch. Wie bei Oscar Wilde! Logische Folgerungen werden durch ein
Wort ausgetauscht: Die Spannung ist unerträglich – ich hoffe, sie … dauert an. Im Leben das Galilei von Brecht steht
die Durchsetzung des heliozentrischen Weltbild im Vordergrund, da ist es die Kreisbewegung für das soziale
Denkmodell. Sonne und Planten kreisen, was ist in der Mitte? Erde oder Sonne? Kreisförmig ist das heliozentrische
Weltbild. Die neue Idee ist, dass die neue Idee die alte auf den Kopf stellt. Die Herrin soll sich um die Dienstmagd
drehen.
6 Zeitgeschichte und Textverständnis
Das Ziel des epischen Theaters von Brecht ist, dass er das Einfühlen versagen möchte. Das Publikum hat sich
nicht den Wünschen Brechts zu verhalten, es hat sich schon identifiziert. Das Moment der Umkehrung wird
fortgesetzt. Das Publikum macht es trotzdem. Die Uraufführung fand in Zürich statt. Brecht will den Krieg fassbar
machen, das Stück verfolgt klassenkämpferische Einsicht, wird durch die Reaktion des Publikums vertrieben. Die
Zeitgenossen haben den sozialkritischen Gehalt verkannt. Das Publikum sah das Stück als Tragödie einer
geprüften Mutter, einer Trümmerfrau, ihrer Kinder und Sachgüter geraubt. Dies ist zu hunderttausenden
vorgekommen. Zugleich existiert das Bild der geprüften Mutter in Bildern aus dem kulturellen Gedächtnis: Niobe (der
griechischen Mythologie zufolge wurden ihre 7 Söhne und 7 Töchter von Apollon und Artemis getötet, Anm. PS) und
Schmerzensmutter (mater dolorosa, Anm. PS) sind die Urbilder trauender Mütter, erstere wird für ihre Hybris
bestraft. Die trauernde Maria mit Jesus wird nach Tod der Kattrin in der Schlussszene zitiert. Brecht war mit seiner
ersten Version dem aristotelischen Theater noch zu nahe, es war nicht analytisch genug zu rezipieren! Die
Kapitalismuskritik hat er noch stärker hervortreten lassen. Es gibt ein Loblied auf die Vitalität des Muttertiers, Mutter
Courage hat er noch viel, viel unsympathischer gemacht, eine „Hyäne der Schlacht“ (Bild 8). Wichtig: der Krieg ist
auch mitverantwortlich für die Dekonstruktion des Mutterbildes!
Johannes R. Becher
Tränen des Vaterlandes. Anno 1937
I
O Deutschland! Sagt, was habt aus Deutschland ihr gemacht?!
Ein Deutschland stark und frei ?! Ein Deutschland hoch in Ehren?!
Ein Deutschland, drin das Volk sein Hab und Gut kann mehren,
Auf aller Wohlergehn ist jedermann bedacht?!
Erinnerst du dich noch des Rufs: »Deutschland erwacht!«?
Als würden sie dich bald mit Gaben reich bescheren,
So nahmen sie dich ein, die heute dich verheeren.
Geschlagen bist du mehr denn je in einer Schlacht.
Dein Herz ist eingeschrumpft. Dein Denken ist mißraten.
Dein Wort ward Lug und Trug. Was ist noch wahr und echt?!
Was Lüge noch verdeckt, entblößt sich in den Taten:
Die Peitsche hebt zum Schlag ein irrer Folterknecht,
Der Henker wischt das Blut von seines Beiles Schneide O wieviel neues Leid zu all dem alten Leide!
II
Du mächtig deutscher Klang: Bachs Fugen und Kantaten!
Du zartes Himmelsblau, von Grünewald gemalt!
Du Hymne Hölderlins, die feierlich uns strahlt!
O Farbe, Klang und Wort: geschändet und verraten!
Gelang es euch noch nicht, auch die Natur zu morden?!
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VO NdL: Drama und Geschichte
Martin Neubauer
Ziehn Neckar und der Rhein noch immer ihren Lauf?
Du Spielplatz meiner Kindheit: wer spielt wohl heut darauf
Schwarzwald und Bodensee, was ist aus euch geworden?
Das vierte Jahr bricht an. Um Deutschland zu beweinen,
Stehn uns der Tränen nicht genügend zu Gebot,
Da sich der Tränen Lauf in so viel Blut verliert.
Drum, Tränen, haltet still! Laßt uns den Haß vereinen,
Bis stark wir sind zu künden: »Zu Ende mit der Not!«
Dann: Farbe, Klang und Wort! Glänzt, dröhnt und jubiliert!
Andreas Gryphius
Thränen des Vaterlandes. Anno 1636.
WIr sind doch nunmehr gantz / ja mehr denn gantz verheeret!
Der frechen Völcker Schaar / die rasende Posaun
Das vom Blutt fette Schwerdt / die donnernde Carthaun /
Hat aller Schweiß / und Fleiß / und Vorrath auffgezehret.
Die Türme stehn in Glutt / die Kirch ist umgekehret.
Das Rathauß ligt im Grauß / die Starcken sind zerhaun /
Die Jungfern sind geschänd’t / und wo wir hin nur schaun
Ist Feuer / Pest / und Tod / der Hertz und Geist durchfähret.
Hir durch die Schantz und Stadt / rinnt allzeit frisches Blutt.
Dreymal sind schon sechs Jahr / als unser Ströme Flutt /
Von Leichen fast verstopfft / sich langsam fort gedrungen.
Doch schweig ich noch von dem / was ärger als der Tod /
Was grimmer denn die Pest / und Glutt und Hungersnoth
Das auch der Seelen Schatz / so vilen abgezwungen.
VO 11/13 - 12. JUNI 2012
ROMULUS DER GROßE
FRIEDRICH DÜRRENMATT
1949
1 Historischer Hintergrund
Laut Untertitel ist das Werk eine Komödie. Das Drama vollzieht sich vor der Auflösungsphase des römischen
Reiches. Kaiserliche Autoritäten wechseln, in 9 Jahren gibt es allein 5 verschiedene Kaiser, sie fungieren als
Strohmänner, nur die Militärs haben wirklich etwas zu sagen.
1.1 Romulus Augustulus
Romulus Augustulus steht als letzter in der Liste der Kaiser Roms. Ein hübscher Beigeschmack ist, dass Romulus
auch der Name des 1. Kaisers und der Name des Gründers von Rom ist. Dies liefert die Suggestion, dass die
römische Geschichte gerahmt wäre. Augustulus ist aber ein Diminutiv, ein Spottname (Kaiserlein, auch: Momyllus,
der kleine Schandfleck, Anm. PS).
Es gibt ein Renaissanceportrait von Romulus Augustulus auf dem Handout. Viel weiß man über diese Person nicht.
Sein Vater ist Orestes (ein pannonischer Sekretär des Hunnenkönigs Attila, wird Heerführer und stürzt den vorletzten
Kaiser Westroms, Julius Nepos, er ist von Ostrom bis zum Tod als Kaiser anerkannt worden deswegen). 475 wird er
zum Kaiser gekrönt (mit 15J.), darf ein Jahr lang regieren, da putschen ihn die Söldner der Armee, Orestes wird
enthauptet, sein Sohn wird zur Abdankung genötigt, aber am Leben gelassen (er bekommt eine Villa am Golf von
Neapel, die Lucullus gehört hat und eine jährliche Pension). Er verdämmert im Ungewissen, sein Tod wurde von
Geschichtsschreibern nicht niedergeschrieben.
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VO NdL: Drama und Geschichte
Martin Neubauer
Es gibt den Film Last Legions mit Colin Firth (dort flieht Romulus Augustulus vor Odoaker nach Großbritannien, wird
der Vater von Artus).
1.2 Odoaker
Odoaker ist der germanische Heerführer, er bringt das römische Reich zu Fall. In der Schule lernt man das Jahr 476
als Ende des klassischen Altertums und Beginn des Mittelalters (problematisch). Um die Trennung zwischen Westund Ostrom zu überwinden, wird Theoderich ins Feld geschickt, Odoaker wird belagert, sie einigen sich darauf,
gemeinschaftlich über Italien zu herrschen. Theoderich bricht das Bündnis und bekommt die gleiche Stellung wie der
weströmische Kaiser zugesprochen.
2 Inhalt
Bei Dürrenmatt ist vieles ganz anders. Er gebraucht den Stoff eines untergehenden Imperiums. Der 1. Akt findet am
Sommersitz des Kaisers statt. Spurius Titus Mamma ist ein ausdauernder Held, er wird zum running gag mit seiner
Leidens- und Durchhaltefähigkeit, er überbringt die Nachricht: das Imperium steht vor dem Zusammenbruch. Es gibt
eine gelassene Reaktion, er wird zum Kaiser gar nicht vorgelassen. Kleine Leute bestimmen den Gang der großen
Geschichte (Kammerdiener lassen ihn nicht vor). Auflösungserscheinungen (der Finanzminister ist mit der
Staatskasse geflohen) gehen damit einher, Kaiser Romulus hat die Ruhe eines Stoikers, er hat sich mit dem
trostlosen Nachleben in der Geschichte abgefunden. Er sucht im Latein der Klassiker Zuflucht und in seiner
Hühnerzucht, das ist sein Lebenszweck: das Züchten von Hühnern. Die Hühner haben Namen der römischen
Prominenz, sein eigener Namensvetter wandert auf den Herd. Es ist eine Satire! Eine Satire kann vergrößern und
verkleinern (Gullivers Reisen vergrößert und verkleinert), hier wird verkleinert: die Geschichte mit ihren Protagonisten
als Hühnerhof, ein Kaiser, der nicht Staatsfeinde köpft sondern Eier zum Frühstück, es wird ins Allgemeine
hinuntergezogen.
