Das Osterfest - Rudolf Steiner Online Archiv

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RUDOLF STEINER
DAS OSTERFEST
Berlin, 12. April 1906
Goethe hat in der verschiedensten Weise ein ganz bestimmtes
Gefühl, das er oft gehabt hat, zum Ausdruck gebracht. Er sagte:
Wenn ich hinblicke auf die Inkonsequenz der menschlichen
Leidenschaften, Empfindungen und Handlungen, dann fühle ich
so recht den Zug, mich zur allgewaltigen Natur hinzuwenden
und mich aufzurichten an ihrer Konsequenz und Folgerichtigkeit. - Dem, was die Menschheit seit den ältesten Zeiten in der
Einrichtung der Feste zum Ausdrucke gebracht hat, liegt das Bestreben zugrunde, aufzublicken von dem chaotischen Leben der
menschlichen Leidenschaften, Triebe und Handlungen, zu den
großen konsequenten einheitlichen Tatsachen der großen Natur. Schön stimmt es zu diesen großen Tatsachen der großen
Natur, dass große Feste zusammenhängen mit bezeichnenden
Erscheinungen in der Natur. Ein solches mit den Erscheinungen
in der Natur zusammenhängendes Fest ist das Osterfest, das für
den Christen von heute das Auferstehungsfest seines Erlösers ist,
das von altersher begangen wurde als das Erwachen von etwas
für den Menschen ganz Besonderem. Wir blicken auf das alte
Ägypten mit seinem Osiris-Isis-Horus-Kult, der die ununterbrochene Verjüngung der ewig unsterblichen Natur ausdrückt; blicken auf Griechenland und finden ein Fest dort zu Ehren des
Dionysos, ein Frühlingsfest, das mit der erwachenden Natur im
Frühling in irgendeiner Weise zusammengebracht wird. In Indien gibt es eine Vishnufestzeit im Frühling. Das Göttliche teilt
sich für den Brahmanismus in drei Aspekte, in Brahma, Vishnu
und Shiva. Brahma nennt man mit Recht den großen Baumeister der Welt, der Ordnung und Harmonie in der Welt bewirkt.
Vishnu bezeichnet man als eine Art Erlöser, Befreier, Erwecker
des schlummernden Lebens, und Shiva ist derjenige, der das von
Vishnu erweckte schlummernde Leben segnet und emporhebt
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zu den Höhen, zu denen man es überhaupt erheben kann. Eine
Art Festzeit war dem Vishnu geweiht. Man sagte, er schlafe ein
zu der Zeit des Jahres, wo wir das Weihnachtsfest feiern und
erwache zur Zeit des Osterfestes. Die, welche sich seine Diener
nennen, feiern diese ganze Zeit in einer bedeutsamen Weise: sie
enthalten sich dann bestimmter Speisen und Getränke und des
Fleisches. So bereiten sie sich vor, um ein Verständnis für das zu
haben, was vor sich geht, wenn beim Vishnufest die Auferstehung gefeiert wird, die Erweckung der gesamten Natur. Auch
das Weihnachtsfest knüpft an in bedeutsamer Weise an große
Naturtatsachen, daran, dass die Kraft der Sonne immer schwächer und schwächer wird, dass die Tage immer kürzer werden
und dass von Weihnachten an die Sonne wieder größere Wärme ausstrahlt, so dass das Weihnachtsfest ein Fest der wiedergeborenen Sonne ist. So ähnlich war es auch von den Christen
empfunden worden, das Wintersonnenfest. Als das Christentum
im 6. und 7. Jahrhundert anknüpfen wollte an alte, heilige Geschehnisse, da wurde die Geburt des Christus Jesus auf den Tag
verlegt, an dem die Sonne wieder aufstieg am Himmel. Die geistige Bedeutung des Weltheilandes wurde in Zusammenhang gebracht mit der physischen Sonne und dem erwachenden und
wiedererstehenden Leben.
Im Frühling wird mit dem Osterfest auch angeknüpft, wie in
allen ähnlichen Festen, an ein gewisses Sonnenereignis, das
auch in äußeren Bräuchen zum Ausdruck kommt. Im I. Jahrhundert des Christentums, da wurde das Symbol des Christentums dargestellt im Kreuze, an dessen Fuß ein Lamm ist. Lamm
und Widder bedeuten dasselbe. Im Frühling erscheint die Sonne
in jener Zeit, in der das Christentum sich vorbereitete, im
Sterngebilde des Widders oder Lammes. Ihren Weg macht die
Sonne durch die Sternbilder des Tierkreises; sie rückt jedes Jahr
ein Stückchen vor. Ungefähr sechshundert bis siebenhundert
Jahre vor Christus Jesus rückte die Sonne in dieses Sternbild vor.
Zweitausendfünfhundert Jahre rückt die Sonne in diesem Sternbild weiter; vorher war sie im Sternbild des Stieres. Damals haben die Völker dasjenige, was ihnen als bedeutungsvoll vorkam
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im Zusammenhang mit der Menschheitsentwickelung, gefeiert
durch den Stier, weil damals die Sonne im Sternbild des Stieres
stand. Als die Sonne eintrat in das Sternbild des Widders oder
Lammes, da erschien auch in den Sagen und Mythen der Völker
der Widder als etwas Bedeutsames. Das Widderfell holt Jason
von Kolchis herüber. Der Christus Jesus selbst bezeichnet sich
als das Lamm Gottes, und er wird dargestellt in der ersten Zeit
des Christentums symbolisch als das Lamm am Fuße des Kreuzes. So kann man das Osterfest in Zusammenhang bringen mit
dem Sternbild des Widders oder Lammes, und dieses Fest deshalb als das Auferstehungsfest des Erlösers betrachten, weil der
Erlöser alles zu einem neuen Leben hervorruft, nachdem es erstorben war die Wintermonate hindurch.
