Die Auswirkungen der Entkommunisierungsgesetze in der Ukraine

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Die Auswirkungen der Entkommunisierungsgesetze in der Ukraine auf die
Demokratie und die Reaktion der Regierung der Bundesrepublik Deutschland
Vortrag von Dr. Achim Kessler (Frankfurt am Main) am 18. November 2015 auf der Rundtischveranstaltung
„Menschenrechte in der Ukraine: Zur aktuellen Situation“ im Haus des Journalisten in Moskau (Organisatoren:
Vereinigung der Politemigranten der Ukraine, Büro der Rosa Luxemburg Stiftung in Moskau)
Für die Einladung einen Beitrag zu dieser Veranstaltung zu leisten bedanke ich mich sehr
herzlich. Ich habe heute sehr viel über die Situation insbesondere der Menschenrechte in der
Ukraine gelernt und werde dieses Wissen in Deutschland weitergeben.
Da es nicht mehr überall erlaubt ist, möchte ich mir gern den Luxus erlauben, mit einem Zitat
von Lenin zu beginnen.
„Demokratie bedeutet Gleichheit. Es ist begreiflich, welch große Bedeutung der Kampf des
Proletariats um die Gleichheit und die Losung der Gleichheit haben, wenn man sie richtig, im
Sinne der Aufhebung der Klassen auffasst.“
Wladimir Iljitsch Lenin: Staat und Revolution. Berlin 1970, Seite 104 f.
Für dieses Zitat von Lenin könnte ich in der Ukraine für fünf Jahre ins Gefängnis kommen,
wenn ich hinzufüge, dass ich seinen Inhalt befürworte, was ich hiermit tue. Würde ich dies
im Rundfunk oder Fernsehen tun, läge die Höchststrafe bei zehn Jahren. In beiden Fällen
könnte mein Vermögen eingezogen werden.
Man muss den Inhalt des Zitats von Lenin nicht teilen. Tatsächlich geht seine Bestimmung
des Begriffs „Demokratie“ ja auch noch sehr viel weiter. Aber vom Standpunkt eines
politischen und auch wissenschaftlichen Pluralismus ist es unabdingbar, dass solche Zitate
ausgesprochen und auch vertreten werden dürfen. Dafür sollten wir gemeinsam eintreten.
1) Beschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit
Das Gesetz „Über die Verurteilung der kommunistischen und nationalsozialistischen
totalitären Regimes in der Ukraine und das Verbot der Propaganda ihrer Symbole“ verbietet
neben kommunistischen Symbolen und ihrer Propaganda auch die positive Darstellung von
Personen, die in der Sowjetunion, ihren Teilrepubliken oder einer der Volksdemokratien, wie
der Deutschen Demokratischen Republik, wichtige Funktionen innehatten. Medien, die
dagegen verstoßen, dürfen nicht mehr erscheinen. Das ist ein massiver Eingriff in die
Meinungs- und Pressefreiheit.
Das betont auch die OSZE-Beauftrage für die Freiheit der Medien, Dunja Mijatović, die
Präsident Poroschenko in einem Brief vom 18. April 2015 aufforderte, die von der
Werchowna Rada am 9. April verabschiedeten Gesetze nicht zu unterschreiben. Sie schreibt,
dass die Gesetze sehr leicht dazu führen können, „dass politische, provokative und kritische
Äußerungen unterdrückt werden, vor allem in den Medien.“1
2) Einschränkung der Betätigung von Parteien und Organisationen
1
Zitiert nach: Andrei Richter: Ukraine. Verbot kommunistischer und nationalsozialistischer Propaganda. IRIS.
Rechtliche Rundschau der Europäischen Audiovisuellen Informationsstelle. 2015-8:1/33.
1
Darüber hinaus kann das genannte Gesetz auch dazu dienen, die Betätigung von Parteien
und Organisationen einzuschränken. Dies ist auch die Einschätzung der Regierung der
Bundesrepublik Deutschland. In der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage2
der Bundestagsabgeordneten Wolfgang Gehrcke und Andrej Hunko (DIE LINKE) schreibt der
Staatsminister für Europa, Michael Roth:
„Aus dem Verbot der Bezeichnung ‚Kommunistische Partei‘ und dem Verbot der Leugnung
des kriminellen Charakters des sowjetischen Regimes könnten sich nach Einschätzung der
Bundesregierung Einschränkungen für die Tätigkeit von Organisationen und Parteien in der
Ukraine ergeben.“3
Die Einschätzung der Bundesregierung, dass „kein formaler (Hervorhebung: AK)
Zusammenhang zwischen dem laufenden gerichtlichen Verbotsverfahren gegen die
Kommunistische Partei der Ukraine und den neuen Gesetzen“ bestehe, ist zwar formal
korrekt, aber inhaltlich falsch: Tatsächlich wurde die Kommunistische Partei inzwischen ohne
Gerichtsverfahren allein auf der Grundlage des genannten Gesetzes verboten.