Am Handout ist das Bild aus einer Fernsehinszenierung. Romulus verscherbelt die Büsten seiner Vorgänger an einen
griechischen Kunsthändler: er braucht das Geld für Hühnerfutter. Dieser Umstand hat Verweischarakter: Romulus
betreibt Ausverkauf der römischen Geschichte. Romulus‘ Zufluchtssuchen in Belanglosigkeiten bestürzt seine
Familie und versetzt sie in tiefes Entsetzen. Die Interpretation lautet: Romulus ist die antike Form des schlauen
Soldaten, Philosophenkaiser Marc Aurel (viel Menschlichkeit hinter vordergründigem Desinteresse). Romulus
bekommt Besuch, es ist der asylansuchende, oströmische Kaiser Zeno (den hat es gegeben, wurde aber von
Basiliskos vertrieben, den hat es aber nicht nach Italien verschlagen). Zeno ist geflohen vor der Weltgefahr des
Germanismus. Da gibt es eine Schlagwortbildung! Linke und rechte Totalitären im 20 Jh. findet man im Stück verteilt,
es gibt Propaganda („für Freiheit und Leibeigenschaft“) und Parolen!
Caesar Rupf ist ein reicher Hosenfabrikant, er ist die Karikatur eines Großkapitalisten der an die Käuflichkeit der
Welt glaubt, er hat Odoaker bestochen, ist unsentimental, er will Tochter Rea als Sicherheit, diese ist aber verlobt.
Romulus würde eher sein Reich verschachern als seine Tochter. Das widerspricht der gängigen Auffassung von
Macht im 18./19. Jh., danach wird in historischen Dramen gestrebt. Politisches geht eigentlich vor Privates.
Rom hat einen schändlichen Kaiser, sagt Titus Spurius Mamma. Den Anmerkungen zum Stück ist zu entnehmen,
dass Schlusssätze Keimzellen für den Verlauf des Dramas sind (Anmerkung 3). Auf den 4 Schlusssätzen konstruiert
sich die Handlung wie von selbst. Im 2. Akt herrscht Weltuntergangszauber. Der Untergang des dritten Reiches steht
bevor, kurz vor der Niederschrift: die Nazis haben auch Archive verbrannt, sie dürfen Odoakers Armee nicht in die
Hände fallen. Endsieg des Guten am Schluss (nationalsozialistisches Vokabular, auch Floskeln, die den
Durchhaltewillen stärken sollen). Ein Euphemisieren findet statt, ein Maskieren der unangenehmen Fakten. Eine
kulturelle Überlegenheit wird behauptet, das Untermenschentum der Germanen wird betont (die können sich nicht
mit der römischen Kultur und deren Werken messen).
Wie die Politprominenz im 3. Reich verlassen alle das sinkende Schiff. Der Kriegsheimkehrer Ämilian, der vor
Jahren als Bräutigam Reas galt, war in Gefangenschaft der Germanen, wurde dort gefoltert. Das ist eine Anlehnung
an die Tätowierung der KZ-Häftlinge. Ämilian beschreibt die Flucht durch vernichtetes Land (erinnert an das
Weltkriegseuropa). Für die Rettung des römischen Reiches opfert Ämilian Rea aus patriotischen Gründen. Das ist
man von früher gewohnt (diese Person). So sieht die alte Dramenfinalisierung aus: der eine entsagt, sie heiratet
einen anderen, alles wird geregelt, aber Romulus stellt sich dagegen. „Dieser Kaiser muss weg.“
Im 3. Akt spricht er mit seiner Gattin Julia, sie verlässt ihren Mann nach Sizilien. Die Ehe wurde aus pragmatischen
Gründen geschlossen.
Dann plötzlich wird das herrschaftliche Nichtstun abgestreift wie eine Maske des Blöden. Es wird evident, dass
Romulus‘ Wahnsinn Methode hat, er legt seine Motive offen. Er wollte absichtsvoll Rom zerstören. zu lang hat Rom
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andere Völker terrorisiert, in seiner eigenen Macht fühlt Romulus sich als Roms Richter. Bei Dürrenmatt kommt das
öfter vor: die Gerechtigkeit soll wieder hergestellt werden (auch im Besuch der alten Dame). Das Richter-Sein ist bei
Werken Dürrenmatts eine Konstante.
In der Anmerkung 1 schreibt Dürrenmatt: Das Wesen darf sich erst im 3. Akt enthüllen. Romulus ist ein Sonderling,
eine Witzfigur vorher. Nach er Offenbarung ist er ein Mensch „der mit Härte und Rücksichtslosigkeit gegen sich und
sein Imperium vorgeht und das auch von Mitmenschen verlangt“. Er wird zu einer gefährlichen Gestalt, einer Gestalt,
die sich die Rolle des Weltenrichters anmaßt.
Rea ist seine zweite Gesprächspartnerin im 3. Akt. Es ist von einem Rollentausch geprägt: Rea ist von Patriotismus
indoktriniert, die man vom Vater erwarten würde (immerhin ist er Politiker!). Er hält ihr ein Plädoyer für privates Glück!
Das bezieht sich auf die Realerfahrungen des 2. Weltkriegs: „Vaterland nennt sich ein Land immer dann, wenn es sich
anschickt, zu töten“. Mit Tugenden wird die Bestie gemessen. Es gibt eine skeptische Sicht zur Größe Roms. Die
Figuren zeigen sich entschlusslos wie der Kaiser. Die Germanen sind angekommen, Romulus sagt: „Wenn die
Germanen kommen, sollen nur hereintreten“.
Im 4. Akt kann man sehen, dass das Drama die Zeiteinheit schon einhält. Romulus ist vom Umbruch überfordert, er
hat mehr regiert in der letzten Nacht als in den letzten 20 Jahren. Die Nachricht, dass seine Familie den gefunden hat,
trifft ein. Mit stoischer Unerschütterlichkeit nimmt er Nachricht auf, ihm ist alles egal, weil er seinen Tod erwartet.
Odoaker tritt auf (nach 3 Akten Ankündigung ist er endlich da), die Gestalt ist nicht kompatibel mit Aussagen und
Vorurteilen über ihn zuvor. Der Germanenfürst ist höflich und kulturbeflissen, auch er liebt die Hühnerzucht, hegt eine
Abscheu vor blutiger Größe. Es sind zwei Seelenverwandte, keine Todfeinde! Odoaker wird als Spiegelbild des
Kaisers gezeichnet. Romulus trägt an der Vergangenheit, Odoaker an der Zukunft. Er handelt nicht
erwartungsgemäß: er will Rom nicht schänden, sondern ist steht der Kriegslust skeptisch gegenüber. Jeder will sich
unterwerfen. Beide flehen, keiner will Politik betreiben. Die unspektakuläre Lösung: der Kaiser wird pensioniert, sein
letztes Vermächtnis: Odoaker soll Sinn in den Unsinn legen. Es gleicht dem Besitzerwechsel der Ware. Die
Übergabe wird theatralisch inszeniert. Das römische Weltreich hat aufgehört zu existieren, das Theaterstück ist aus.
Der Schlusssatz ist kein Vorverweis mehr, er steht im Perfekt. Aufforderung, abzuhaken. Es ist ein Akt
performativen Sprechens (Austin: Sprechakt, ein Akt, der sich selbst darstellt: die sprachliche Handlung und die
Aktion, auf die verwiesen wird, fallen zusammen). Es wird gesagt, was passiert: es ist kein offener Schluss, nichts
weiterzudenken (wie bei Don Karlos), es ist ein endgültiger Schluss. Der Text als Ganzes markiert einen
Schlusspunkt. nicht nur im Text, auch der Text selbst ist ein Schlusspunkt. Der Weg zurück in die konventionelle Art,
Geschichte zu bearbeiten, scheint nicht mehr möglich zu sein. Dieses Drama gilt als vorläufiges Ende des
Geschichtsdramas. Das stimmt nicht ganz, es ist nur eine andere Bearbeitung von Geschichte, als wir es gewohnt
sind.
3 Faktizität und Fiktion
Die historische Bedingtheit, Dichtung und Wahrheit. Hier gibt es einen ungewöhnlichen Zugang zum Historischen.
Der Untertitel „ungeschichtliche historische Komödie“ gibt aber vor, den Inhalt aus der Geschichte zu ziehen. Er
verknüpft das Drama nur vage mit historisch Überliefertem. Es ist vom Dokumentarischen losgelöst, das ist eine
Verfremdung! Das ist ähnlich wie bei Brecht, nur anders: die Wirklichkeit wird auf den Kopf gestellt. Schiller hat die
Geschichte umgeschrieben (nicht um satirisch zu wirken, sondern um die Poetik zu steigern, um die Poetik
überzuordnen, Elemente der Verfremdung). Der Titel ist ungeschichtlich: Romulus der Große (er hat nur kurz regiert!
Der Zusatz gebührt ihm nicht, man hat ihn verspottet, Diminutiv Augustulus). Er ist eine unbedeutende politische
Marionette, eine Contradictio in se (Widerspruch in sich, Anm. PS).
Die Titelgestalt ist anders gelagert als das historische Vorbild. Romulus war ein Jüngling in Wirklichkeit! Bei
Dürrenmatt ist er ein Familienvater mit einer erwachsenen Tochter, sein Lebenslauf ist auch nicht richtig. Er schaut
auf 20 Jahre Regierungszeit zurück. Er ist auch Sohn eines bankrotten Bankiers bei Dürrenmatt, Julia ist von ihm
erfunden.
Dramenpersonal
Es hat unrömische Titel: Kriegs- Innenminister. Theoderich (hat Odoaker beim Gastmahl eigenhändig umgebracht),
dieses Verhältnis Onkel-Neffe hat es nicht gegeben.
Plötzliche Wende
Der Satz am Ende ist Schulbuchwissen, darauf wird rekurriert. Es wird ein schlagartiger Wandel suggeriert, der hat so
aber nicht stattgefunden! Schröder schreibt über Spurius Titus Mamma: er ist im Altertum eingeschlafen und im
Mittelalter aufgewacht – so schnell vollzieht sich Geschichte nicht, es wird als Trennlinie angeführt, aber so
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VO NdL: Drama und Geschichte
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schlagartig war das nicht! Zweifellos ist es eine Wendezeit, das späte 5. Jh. ist für das Drama ein fruchtbarer Humus.
Der Geschichtsroman profitiert von der Zeit des Umbruchs, der Völkerwanderung. Für die Zeitgenossen war der
Moment aber nicht so markant! Er ist nicht schlagartig verschwunden nach 476. Das Kontinuitätsbewusstsein ist
wichtig. Dass 476 keinen Bruch bedeutet, ist erst in der Renaissance entdeckt worden. Da ist die finstere Zeit das
Mittelalter zwischen großer Antike und großer Renaissance.
Hühnerzucht
Damit wird das Gefälle zwischen dem Amt des Kaisers und seinem Steckenpferd signalisiert. Max Frisch hat in der
Weltwoche eine Kritik geschrieben und dem eine starke metaphorische Qualität zugesprochen: ein animalisches
Gegacker über dem Einsturz eines Imperiums, das ist ein Kunstgriff. Er hat nicht auf der Bühne sondern mit der
Bühne gedichtet. Der Anmerkung 2 von Dürrenmatt kann man entnehmen, dass die Hühner als akkurates
historisches Detail hergenommen wurden, die Lieblingshenne von Romulus Augustulus hieß Roma!
Gesittet Historisches: Er war eine Henne, Dürrenmatt machte ihn zum Mann!!
Er baut auf historisch Gesichertes auf, aber keine Quelle belegt dies wirklich. Prokopius von Caesareus, ein antiker
Geschichtsschreiber schreibt über Hühnerzucht. Das ist ein Parallelfall. Kaiser Honorius. Hahn Roma/Stadt – fällt zum
Opfer. Dieses Detail hat Dürrenmatt aus dem historischen Umfeld entnommen – eine bewusste Lesertäuschung?
Eher ist es das Resultat eines eher unzuverlässigen Gedächtnisses. Eine verwandte Anekdote gibt es über den
Gemüseanbau Diokletians. Er will lieber als Gärtner arbeiten, mehr Produktives machen als Politiker. Eine ähnliche
Situation (pensionierter Kaiser), eine agrarische Betätigung, Romulus trägt keine politische Verantwortung mehr.
4 Held und Geschichte
Die Figur kann weder in geschichtlicher Überlieferung noch in dramatischer Gestaltung als Held herhalten. Der
Begriff des Helden hat sich im 20. Jh. radikal verändert! Schuld daran sind die Weltkriege, die Demokratisierung des
Heldentums im 1. Weltkrieg: der soziale Rang wurde immer unwesentlicher, der Dienst am Vaterland wurde
wichtiger. Einfache Soldaten sollen im historischen Gedächtnis bleiben (Gräber 2. Wk.), auch die Medien sind
verantwortlich für die Distanz zwischen Heden und Masse. Wir haben einen anderen Begriff heute: 1,2 Tore schießen
und schon ist man ein Held. Politik hingegen ist kein Reservoir für Helden mehr!! Politiker von heute sind keine
Helden, es sind Rechtsanwälte. Heutiges Heldenreservoir: Mutter Theresa beispielsweise. Heldentum und Titelfigur
verändern sich.
5 Versionen gibt es vom Romulus, es das am meisten von seinen Werken überarbeitete und war bedeutend für
Dürrenmatts literarischen Durchbruch als Dramatiker. Es war ein Prozess von 30 Jahren – die Gestalt des Textes
verändert sich, zuerst war es eine witzige Darstellung eines Landesverräters (an der Spitze des Staates). In einem
Interview aus 1980 (Dürrenmatt interviewt Dürrenmatt zum 60. Geburtstag) sagt er, der Motor für Romulus sei die
moralische Wertigkeit des Stauffenberg-Attentats (Film: Operation Walküre). Nach Krieg wurde diskutiert, ob das
Attentat moralisch vertretbar oder nicht. Bis in die 50er Jahre hinein, war das, was Stauffenberg getan hat, nicht
rechtens. Das war der Katalysator für das Drama.
Durch Zugrunderichten des Imperiums wollte er sein großes Ziel erreichen, später ist er der Antiheld, mit dem wir ihn
heute assoziieren. Der Kaiser soll nicht als Identifikationsfigur herhalten!! (Genausowenig wie Mutter Courage).
Eingedüstert wird das Stück über die Machtlosigkeit des Einzelnen gegenüber den historischen Prozessen. Das
Individuum ist in der Geschichte unterwegs, es kann sie nicht zähmen (Grabbe), das Individuum wird von der
Geschichte überrumpelt. Das alte Imperium wird durch neues ersetzt, die Geschichte hat sich im Kreis gedreht. Es ist
deterministisch (vorbestimmt), man landet dort, wo man landen soll. Es gibt kein Angebot mehr zur Problemlösung.
5 Geschichte und Komödie
Dürrenmatts Dramentheorie und seine Geschichtsreflexion gehen in der deutschen Literatur Hand in Hand. Schiller im
Gegensatz dazu hat Pflicht und Neigung an historischen Stoffen verdeutlicht, dies den Lesern vor Augen zu führen.
Dürrenmatt ist ein Theoretiker der Komödie, er versucht seine Überlegungen beginnen zu lassen am Anfangspunkt
des Tragischen! Ursprung im Tragischen ist bei Dürrenmatt wichtig! Die Einleitung zu einem Fragment von
Dürrenmatt über die gemeinsame Genese von Theorie und schriftstell. Praxis. Schiller hat die Geschichte als Vorlage
übergeworfen, der Stoff, aus dem sich seine Dramaturgie kristallisiert. Theoretische Reflexionen. Praxis der Komödie!
Theorie und Praxis untrennbar miteinander verknüpft, Aufsatz am Handout über Theaterprobleme, dann 1955 und
1967 dramaturgische Überlegungen zu Wiedertäufern.
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1. Theaterprobleme: Gesellschaftsprobleme
Schiller ist ein Autor der Vormoderne, er kann auf den vertrauten Typus des Helden zurückgreifen, auch auf
nachvollziehbare Machtstrukturen. Die Depersonalisierung der Geschichte bei Dürrenmatt ist nicht mehr tragbar.
Helden gibt es nur mehr in Tragödien, die Geschichte kristallisiert sich nicht mehr durch Personen (sie sind
austauschbar, nur Instanzen, die im Hintergrund agieren) sondern Tragödien, die Herrschaftsstrukturen sind genauso
wenig greifbar. Verwalter der Macht sagt Dürrenmatt, es gibt ein Übermaß an Bürokratie. Es ist die Kunst des alten
Schlages, Schiller muss kapitulieren, die Geschichte ist geprägt von Anonymität und Undurchschaubarkeit. Diese 2
Dinge sind nicht mehr darstellbar durch die Tragödie! Hitler und Stalin, aus ihnen lassen sich keine Wallensteine mehr
machen, sie sind nicht mehr tauglich für historische Heldendramen. Die dramatische Fallhöhe ist determiniert, die
Literatur fokussiert nicht mehr die Mächtigen, die Kunst dringt nur noch zu den Opfern vor.
2. Panne
Das Verhältnis zwischen Schriftsteller und seinen Stoffen. Es gibt Schwierigkeiten auf der Suche nach geeigneten
Stoffen. Es ist eine technische Fehlkonstruktion, die Einsicht in große Zusammenhänge ist im 20. Jh. unmöglich
geworden, Gott und Schicksal spielen keine Rolle mehr sondern nur mehr der Zufall. Der 3. Weltkrieg wurde
zufällig am Anfang der 80er Jahre verhindert (Sonnenreflexion hätte ihn ausgelöst, kleine Panne) zeigt die
Absichtslosigkeit des Unheils. Grund, warum Danton bestraft wird: ist schuld an den Septembermorden.
Sozialpathografie eines Zeitlalters. Moderne Welt ist eine andere!
3. Dürrenmatts dramaturgische Überlegungen (1967) zu Wiedertäufern
Das Modell Scott und die Südpolexpedition; das sind die Sternstunden der Menschheit nach Zweig. Scott führte die
Engländer zum Südpol, nur um zu sehen, das Amundsen vor ihm da war! Scheitern und Tod als tragisches Element.
Dürrenmatt spielt Scotts Geschichte durch, um Konzeptionen von Tragik zu zeigen. Wie hätte es Shakespeare
gemacht? Drama der Macht, Ehrgeiz wie MacBeth. Brecht hätte die Scott-Tragödie gesehen mit ihren Ursachen der
Katastrophe im Klassendünkeln, in Sozioökonomischen, Samuel Beckett (Warten auf Godot) im Absurden. Die
komische Variante zeigt uns Gott abhängig vom Zufall. Zufall als maßgebliche Kraft des 20. Jh.!! Erfrierungstod im
Kühlhaus ist tragisch, aber nicht mehr heroisch!! So wird die tragische Fallhöhe unterminiert! Die Wendung in die
Komödie ist die schlimmste Wendung!! ist ein berühmtes Zitat von Dürrenmatt.
Wie hätte Shakespeare gestaltet? Tragisches spielt eine fundamentale Rolle, wie Richard der 2. oder Zauderer,
Unentschlossener auf tragische Weise, fatalistische Haltung wird zu spät aufgegeben. Gryphius würde zur Figur des
aussichtslosen Widerstandes machen. Dürrenmatt gesteht Romulus nicht einmal ein tragisches Ende zu, nur die
Pensionierung! Das ist kein Glamour, keine fliegenden Fahnen. Romulus ist keine Komödie, die uneingeschränkt als
Komödie zu genießen ist, denn sie hat tragische Züge, eine Reflexion über Verantwortung und Geschichte, der
Hofmeister Lenz bringt sich nicht um, er kastriert sich. Tragikomödie – Endgültigkeit des Todes wird gemildert!
gerade das Akzeptieren des Schicksals zeigt Weisheit und Einsicht, sagt Dürrenmatt, es gewährt der Figur eine
gewisse Würde.