Justizminister Pawlo Petrenko sagte dazu: „Das Parlament hat eine historische Entscheidung
gefällt: Es hat einen Schlussstrich unter die kommunistische Vergangenheit der Ukraine
gezogen. Das Gesetz über die Entkommunisierung verbietet auch die Kommunistische Partei.
Sie verwendet ja die gleichen Symbole wie das totalitäre Sowjet-Regime, das einst in der
Ukraine geherrscht hat. Das Verbotsverfahren, das ich als Justizminister angestoßen habe, ist
somit hinfällig“.4
Weshalb die Bundesregierung diese Äußerung nicht als Hinweis gewertet hat, „dass durch
das Gesetzespaket zusätzliche juristische Argumente für das Verbotsverfahren geschaffen
werden sollten“5, ist ein Rätsel.
3) Gleichsetzung von Kommunismus und deutschem Nationalsozialismus
Schon im Titel des genannten Gesetzes werden Kommunismus und Nazismus gleichgesetzt.
Menschliches Leid ist nicht quantifizierbar und es ist unbestreitbar, dass auch in der
Sowjetunion schreckliche Verbrechen begangen wurden.
Aber die Gleichsetzung von Kommunismus und Nazismus ist eine ungeheuerliche
Verharmlosung des schlimmsten Verbrechens, das in der bisherigen Menschheitsgeschichte
begangen worden ist: Die industriell geplante und organisiere Vernichtung von sechs
Millionen Jüdinnen und Juden durch die Nazis.
Im Gesetzestext selbst spielt das Verbot der Nazi-Symbole mehr eine symbolische Rolle:
Während der Definition der verbotenen kommunistischen Symbole, Propaganda und
2
Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag: Reaktionen der Bundesregierung auf das Verbot
kommunistischer Symbole in der Ukraine. Drucksache 18/5086 vom 3.6.2015.
3
Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag: Reaktionen der
Bundesregierung auf das Verbot kommunistischer Symbole in der Ukraine (Drucksache 18/5086 vom 3.6.2015):
Drucksache 18/5337 vom 25.6.2015.
4
Zitiert nach: Florian Kellermann: Ukraine – Das Aus für Hammer und Sichel. In:
http://deutschlandradiokultur.de/ukraine-das-aus-fuer-hammer-undsichel.2165.de.html?dram:article_id=323324, abgerufen am 13.11.2015.
5
Drucksache 18/5337 vom 25.6.2015.
2
Darstellung von Personen zwei Seiten gewidmet sind, erfolgt die Aufzählung der verbotenen
Nazisymbole in gerade einmal 12 Zeilen.
4) Heldenverehrung für Nazi-Kollaborateuren
Würde ich in der Ukraine statt Lenin den italienischen Faschisten Mussolini, den spanischen
Diktator Franco oder den ukrainischen Nazi-Kollaborateur Stepan Bandera zustimmend
zitieren, würde ich nach dem genannten Gesetz nicht bestraft. Denn dort ist ausschließlich
die Verwendung von Symbolen der deutschen Nazis strafbar.
Schlimmer noch: In dem Gesetz „Über den rechtlichen Status und das ehrende Gedenken an
die Kämpfer für die Unabhängigkeit der Ukraine im 20. Jahrhundert“, das die Oberste Rada
ebenfalls am 9. April 2015 verabschiedet hat, wird es unter Strafe gestellt, eine
„geringschätzende Haltung“ gegenüber Mitgliedern der „Organisation der ukrainischen
Nationalisten“ (OUN) und deren militärischem Flügel, der „Ukrainischen Aufständischen
Armee“ (UPA), öffentlich zu äußern:
„Ukrainische Staatsbürger, Ausländer und Staatenlose, die öffentlich eine geringschätzige
Haltung gegenüber den in Artikel 1 dieses Gesetzes bezeichneten Personen zum Ausdruck
bringen oder die Realisierung der Rechte der Kämpfer für die Unabhängigkeit der Ukraine im
20. Jahrhundert behindern, werden dafür entsprechend geltendem Recht zur Verantwortung
gezogen.“
Die Mitglieder beider Organisationen werden als „Kämpfer für die Unabhängigkeit der
Ukraine“ anerkannt. Ihnen und ihren Familienangehörigen werden soziale Garantien in
Aussicht gestellt.