Die Darstellbarkeit der Welt läuft nicht mehr über die Tragödie. Rea zeigt: sie studiert Klagegesang der Antigone,
inspiriert durch den Untergang Roms. Im Stoffreservoir der Geschichte lösen sich Ordnungsstrukturen auf, Chaos
droht, am Schluss steht Sinnverlust. Der Stoff, aus dem Tragödien gemacht werden, ist vertraut aus dem Krieg,
Verlust des Sinns und der Familie, kennt man aus der Nachkriegszeit. Eine gefälligere Verpackung findet der Stoff in
der Komödie.
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VO 12/13 - 19. JUNI 2012
DIE ERMITTLUNG
PETER WEISS
1965
1 Zeitgeschichte und Dokumentardrama
1.1 Umgang mit Zeitgeschichte
Umgang mit Faschismus
Das Dokumentardrama hat sich in 50er/60er Jahren entwickelt, um die zunehmende Politisierung der Literatur zu
werten. Der Umgang mit Zeitgeschichte ist wichtig, wie wird der Faschismus nach 1945 behandelt? Die Darstellung
des Grauens war nicht opportun, das Grauenhafte wurde durch Ästhetisierung gedämpft (z.B. Todesfuge), auch
durch Allegorisierung und Verschlüsselung. Die Nähe der Ereignisse ist noch spürbar, es wirkt erdrückend, man
braucht die verschlüsselte Darstellung, die Realität würde sich sehr reiben.
Das dokumentarische Theater war die gängige Form in den 60er Jahren, zeitgeschichtliche Ereignisse auf die Bühne
zu bringen, auch Karl Kraus verwertet dementsprechend.
Der theoretische Text von Weiss am Handout liefert Ansätze des dokumentarischen Theaters. 1. Punkt: Weiss sieht
das dokumentarische Theater als Berichterstattung, Gebrauchstexte liefern authentische Quellenstellen. Der Dichter
übernimmt es, strukturierend zu arbeiten, auch in dokumentarischer Prosaliteratur: nicht fiction sondern faction! Die
Reportage ist beispielgebend, auch lyrische Montage. Das Phänomen beschränkt sich nicht auf ein Genre, sondern
wirkt grenzübergreifend (auch in den USA, in der Sowjetunion). Direktes Rekurrieren auf Quellen ist heute im
Verbatim Theatre noch gängig, dort werden Quellenstellen auf der Bühne direkt verlesen!
Tendenztheater
Dokumentarisches Theater ist auch Tendenztheater: Das Publikum soll politisch beeinflusst werden. Der Griff ins
Archiv ist brauchbar, besser als etwas zu erfinden. Es gibt Zweifel an der Wirkung von Brechts Ästhetik. Der Umgang
mit Material ist nicht so, dass der Historiker Quellenstudien auf Bühne transportiert, es ist schon subjektiv!
Heinar Kipphardt (Oppenheimer) sagt, der Autor muss eine Auswahl treffen, eine Konzentration des Stoffes, der Autor
historischer Stücke arbeitet nicht als Historiker (für den gelten andere Vorgaben), er arrangiert und ordnet Quellen, er
akzentuiert sie. Sein Ziel ist, aufklärend zu wirken, über das Historische hinauszuweisen und auch über den eigenen
Zeithorizont hinausweisen, nicht nur Bildlichkeit.
Aussagen sind denkbar im Modus des Sachtextes. Zahlen und Statistiken spielen eine große Rolle in der Ermittlung.
Zahlenmaterial ist Undramatisches, das hat auf der Bühne eigentlich nichts zu suchen. Kurz nach 1945 gab es einen
Versuch von Eugen Kogon: Der SS-Staat. Das KZ Buchenwald ist Thema der Darstellung.
Vorwürfe gegen Dokumentartheater: Es sind bloß Zeugnisse verkümmerter Vorstellungskraft und es wird nur die
scheinbar billige Methode der Montage benutzt.
Mechanismen der Massenmedien wurden kalkuliert, man spekulierte mit Zeitthemen, um sich Publizität zu sichern,
so lautete die Kritik. Die Autoren verfügen nicht mehr über Handlung.
Positiv aus heutiger Sicht: das Dokumentartheater rettet zeitgeschichtliche Thema aus dem Abseits! Es bringt
Geschehnisse ein, macht öffentlich, geht in das allgemeine Bewusstsein. Beispiele dafür sind i.B. zwei Autoren: Rolf
Hochhut und Heinar Kipphardt.
1.2 Autoren
Rolf Hochhut
Rolf Hochhuth einerseits zeigt, wie fähig und machtvoll das Theater sein kann, er hat ausgeblendete Themen in
öffentliche Diskussion gebracht. Sein Werk Der Stellvertreter (1963) hat den Untertitel Christliches Trauerspiel. Es
ist Provokationstheater, weil die Dramaturgie etwas für Schillerfans ist, es war der Auslöser eines politischen
Skandals: es geht um das Tabu der päpstlichen Mitverantwortung des Holocausts. Die Passivität des Papsts wird
kritisiert, es war eine Erschütterung durch den Bühnenrealismus (bei Weiss ist es nicht Ausschwitz, es wird nur
angesprochen). Durch die Direktheit kam es zu einer missglückten Konstruktion, das KZ ist kein Fall für
Guckkastenbühne. Bei Stellvertreter tritt das Problem der Darstellbarkeit des KZs auf. Adorno weist auf die Gefahr
des Unechten, der Verkitschung hin. Spielbergs Schindlers Liste ist mit einem Handlungsdrama verknüpft. Der Film ist
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VO NdL: Drama und Geschichte
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kein direkter Zugang. Es geht um eine Visualisierung des Unsagbaren, Weiss versucht ein subtileres Verfahren:
Indirektheit. Das Grauen wird durch Sprache fassbar gemacht. Es ist nicht weniger bewegend und erschütternd. In
dem Stück Soldaten (1967) von Hochhuth steht im Zentrum der polnische Soldat Sikorski. Durch seine Existenz ist
das Bündnis zwischen Großbritannien und Stalin gefährdet. Sikorski war der Störfaktor und starb bei einem
Flugzeugunglück. In Großbritannien durfte das Stück am Anfang nicht aufgeführt werden, es war ein skandalöses
Politikum.
Heinar Kipphardt
Der zweite Text ist von Heinar Kipphardt: J. Robert Oppenheimer. Die Thematik knüpft an andere Stücke an, es geht
um Physiker im Sold der Vereinigten Staaten, absichtlich sollte er an der Wasserstoffbombe gearbeitet haben, in den
50er Jahren. Kipphardt verdichtete 3000 Seiten Verhörprotokoll, hat es reduziert, aber die Sinntreue ist wesentlicher
als die Worttreue, sagt er. Es ist keine dokumentarische Wiedergabe, sondern die Erfindung des Autors, ähnliche
Freiheiten nimmt sich aus Weiss heraus. Ein zweites Werk von Kipphardt ist Bruder Eichmann (1983). Adolf
Eichmann war im 3. Reich für Transport der Juden ins KZ verantwortlich, ihm gelang die Flucht nach Südamerika, der
Mossad (israelischer Geheimdienst) hat ihn entführt, nach Israel gebracht, ihm wurde der Prozess gemacht und er
wurde 1962 gehängt. 3500 Seiten Gerichtsprotokoll ist die Grundlage, nur ein minimaler Tel ist verwertbar für einen
Bühnenabend.
2 Autor
Peter Weiss wurde 1916 in Berlin geboren, sein Vater ist zum Christentum konvertiert, Peter hat man seine jüdische
Abkunft sehr lange verschwiegen. Der Vater versteht den Sohn nicht, die Familie flüchtet nach Schweden, 1946 erhält
Weiss die schwedische Staatsbürgerschaft. Kurios ist, er war nie Deutscher. Ein starkes Gefühl der Heimatlosigkeit
(jüdische Wurzeln, Vater ist Slowake, Leben in Schweden, deutschsprachig) ist bei ihm zu spüren. Bei ihm ist es eine
sehr heterogene Gemengelage, er ist ein sich zwischen zwei Sprachen bewegender Universalgeist. Er ist in der
bildenden Kunst, der Filmszene, und in der Kunst zuhause. Am Handout sieht man ihn vor seinen grafischen Arbeiten.
Den Durchbruch als Schriftsteller erlangte er in den 60er Jahren mit einem Stück, das sich mit der frz. Revolution
auseinandersetzt: Verfolgung und Ermordung des Jean Paul Marats. Er hatte Erfolg noch über Grenzen des
deutschen Sprachraums hinaus. Der Ausschwitzprozess war Grundlage für die Ermittlung.
3 Der Auschwitz-Prozess
Historische Grundlage ist der Ausschwitzprozess, das ist der erste große Prozess in Deutschland gegen
nationalsozialistische Schuldige, früher richteten sich 1955/56 die Nürnberger Prozesse gegen die
Hauptkriegsverbrecher, dann der Eichmann-Prozess 1961 in Israel. Es nimmt monumentale Dimensionen an: fast
zwei Jahre gedauert, es gab Vorermittlungen, viele Zuschauer kamen (etwa 20 000 Leute im Gerichtssaal). 20
ehemalige Angehörige der Wachmannschaften wurden angeklagt, sie lebten unter ihren richtigen Namen und waren
beruflich in Deutschland tätig. Die Anklagebank sieht man am Handout. Zeugen gab es über 360, darunter
Überlebende aus Auschwitz. Augenzeugenberichte wurden zugänglich gemacht, auch von den Medien aufgegriffen
und verbreitet. Zu dem Zeitpunkt hat Ausschwitz noch keine Assoziationen ausgelöst! Die Rekonstruktion von
Tatumständen war wichtig, 20 Jahre lagen zwischen Verbrechen und Prozess. Erinnerungslücken führten zu
milden Urteilen. Nur 3 Angeklagte bekamen lebenslang, es gab 3 Freisprüche.
In Westdeutschland hat das als Sieg des Rechtsstaats gegolten, ausländische Medien und die DDR-Presse sahen die
Urteile nicht durch die rosarote Brille. Jemand schrieb, es ist, als ob Blut im Sand versickert. Das (milde) Urteil ist ein
Hohn auf die Toten von Ausschwitz, schrieb man.
Die Denkweise spielt bei Relationen auf das Werk eine große Rolle.
Es gab keine rechtliche Grundlage, der Mordparagraph laut Strafgesetzbuch (1871) wurde verwendet. Die
Rechtsgrundlage sah so aus: pro Täter müsste mindestens ein Mord ausreichend bewiesen sein. Die Mitgliedschaft
in der SS oder eine Tätigkeit im KZ war nicht ausreichend! Viele Angeklagte beriefen sich auf den Befehlsnotstand:
Gehorsam gegenüber höheren Weisungen musste sein. Die Anklage konzertierte sich darauf, ob jemand brutaler
vorging als angefordert? Tonbandaufnahmen gibt es vom Prozess, von Quellenwert sind auch Zeitungsberichte im
Ausland.
Dieses Werk ist eine Vergangenheitsbewältigung; Presseberichte sind für Weiss grundlegend, v.a. die FAZ.
Wirkung des Prozesses: die Aufarbeitung hatte wenig Echo gefunden zunächst, die Schuldfrage wurde bis in die
60er Jahre ausgeblendet zunächst. Beschäftigung damit war nicht positiv, man kam nicht gerne in Berührung damit.
Die Lehrer hätten sich in der Schule angepatzt, im Bewusstsein war es noch wenig verankert. Verhalten von
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Polizisten ist weisend: sie haben beim Prozess salutiert vor der SS. Das Schweigen wird in den 60er Jahren
gebrochen, das Nazisystem endlich als Vernichtungsmaschinerie entdeckt.
Fritz Bauer war Generalstaatsanwalt. Der Prozess soll Gerechtigkeit schaffen und Aufklärung bringen! Folgen
belaufen sich auf juristischer und künstlerischer Ebene.
Der Ausschwitzprozess gegen Nazi-Verbrecher wird auch in Der Vorleser von Bernhard Schlink thematisiert. Die
Verjährungsfrist für Mord wird in der Folge mehrmals überdacht. Auf künstlerischer Ebene wird die Literatur verstärkt
dazu gebraucht, um sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzten. Eine jüngere Schriftstellergeneration kommt
an die Macht, sie hat einen anderen Zugang. Weiss hat den Prozess auch verfolgt. Die Ermittlung wurde an mehreren
Theatern gleichzeitig uraufgeführt (1965), nur Monate nach der Urteilsverkündung. Eine Atmosphäre genereller
Sprachlosigkeit war die Folge der Uraufführung. Das Drama entspricht wenig dem traditionellen Geschichtsdrama, es
ist ein extrem kurzer Abstand zwischen dem historischen Ereignis und Uraufführung (ein paar Monate liegen nur
dazwischen). Das ist noch weniger Abstand als bei Grabbes Napoleondrama. Der Umgang mit Geschichte wird
reflektiert, v.a. das Thema Schuld.
Das Befassen mit Geschichte wird als Rettung vor dem Vergessenwerden gesehen! Der Zweck ist, Dinge ins
menschliche Bewusstsein zu rücken (wie beim Stellvertreter)! Der generelle Trend anspruchsvoller historischer
Literatur ist dahingehend, dass Geschichte in der Literatur nicht dient, nationale Mythen zu generieren, sondern sie
steht im Dienst des Erinnerns!!
4 Textgestalt
4.1 Form
Titel
3 Aspekte: Das Wort Ermittlung heißt, es wird auf ein analytisches Verfahren verwiesen. Im Zentrum der
Betrachtung ist etwas schon Geschehenes. Die Besichtigung oder das Tribunal wären Alternativen gewesen, aber
das Gerichtsverfahren ist es geworden. Das ist nämlich der Urgrund alles Dramatischen, Drama und Prozess sind
strukturell vergleichbar, bei beiden gibt es Spannung und sie arbeiten auf ein Ziel hin, auf ein Urteil, auf eine
Spannungslösung. Prozess um Orestes ist in der Theatergeschichte wichtig: Prozesse geben viel her (Kaufmann
Venedig, Zerbrochner Krug sind Beispiele).
Oratorium in 4 Gesängen
1. Oratorium ist eine Gattungsbezeichnung aus der Musik: Es sind Dramen ohne optischen Hintergrund (der
Messias) mit schwergewichtigen Inhalten (Schöpfung), nichts Alltägliches.
2. Es gibt 11 Gesänge pro 3 Textpartien, also insgesamt 33 Textpartien. Das erinnert an Dantes göttliche
Komödie: die Jenseitsbezirke werden besucht. für jeden Bezirk 33. Weiss hat echt Bezüge zu Dante: das Jenseits
als Spiegel der diesseitigen Hoffnungslosigkeit, Hölle und Paradies.
Weiss hat sein Konzept wegen dem Suhrkampverlag verworfen, erst 2003 veröffentlicht. Prozess der Konzentration in
der Anmerkung schon: poetisches Prinzip der Darstellung: es ist keine wirklichkeitsgetreue Wiedergabe sondern
ein Drama, reduziert auf mehreren Ebenen: es neutralisiert das Geschehen (Fakten stehen im Vordergrund), das
Emotionale wird aus der Problemlage subtrahiert. Grauenhaftes wird sachlich präsentiert. Weiss möchte
Gerichtliches suggerieren. Dann findet eine Reduktion in der Zahl der Angeklagten auf 18 Sprechrollen statt,
Identitäten zuzuweisen. Es ist deutungsvoll, dass sie ihre Namen trugen, während die Häftlinge ihre Namen verloren
haben. 9 Zeugen nehmen unterschiedliche Identitäten an. 3 – 9 Häftlinge, 4,5 weiblich, Gericht 3: Richter, Kläger,
Verteidiger. Diese Anzahl ist zusammengeschnurrt auf eine Zahl, die für eine Bühnenpräsentation zuträglich ist. 3.
Konzentration auf die Sprache: es gibt keinerlei Anweisungen, kein Bühnenbild, keine Aktion, nur in der Fantasie
des Publikums, knappe Regieanweisungen: i. B. das Lachen der Angeklagten. Das wirkt abstoßend, hat eine
befremdliche Wirkung.
Dreimal gab es eine Hörbuchbearbeitung, es ist von der Konvention der Alltagskommunikation abweichend,
Textstellen sind wie Verszeilen mit Umbrüchen, prosaischer Text in Gebilde: Kunstcharakter soll wahrgenommen
werden: der Text wird anders präsentiert als üblich. Es soll aussehen wie Literatur, aber man soll das schon am
Layout gleich erkennen. Er hat auch auf Satzzeichen verzichtet.
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4.2 Inhalt
Die Szenenabfolge dient der Steigerung, es beginnt mit der Ankunft in Ausschwitz: es ist eine Welt, die nichts mehr
zu tun hat mit der Welt draußen. Danach kommen Spielarten von Gewalt und Sadismus, der Tod in den
Gaskammern. Eingehender besprochen werden Szene 1, 3 und 11.
1 Gesang von der Rampe: Exemplarischer Aufbau in 3 Teilen: Zeuge berichtet zunächst. Funktionieren der
Reichsbahn ist mitverantwortlich, da ergibt sich die Frage nach Verantwortung und Mitschuld gleich am Anfang,
Schuld endet nicht am Stacheldraht, sie geht über das Lager hinaus! Das ist die Rahmung. Von Anfang an wird
gezeigt, dass die Organisation des Massenmordes wie in einem industriellen Großbetrieb funktioniert, wie bei einer
nüchternen Betriebswirtschaft: Lieferung, Listen werden geführt, Verlust wird debattiert, das wird im Drama
angesprochen: Arbeit im administrativen Sektor als Grund. Da ist man nicht so schuldig, ausweichende Antworten
betreffen sanitäre Einrichtungen, Mitwissenschaften werden nicht zugegeben, die Schlote der Verbrennungsöfen
werden für Teil der Bäckereien gehalten.
Argumentatorische Theorien zur Untermauerung der vermeintlichen Unschuldigkeit: Rhetorik der mangelhaften
Informiertheit, es ist eine Rhetorik, die glauben machen soll, dass man abseits der Tötungsmaschinerie gestanden
hat. Im zweiten Teil kommen die Perspektiven der Angeklagten, der Zeugen. Die Selektion an der Rampe, die
Ankömmlinge wurden über den wahren Zweck des Aufenthalts im Unklaren gelassen, Angeklagte wollen
rechtfertigen, ihren Gehorsam, Animosität. Angeklagte sollen unglaubwürdig gemacht werden, es fehlt ihnen an
Unrechtsgefühl, Hannah Arendt: Banalität des Bösen (keine Einsicht über das, was sie getan haben). Im 3. Teil geht
es um die Rolle der Lagerärzte, um das Herunterspielen der Verantwortung, um freundschaftliches Verhalten.
Niemand will etwas gesehen/getan haben, schuld waren andere. Die Rolle des Gerichts: Es hat das Ziel, Wahrheit zu
rekonstruieren: Justiz und Geschichtsforschung haben das gleiche Ziel.
Otto Ranke hat ja gesagt, niedergeschrieben soll werden, wie es gewesen ist. Die Wahrheit ist sehr zwiespältig, sie
oszilliert zwischen Beschuldigung und Rechtfertigung. Die Zeugen stehen mit ihrem Erinnerungsvermögen auf
Kriegsfuß (2 Jahrzehnte zeitliche Distanz), das macht sich die Verteidigung als Strategie zu Nutzen. Die Verteidigung
plädiert auf Unwahrheit wenn sich Zeugen widersprechen, aber wenn Zeugen konform gehen heißt es, es gab
Packelei im Vorfeld. Bei den Angeklagten ist die Selbstwahrnehmung fragwürdig, sie haben Lücken im
Erinnerungsvermögen. Sind dem moralischen Freispruch dienlich.