Auch die deutsche Bundesregierung missbilligt die Heldenverehrung für Organisationen
deutlich, die zeitweise mit den Nazis kollaborierte und für die Ermordung von
Zehntausenden Polinnen und Polen sowie Jüdinnen und Juden verantwortlich sind:
„Aus Sicht der Bundesregierung wird die Anerkennung der Mitglieder der Ukrainischen
Aufständischen Armee als Kämpfer für die Unabhängigkeit für die Ukraine den komplexen
historischen Ereignissen nicht gerecht, da diese Entscheidung insbesondere die Rolle der UPA
bei den Wolhynischen Massakern 1943/44 und die Frage der Kollaboration von UPAMitgliedern mit Nazi-Deutschland nicht angemessen wiederspiegelt.“6
Gemessen an diplomatischen Ausdruckformen, ist diese Missbilligung ungewöhnlich
deutlich.
Durch die Heldenverehrung für Kollaborateure mit den deutschen Nazis steigt die Gefahr,
das nationalistische und faschistische Einstellungen in der Ukraine noch weiter zunehmen.
5) Verschärfung der Gegensätze in der Ukraine
Ungewöhnlich deutlich ist auch die Stellungnahme der deutschen Bundesregierung
hinsichtlich der Wirkung des Gesetzespaketes auf die Situation zwischen den
Konfliktparteien in der Ukraine:
6
Drucksache 18/5337 vom 25.6.2015.
3
„Nach Kenntnis der Bundesregierung vertreten verschiedene Teile der ukrainischen
Gesellschaft entgegengesetzte Interpretationen der in dem Gesetzespaket angesprochenen
zentralen Ereignisse der ukrainischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Das Gesetzespaket
leistet nach Einschätzung der Bundesregierung keinen Beitrag zur Überwindung dieser
Gegensätze“7.
Üblicherweise antwortet die Bundesregierung auf die Frage, was sie getan hat, um der
Verabschiedung eines Gesetzes in einem anderen Land entgegenzuwirken, dass sie sich nicht
in parlamentarische Entscheidungen eines souveränen Staates eingreifen kann.
Das tut sie in diesem Fall zwar auch, bringt jedoch ihre Missbilligung mehr als deutlich zum
Ausdruck:
„Die Bundesregierung hat erst kurz vor der Verabschiedung des Gesetzespakets von diesem
Kenntnis erhalten. Dementsprechend konnte sie ihre kritische Sicht erst im Nachgang
gegenüber der ukrainischen Regierung zum Ausdruck bringen. Die Bundesregierung kann
zudem nicht in die Gesetzesentscheidung des Parlaments eines souveränen ausländischen
Staates eingreifen.“8
6) Staatliche Reglementierung historischer Interpretationen
Bedenklich stimmen auch die langfristig zu erwartenden Wirkungen der Gesetze:
In demokratischen Gesellschaften werden historische Ereignisse und Entwicklungen von
Wissenschaftlern diskutiert und bewertet und nicht von Staatsbürokraten. Das Agieren des
„Ukrainischen Instituts für Nationales Gedenken“ erinnert bisweilen an jene Behörde in
George Orwells Roman 1984, die für die Umdeutung und Fälschung historischer Dokumente
im Interesse der Regierung zuständig war.
Dass der „Tag des Verteidigers des Vaterlandes“ vom 28. Februar auf den 14. Oktober
verlegt wurde, ist sicher kein Zufall. An diesem Jahrestag wird nicht nur das christlichorthodoxe Schutzfest der Jungfrau Maria begangen (Pokrowa Preswjatoji Bohorodyzi),
sondern er ist „als ‚Tag der Ukrainischen Aufständischen Armee‘ (Ukrajinska Powstanska
Armija, UPA) zumindest genauso bekannt“9.
Die Konflikte innerhalb der Ukrainischen Gesellschaft werden so verschärft und zementiert,
eine demokratische Entwicklung unter Einbeziehung divergierender Interessen erschwert.
Für die „ohnehin instabile ukrainische Staatlichkeit“ ist das, wie Dmytro Myeshkov schreibt,
mit dem Risiko verbunden, „dass in der Geschichtspolitik die staatstragende und jetzt auch
verstärkt militärische Programmatik stets in den Vordergrund gestellt wird“10.
7
Drucksache 18/5337 vom 25.6.2015.
Drucksache 18/5337 vom 25.6.2015.
9
Dmytro Myeshkow: Die Geschichtspolitik in der Ukraine seit dem Machtwechsel im Frühjahr 2014. In:
Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen, Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde e. V. (Hrsg.):
Ukraine-Analysen. Nr. 149, 15.04.2015, Seite 17 bis 22, hier Seite 18.
10
Ebenda, Seite 20.
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