3 Gesang von der Schaukel
Boger ist durch die Maschen des Entnazifizierungsprozesses geschlüpft. Er ist ein ehemaliger Polizist, es gab eine
Strafanzeige gegen Boger, erhält lebenslange Haftstrafe. Die Bogerschaukel sieht man am Handout. Sie war dem
Großteil der Zuschauer unbekannt, sie sahen die Schaukel nur in der Sprache, nicht als leibhaftiges Instrument. Lili
Tofler ist das einzige Opfer, das namentlich genannt wird, genau in der Mitte des Textes, der Grund für ihre
Ermordung ist vergleichsweise banal, die Schreiberin will den Empfänger des Briefes nicht nennen, sie wird von
Boger erschossen. Totalität kann man nicht liefern, Einzelschicksale sind exemplarisch.
11 Gesang von den Feueröfen
Referenz zur Bibel (AT), Buch Daniel: es geht um das Verweigern der Anbetung eines Götzenbildes, sie überleben
die Strafe der Verbrennung. Bild der biblischen Feueröfen: der Gesang im Feuerofen kommt bei mehreren Autoren
vor, nach 1945 sind sie davon inspiriert. Das letzte Bild steht für das rhetorische Achtergewicht (Schuld). Können
innerhalb/außerhalb des Lagers Schuldzuweisungen getroffen werden? Bei dieser straffen Durchorganisierung sei
Ahnungslosigkeit unmöglich gewesen! Es ist eine bizarre Logik der Rechtfertigung: nur die Tötung von 100 000 hat
wirklich Beweiskraft: das Plädoyer des Vergessens wirkt brüchig, entspricht der Meinung am Anfang der 60er Jahre.
Das Stauffenberg-Attentat galt im Nachkriegsdeutschland konspirativ als verabscheuungswürdig, in den 60ern
wurden Leute zum Prozess gefragt, 54% waren dagegen. Das Plädoyer für das Nichtvergessen am Ende soll
aufgefasst werden als Nicht-Vergessen-Wollen, die Argumente müssen umgedreht werden.
5 Wirkung des Theaterstücks
Es ist parteilich. Das Urteil kommt zu einer klaren Aussage, das ist auch das Ziel des Stücks. Der Urteilsspruch wird
dem Leser überlassen, ist nicht mehr Gegenstand der Darstellung, nur in den Köpfen der Leser/Zuschauer.
Strategien der Distanzierung werden angewandt, möchte erinnern an die Gräuel der Vergangenheit und sie
instruieren gegen die Wiederholung der Geschichte. Die Einsicht in die Verflechtung von Kapitalismus und
Faschismus ist wichtig. Betriebe werden beim Namen genannt. Auschwitz wird nicht spezifisch jüdisch
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wahrgenommen, es verbreitet eine unbequeme Botschaft: die Verflechtung von Kapitalismus und Faschismus ist ein
roter Faden.
5.2 Reaktionen
Weiss über das Material und die Modelle: Dokumentartheater wolle eindeutig Stellung beziehen, der Funke der
Parteilichkeit soll auf den Zuschauer überspringen. 2 Aspekte sind näher zu betrachten:
5.2.1 Wirkung des Theaterstücks in der Zeit des kalten Krieges
Reaktion als Spiegel des kalten Krieges. Seit 61 ist Deutschland geteilt durch den antifaschistischen Schutzwall in
West/Ost. In der DDR wird die Verflechtung begrüßt. Ihre Sichtweise sieht die DDR gerechtfertigt. Abschotten vom
Westen war notwendig, damit der Ostteil nicht auch faschistisch wird. Es ist ein Sonderfall einer einheitlich positiven
Resonanz, Roman aus dem Westen. In der BDR gab es eine gespaltene Aufnahme, es war ein Politikum. Die Debatte
ist durchmischt von Fragestellung des kalten Krieges, es gab eine Kommunistenangst, ein offener Antisemitismus. Es
gab eine Anti-Peter-Weiss-Kampagne. Text von Heinrich Härtle am Handout. Es ist ein tendenzieller Text
(Wühlarbeit), geteilte Akzeptanz im Westen.
Das Ausklammern des Judentums ist auch interessant: Auschwitz wird nicht als Erinnerungsort der Juden
dargestellt, „jüdisch“ wird gar nie erwähnt. Sowjetische Kriegsgefangene tauchen auf. „Judenrein“ gemacht, das
stammt aus der nationalsozialistischen Sprache. Intention Weiss‘: Geschehen ins Universale transformieren, keine
Gruppen im Mittelpunkt, er will das Funktionieren der menschlichen Gewalt zeigen. Strukturen von KZs sind
unabhängig von Nazis, die Unmenschlichkeit ist unabhängig, nicht Juden werden vernichtet sondern Menschen:
dies ist der Funktionswandel des Geschichtsdramas, keine Feierung, keine Exempel, keine starken
Persönlichkeiten. Im 20. Jh. entwickelt sich das historische Drama in Richtung Mahntext: Geschichte könnte sich
wiederholen. Einmal wird ein Häftling wird wie ein Hund hinterhergezogen, das ist ein Bild aus dem 2. Golfkrieg.
Rituale der Demütigung sind gleichgeblieben.
VO 13/13 - 26. APRIL 2012
BURGTHEATER
ELFRIEDE JELINEK
1982
1 Geschichte und Verfremdung
Verfremdung ist immer wieder in der historischen Dramatik des 20. Jh. aufgetaucht, in allen möglichen Gewändern,
es gibt vielfältige Möglichkeiten verfremdender Perspektiven. Für den Verfremdungseffekt maßstabgebend ist Bertold
Brecht. Er hat diese Strukturen ins Historische hineingeführt, um die Aktualität der Gegenwart zu historisieren. Viele
haben sich seine Methode zum Leitsatz gemacht (oft nachgeahmt), in Folge von Brechts Dramatik fungiert jene auch
als Reibebaum für andere. Doch wie ist eine eigene historische Tradition einzugliedern? Es gibt die Erbeproblematik.
Was machen Kulturträger des Bauernstandes mit Preußen? Wie wird die historische Last getragen? Es geht um ein
Deutbarmachen für die sozialistische Gegenwart. Dürrenmatt verfremdet auch mit ironischen, komödiantischen,
anachronistischen Aspekten. In Gestaltung des zeitgeschichtlichen Theaters des Absurden finden wir die sprachliche
Verfremdung bei Jelinek.
2 Inhalt
Es sind 2 Teile mit gleichem Umfang, 2 Ausschnitte aus dem Leben einer österreichischen Schauspielerfamilie um
1941 und dann um 1945.
Zuerst haben die Figuren ein ungebrochenes Verhältnis zum Nationalsozialismus: alles ist äußerst heiter, so die
Regieanweisung, dann steht der Einmarsch der roten Armee bevor (nicht mehr heiter).
Die familiäre Tischszene unter Burgschauspielern ist der Beginn. Infantile Diminutive bei den Kindernamen, dahinter
steht die österreichische Leutseligkeit, dahinter lauert der Abgrund.
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Kontrapunkte zu den bürgerlichen Umgangsformen sind das Verhalten der Kinder, sie fressen die Schweine
Schinkenfleckerl mit animalischer Gier. So wird die bürgerliche Erwartungshaltung von der kultivierten Familie
gebrochen! Dienstbotin Resi ist Istvans Schwester, eine Annie Rosar-Kopie (zeitgenössische Volksschauspielerin),
sie wird malträtiert. Das Prinzip der Menschlichkeit steht am Prüfstand, auch die Sprache: man erwartet sich
Bühnendeutsch, vorgesetzt bekommen wir einen Fantasiedialekt mit Austriazismen, durchwuchert idiomatisch. Es
gibt eine Widersprüchlichkeit in Sprechen und Denken.
3 Jahre nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich: das verlangt neue Prämissen im sprachlichen
Umgang. Eine Absage an das Wienerische, es wird die sprachliche Angleichung an das Hochdeutsch gefordert,
„urdentlich Daitsch“. Das ist eine Contradictio in se. Die Authentizität wird neben Kultur der Menschlichkeit fraglich.
Der Alpenkönig erscheint, eine Erscheinung nach Tradition des Altwiener Volksstückes, Zauberpferd, Altwiener
Volkskomödie, Raimundzitate, eine Hommage an Raimund, die aber eine surreale Verfremdung ist: auf tritt eine
versehrte Gestalt mit Blutflecken, Mumie. Die Familie weist ihn ab, das Österreichertum gilt als ausländisch. Die
Stimme der Geschichte spricht auf der S. 146f. „Ich bin Ihnere Biografie.“
Die Familie schlägt und zerstückelt den Alpenkönig, mit Packpapier und Besen wird er entsorgt („so gelacht haben
wir nimmer“). Misshandlungen gibt es ständig, Verweis auf Ottokars Österreich-Rede.
2. Teil: Das 3. Reich steht vor dem Untergang, das Äußere der Familie ist schlampig geworden. Käthe ist mit
Handschellen an Istvan gekettet, Verhaftung von Schorsch. Man kann ihn als Exempel für den Widerstand
nehmen. Es ist ein kollektives Zuschaustellen des Österreichertums. Vorher ist man im Großdeutschland
aufgegangen, jetzt angebiedert, Schorschs Verhaftung wäscht den braunen Schmutz herunter, auch der Zwerg, der
von Resi im Küchenkasten versteckt wird, weil er verfolgt wird, der missgebildete Zwerg.
Es ist eine Situationskomödie (im Kasten verstecken), ein Motiv der Boulevardkomödie. Die Entdeckung des
Zwergs eröffnet neue Chancen in der Zeit nach Hitler. Möglichkeit zur Umkehr wird verworfen, sich Versichern des
Zwerges ist ein Akt des Ungehorsams. Istvan will die Lorbeeren der ganzen Familie zuschanzen. Den Deckmantel will
er stricken, dass die ganze Familie Regimegegner ist, der Zwerg ist das Faustpfand für das Überleben, er ist ein
lebender Persilschein (Gegenstand, um der Öffentlichkeit zu zeigen: der Mensch hat sich nicht anpatzen lassen vom
Nationalsozialismus). Dem Zwerg wird auf S. 186 eine gute Aussicht versprochen, er darf Theater spielen (den Posa
und den Karlos, den Mephisto und den Faust in einer Person, Anm. PS) und die Tochter (Mitzi) heiraten. Käthe legt
am Ende blutend am Boden (es endet mit Gesang: „wos mir net sengan, des gibt’s net“, Anm. PS).
3 Aspekte der Titelgestaltung
Man kann das Stück aus 4 verschiedenen Perspektiven sehen: Schlüsseldrama, Erinnerungsort, Filmzitat, Untertitel
(Posse mit Gesang).
3.1 Schlüsseldrama
Ziel des Theaterstücks ist zu zeigen, wie sich Schauspielstars in das nationalsozialistische Regime verstricken.
Jelinek hat das nicht als erstes entdeckt, Klaus Mann im Mephisto hat das während des Kriegs schon thematisiert.
1936 hat er es im Exil verfasst, das Werk leistet Ähnliches. Es geht um den Aufstieg eines opportunistischen
Schauspielers. Ein Schlüsselroman ist ein literarisches Werk, bei dem wir wie in einem Vokabelheft Figuren mit ihren
Entsprechungen in der Realität anlegen können, jede Figur hat ein reales Äquivalent, das namentlich nicht genannt
wird. Im Mephisto geht es um Gustaf Gründgens (er war ein großer Schauspieler des 20. Jh.). Sein Pseudonym ist
Hendrik Höfgen, eine Alliteration. Gründgens war mit Mann verschwägert. Thema des öffentlichen Diskurses war die
Korrumpierbarkeit der Politiker im 3. Reich geworden, der Roman hat das angekurbelt. Klaus Manns Roman schafft
damit einen fruchtbaren Boden für Jelinek. Es liegt an Jelinek, das Thema auf die österreichischen Verhältnisse
umzulegen.
Textgeschichte: 1981 ist die erste Fassung fertig, die Uraufführung findet 1985 in Bonn statt, noch vor der WaldheimAffäre 1986. Etwas für die österreichische Geschichte sehr Unangenehmes wird präsentiert. Es ist ein Aufwühlen der
Vergangenheit. 1986 wird allgemein angegeben als Jahr der Demontage des österreichischen
Selbstverständnisses. 2005 gab es die österreichische Erstaufführung in Graz. Da es ein Schlüsseldrama ist: wer ist
gemeint? Die Schauspielerfamilie Hörbiger. Käthe ist Paula Wessely (mit Attila Hörbiger verheiratet). Nach dem
Anschluss haben sie mit den Machthabern solidarisiert. Ein Auftrittsverbot wurde von den Amerikanern verhängt. Eine
psychische Krise folgte, Paula übte Gewalt gegen sich und ihre Töchter aus. Auch im Stück wird das thematisiert!
Was das Drama ausblendet: sie haben verfolgten Juden geholfen. Paula Wessely hat noch gelebt, als die Aufführung
geplant wird, ist nicht in Wien aufgeführt worden.
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Dass Burgtheater nicht am Burgtheater aufgeführt wurde, ist der Ära Claus Peymann zu verdanken, er ließ keinen
Skandal aus. Burgtheater hat er aber nicht wahrgenommen, die Aufführung abgelehnt. Der Grund dafür ist, dass die
Chemie zwischen Peymann und Jelinek nicht gestimmt hat. Außerdem hat Paula Wessely noch gelebt und man hatte
Angst, dass die alte Dame der Schlag trifft. Es gab Vorbehalte.
Istvan ist Attila Hörbiger. Zur Zeit der Uraufführung war er knapp 90 Jahre alt, er ist der Sohn von Hanns Hörbiger (der
Naturwissenschaftler war und Echo bei Himmler fand). Er war in 2. Ehe mit Paula Wessely verheiratet, hatten 3
Kinder: Elisabeth Orth, Christiane und Maresa Hörbiger. Christian Tramitz ist der Enkel von Paul Hörbiger. Wie man
sieht, geht das dynastische Wege. Schorsch ist Paul Hörbiger. Er ist 1981 gestorben, hat die Aufführung nicht mehr
mitbekommen. Hans Moser und Paul Hörbiger wurden in den Österreichfilmen der 40er/50er zum Inbegriff des
gemütlichen Wieners. Attila und Paul Hörbiger, aber auch Paula Wessely zählten zu Goebbels Gottbegnadeten.
1945 war Paul einige Wochen in NS-Haft wegen Hochverrats. Sein Nachruf beinhaltete das Fiakerlied, das Lied wird
zitiert im Stück: „Ich hab zwa Rappen“, in den Memoiren ist er ein Widerstandskämpfer. Die Haft wird bei Jelinek
dargestellt, um die ganze Familie von der braunen Schuld rein waschen.
Die österreichische Öffentlichkeit reagiert mit Entsetzen: der Volkszorn traf die Enthüllung und Jelinek wurde als
Nestbeschmutzerin bezeichnet (1985 von Jeannee). Authentische Schauspielerschicksale im 3. Reich wurden
danach unter weniger radikalen Vorzeichen dargestellt (Franzobel/Mittererer über Neff).
3.2 Erinnerungsort Burgtheater
Es ist ein Sammelpunkt des kollektiven Gedächtnisses, nicht nur geografisch bestimmt, sondern ein kollektives
Erinnern, das hinausgeht über Gebäude, Denkmäler, Personen, Gegenstände, auch die Schlacht im Teutoburger
Wald, auch Grimmsche Märchen (Beck). Alles, was identitätsstiftend ist, hat Bedeutung. Jan Assman hat ihnen eine
formative Kraft zugesprochen, genau so funktioniert das Burgtheater für Österreich!! Österreich als Kulturnation mit
den Wiener Philharmonikern, da zählt das Marchfeld, und natürlich Cordoba. Jelinek demontiert nun den
Kunstraum, den österreichischen Erinnerungsraum, es ist ein durchaus schuldbeladener Ort.
Das Burgtheater ist ein unsichtbarer Mittelpunkt, er kommt eigentlich gar nicht vor im Stück. Es ist unsichtbar
präsent, nicht als Schauplatz!! Jelinek versuchte öfters, Erinnerungsorte zu zerstören. Sie hat ein Positiv in ein
negatives Stereotyp umgelegt. Deshalb wurde sie als Nestbeschmutzerin bezeichnet!!
1995 plakatierte die FPÖ: „Lieben Sie Jelinek, Scholten, Häupl, Paymann, Pasterk…Oder Kunst und Kultur?“ Virulent
wirkt das in Jelineks Werk von 1982 Clara S./musikalische Tragödie (Clara Schumann). Es ist ein anachronistisches
Stück, eine paradoxe Konfrontation ausgehend vom Komponistenehepaar Schumann (D‘Annunzio, ein italienischer
Musiker). Man hat es in Bonn uraufgeführt (Schumannstadt), es gab einen Skandal, das Publikum war mit
Trillerpfeifen bewaffnet.
Auch ein Stich ins Wespennest ist Das Werk (Kraftwerk Kaprun). Es demontiert einen weiteren österreichischen
Mythos: der Aufbau nach dem Krieg ist in der österreichischen Mentalität festgelegt im Kampf mit der Natur, der Sieg
der Technik über den Berg, der menschliche Opferwille trägt den Lorbeerkranz davon. Das ist eine heroisierende
Sicht in den 50er Jahren. Auch Filme davon gibt es (das Lied von Kaprun, die Männer von Kaprun). Es ist ein
Markstein, ein Signalmast für die positive Erinnerung, an der sich die Identität emporranken kann.
Die Rückseite der Medaille glänzt nicht so, sie schimmert braun durch: der Kaprunbau steht in Verbindung mit der
Hitlerdiktatur, mit Zwangsarbeitern, Kriegsgefangenen, nur unzureichend ausgerüstet, zahlreiche Todesopfer, das war
der dunkle Teil! In der Nachkriegszeit wurde das zur Seite geschoben. Dies ist ein Zeugnis des österreichischen
Aufbauwillens. Christoph Ransmayr: Weg nach Surabaya (1997).
Jelinek begeht eine Verfremdung des Erinnerungsortes: Grauen wird kontrastiert mit unbelasteten Figuren (Heidi
und Geißenpeter), die Grausamkeiten de Kaprunbaus werden mit infantilen Elementen kontrastiert. Am Kapruner
Gletscher geschah 2000 das größte Nachkriegsunglück in der österreichischen Geschichte. Mit Erinnerungen
umzugehen, darum geht es. Es ist ein Funktionswandel des Geschichtsdramas herauszulesen.
Im barocken Geschichtsdrama war das Gewissen des Subjekts wichtig, das Versuchen auf die falsche Seite zu
ziehen: die moralische Integrität zu beschädigen, Märtyrer wehren Versuche ab. Im Nachkriegsdrama geht es jetzt
auch um das Gewissen! Aber nicht mehr um das Gewissen einer Person, sondern das Drama fungiert selbst als
Gewissen, als Erinnerungsmaschine, um Verdrängtes in die zeitgenössische Kunst hereinzuholen, um es neu
aufzuarbeiten!
Medien ermitteln, Kunst auf Titelseite. Mit ausgeblendeten Themen muss man sich neu beschäftigen. Die Intention ist
dabei ähnlich wie beim Dokumentartheater: Vergessenes wird mit den Mitteln der Kunst wieder hereingeholt. Stärker
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verfremdende Mittel hereinholen. Jelinek: Intention ist nicht, Vergangenes wieder vergegenwärtigen, sondern den
Umgang mit dem Vergangenen auf Bühne bringen! Neues Erinnern!
Es existiert eine Interferenz zwischen Erinnerung an das Geschehene und der Erinnerung an das Verdrängte.
Der Text präsentiert als alternativer Erinnerungsort, er möchte hinweisen auf das, was mit Erinnerungsorten unter den
Tisch gekehrt wurde.
3.3 Filmzitat
Burgtheater ist auch Titel eines Films von Forst aus den 30er Jahren, er spielt für das Jelinek-Drama keine Rolle. Die
Titelwahl ist von Bedeutung. Der Filmtitel wird einmontiert im Stück. Es gibt Anspielungen auf verfremdete Filmtitel,
aus der verdrängten österreichischen Filmlandschaft der 30er/40er/50er Jahre. Dem Publikum wird zugetraut, alle
Titel zu erkennen, sie sind in der Populärkultur sehr verankert, durch Wiederholungen. Das Fortwirken von Klischees
wird vorgeführt durch Integration, durch Einmontieren der Filme. Diese Filme sind z.T. mit Paula Wessesly (z.B. Ein
Leben lang oder Das Herz muss schweigen).
Der Film Heimkehr (1941) spielt die entscheidende Rolle. Er spielt die zentrale Rolle für Inhalt und Sprache. Es ist ein
nationalsozialistischer Propagandafilm, in dessen Herstellung die Hörbigers verstrickt waren: Mitwirkung von Paula
und Attila. Wenn man auf Historisches zugrückgreift, dann dient der nationalsozialistische Propagandafilm immer
wieder zur Rechtfertigung der eigenen Ideale: Jud Süß (1940) ist der berüchtigste antisemitische Film, er bedient alle
antisemitischen Klischees, ein anderer Film ist Ohm Krüger 1942: über Friedrich den Großen.
Filme versuchen, Historisches zu instrumentalisieren für die eigenen Zwecke. Heimkehr aus 1941 greift in
Zeitgeschichtliches zurück, aber nur ein paar Jahre. Polen wird gnadenlos schikaniert. Um die Rettungsaktion zu
stilisieren, gibt es ein geheimes Zusatzprotokoll (Hitler Stalin Wolhynien, Umsiedlung der Deutschen).
Dazu hat Jelinek Stellung genommen! Der Film sei noch übler als Hitlerjunge Quex, sagt sie, wo Gewalt gutgeheißen
wird. Heimkehr sei der schlimmste Film! Inhalt: Lehrerin Marie Thomas (Paula Wessely) - Polen wie Unmenschen par
excellance, Tötung, weil polnische Hymne nicht singt, Behandlung im Spital wird verweigert, der Vater verliert das
Augenlicht. In letzter Minute werden Deutsche vor dem bösen Polen gerettet. Aufbruch ins Neue, Happyend, Marie
findet neue Liebe. Das ist ihr erster gemeinsamer Propagandafilm. Das ist der erste Propagandafilm des
austrofaschistischen Staates. Politiker geschürt. Filmprädikat: künstlerisch besonders wertvoll, natürlich von Nazis.
Nach 1945 wurde der Film von den Aliierten, die polnischen Beteiligten an dem Film wurden als Kollaborateure zu
Haftstrafen verurteilt. Dieser Film ist verboten.
Zitate der Paula Wessely daraus werden einmontiert bei Jelinek. Die emotionale Schlüsselszene des Films steht am
Handout, Passagen auf Film/Burgtheater.
Die sprachspielerische Annomination ist durch die Presse gegeistert (Wortspiel, das sich aus der Zusammenstellung
gleich oder ähnlich lautender Wörter mit jedoch unterschiedlicher, oft gegensätzlicher Bedeutung ergibt, Anm. PS;
z.B. Sperminator statt Terminator). Sprachspiele: ein Wort wird durch ein ähnliches ersetzt. Ernst Jandl und James
Joyce sind Meister darin. Jelinek nimmt das auch als Verfremdung. Sie macht parodistische Annomination, dies
setzt eine Bekanntheit der Vorlage voraus, bei Heimkehr ist das nicht möglich. Man kann nicht damit rechnen, dass
man das kennt. Die parodistische Intention ist also fragwürdig!
3.4 Posse mit Gesang als Untertitel
Das ist eine provokante Gattungsbezeichnung, es ist eine große Diskrepanz zwischen Dargestelltem (Anpassung an
die Diktatur, Davonstehlen aus der Verantwortung) und dem Titel, der suggeriert Lustiges. Posse heißt eine komische
Behandlung eines Stoffes. Posse eines historischen Stoffes ist eine Ausnahme.
Volksstück ist Historisches: höchstens parodistisch. Posse in Richtung Sprache. Metzlers Literaturlexikon kennt
Posse: Dominanz des Stofflichen gegenüber Gestaltung, ist kritisch zu relativieren (Nestroys Possen z. B.).
Bei Jelinek ist der Stoff nicht mehr glatt nacherzählbar bei Burgtheater. Allenfalls gibt es eine tragische Fallhöhe,
eine Differenzierung zwischen 1. und 2. Teil, ein artifizieller Dialekt (schon in der Vorbemerkung). Der Dialekt
gewinnt eine eigene Aussageebene, die Art der Sprachverwendung ist eine Möglichkeit, eine Aussage zu tätigen.
Was tun die Figuren eigentlich? Sie sprechen in Zitaten aus der populären österreichischen Literatur (Raimund,
Heimatfilm, Wienerlied, Mozarts Zauberflöte, Oper, Goethes Faust: Alpenkönig zitiert Faust). Der Anzug vollzieht sich
auch in der Sprache. Der Inhalt ist Österreich, die Form ist Deutsch: „Hier bin ich Österreicher hier darf ichs sein.“ Das
Österreichlob in Grillparzers König Ottokar (ist selbst ein Erinnerungsort) ist mit dem Burgtheater eng verknüpft,
ideal um es zu deformieren, zu demolieren.
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Das Publikum kennt Grillparzer besser als Heimkehr. Jelinek über ihre Arbeitsweise: sie will Sprache zum Sprechen
zu bringen. Durch Montage, Veränderung im Idiom sollen verhüllte Aussagen entlarvt werden, wie James Joyce,
Dialog entsteht zwar, sprachliche Fehlleistungen, dahinter steht ein Volksstück mit aufdeckender Funktion der
Sprache.
Sigrid Löffler (s. Handout) vergleicht sie mit Ödon von Horvath, er will Unbewusstes, Verschüttetes durch Sprache auf
die Bühne bringen, Figuren wollen gar nicht sagen, was sie sagen, aber sagen es doch und entlarven sich.
Jelinek und Geschichte
Sie verzichtet auf das große historische Panorama (welches der Götz etabliert im Geschichtsdrama), bei Weiss,
Dürrenmatt, es tritt zurück. Kunstform eines großen historischen Freskos ist der Film, Theater hat es an den Film
abgetreten. Es ist keine Breitwandgeschichte bei Jelinek, der Ausschnitt verengt sich auf die Familie, auf die
häusliche Umgebung in Wien, der Fokus ist eng und ein unspezifischer Raum.
Verzicht auf Realitätsnähe. Realität und historisches Drama. Dokumentartheater wollte nah dran sein, jetzt gibt es
aber eine Verfremdung (Dürrenmatt, Jelinek), eine eigene Kunstwelt entsteht bei Jelinek. Wie war es wirklich? Wie hat
ein Autor etwas verändert? Die Frage kann bei Burgtheater nur bedingt gestellt werden, ist als Analyseparameter
untauglich. Schrott sagt zum metahistorischen Drama: Reflexion, wie kommen Geschichtsbilder zusammen? Wie
funktioniert das kollektive Gedächtnis? Das ist die Funktion!
Sie verzichtet auch auf die Kohärenz der Figuren: es sind montierte Personen aus Zitaten, Sprechweisen,
vorgeformter Sprechmuster. Mark Berninger hat das Werk untersucht, einen Versuch gestartet, für fremdsprachige
Literatur eine Typologie zu entwickeln. Er hat 4 Typen:
a) realistisches Geschichtsdrama: auch in unseren Jahren wird immer noch so geschrieben wie im Drama des 19.
Jh., es fühlt sich der Tradition verpflichtet, Konfrontation mit der Geschichte vermeiden, nicht provokant, hält sich an
bewährte ästhetische Muster, an wirklichkeitsgetreue Präsentation, Abstand zur Verfremdung, keine neues
Verständnis.
b) revisionistisches Geschichtsdrama: Illusionsdrama, eingefahrene Deutungen aufheben. Perspektiven auf
historisches Ereignis (feministische, postkoloniale Brille)
c) Reflexives Geschichtsdrama: nicht nur eine Alternative, sondern mehrere Perspektiven auf Geschichte (Kritik),
Problematisiert Geschichtsschreibung
d) Posthistorisches Geschichtsdrama entspricht Jelinek, Burgtheater: die Form des Historiendramas, in dem
zeitliche und räumliche Kohärenz zerbröckelt, psychologisch unglaubwürdige Figuren. Sprachrohre treten uns auf der
Bühne entgegen! Diese Form stellt die Grundsubstanz des Geschichtsdramas total in Frage: es bricht mit der
Vorstellung, Geschichte könnte sich sozial entwickeln. Don Karlos, Götz, da konnte man historisches Wissen
verwerten und überprüfen, Vergleiche ziehen und Abweichungen feststellen, als intellektuelle Leistung. Damit
kalkuliert Jelinek nicht!!
Eine lebendige Theaterform, Theater der Geschichte ist keine Museumsgeschichte, es gibt neue Zugänge wie
Verfremdungen, neue Perspektiven auf die Geschichte entwickeln sich. Neue Vorgaben erhalten sie lebendig. Inhalte
sind endlich, begrenzt, es ist aber auch ein Konvolut, das zunimmt, Tag für Tag größer und umfangreicher wird. Es ist
weniger das Was, sondern das Wie, das interessiert. Die ästhetischen Zugänge erwecken Neugierde.
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