Damit allein treten das Weihnachtsfest und das Osterfest nicht
so deutlich auseinander, denn die Sonne gewinnt wie—der an
Kraft seit dem eigenen Auferstehungsfeste, dem Weihnachtsfeste. Es muss im Osterfest noch etwas anderes ausgedrückt sein.
Das Osterfest wird in seiner tiefsten Bedeutung immer als das
Fest des größten Menschenmysteriums empfunden werden,
nicht bloß als eine Art Fest der Natur, das an die Sonne anknüpft, sondern es ist noch wesentlich mehr: es ist angedeutet
in der christlichen Bedeutung der Auferstehung nach dem Tode.
Und in dem Erwachen des Vishnu ist mehr noch hingewiesen
auf das Erwachen nach dem Tode. Das Erwachen des Vishnu
fällt in die Zeit, wo die Sonne im Winter wieder ihren Aufstieg
beginnt, und das Osterfest ist ein Fortsetzen der aufsteigenden
Sonnenkraft, die schon im Aufsteigen ist seit dem Weihnachtsfest. Tief in die Geheimnisse der Menschennatur müssen wir
hineinblicken, wenn wir verstehen wollen, was für Empfindungen die Eingeweihten gehabt haben, wenn sie das im Osterfeste
zum Ausdruck bringen wollten.
Der Mensch erscheint uns als eine doppelte Wesenheit, verbindend seelisch-geistige Wesenheit einerseits mit physischer Wesenheit andererseits. Die physische Wesenheit ist ein Zusammenfluß aller übrigen Naturerscheinungen, die in der Umge-
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bung des Menschen sind: sie alle erscheinen wie ein schöner
Extrakt in der Menschennatur, in der sie wie zusammengeflossen sind. Bedeutsam stellt uns Paracelsus den Menschen dar als
einen Zusammenfluß dessen, was draußen in der Welt ausgebreitet ist: Wie die Buchstaben erscheine uns die Natur, und der
Mensch bildet das Wort, das aus diesen Buchstaben zusammengesetzt ist. - In seinem Aufbau liegt die größte Weisheit; er ist
physisch ein Tempel der Seele. Alle Gesetze, die wir an dem toten Stein, an der lebendigen Pflanze, an dem von Lust und Leid
erfüllten Tiere beobachten können, sie sind zusammengefügt im
Menschen, sie sind dort weisheitsvoll zu einer Einheit verschmolzen. Wenn wir den Wunderbau des menschlichen Gehirnes mit seinen unzähligen Zellen betrachten, die zusammenwirken so, dass all das zum Ausdruck kommen kann, was
die Gedanken, die Empfindungen des Menschen sind, was seine
Seele irgendwie durchzieht, so erkennen wir die allwaltende
Weisheit in der Einrichtung seines physischen Leibes. In der
ganzen Umwelt, wenn wir hinausblicken, erkennen wir kristallisierte Weisheit. Und wenn wir alle Gesetze der Umwelt mit
unserer Erkenntnis durchdringen und dann auf den Menschen
zurückschauen, so sehen wir konzentriert in ihm die ganze Natur, sehen ihn als Mikrokosmos im Makrokosmos. In dem Sinne
war es, dass Schiller zu Goethe sagte: «Sie nehmen die ganze Natur zusammen, um über das Einzelne Licht zu bekommen; in
der Allheit ihrer Erscheinungsarten suchen Sie den Erklärungsgrund für das Individuum auf. Von der einfachen Organisation
steigen Sie, Schritt vor Schritt, zu den mehr verwickelten hinauf, um endlich die verwickeltste von allen, den Menschen, genetisch aus den Materialien des ganzen Naturgebäudes zu erbauen.»
Durch den wunderbaren Aufbau des menschlichen Leibes vermag die menschliche Seele den Blick auf die Umwelt zu richten.
Durch die Sinne schaut der seelische Mensch sich die Welt an
und sucht nach und nach jene Weisheit zu ergründen, durch
welche die Welt aufgebaut ist.
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Betrachten wir einen noch recht unentwickelten Menschen von
diesem Gesichtspunkte: Sein Leib ist das Vernünftigste, was nur
auszudenken ist; zusammengeflossen ist die ganze göttliche
Vernunft in dem einen Menschenleibe. Darinnen aber wohnt
eine recht kindliche Seele, die kaum die ersten Gedanken entwickeln kann, um jene geheimnisvolle Kraft zu verstehen, die
im Herzen, im Gehirn, im Blut waltet. Ganz langsam entwickelt
sich die Menschenseele hinauf, um allmählich das zu verstehen,
was an dem Menschenleibe gearbeitet hat. Das aber trägt an sich
das Gepräge einer langen Vergangenheit. Der Mensch steht da
als die Krone der übrigen Schöpfung. Äonen mussten vorangehen, bis die Welten Weisheit in diesem Menschenleibe zusammengefasst wurde.
Doch in der Seele des unentwickelten Menschen beginnt erst
die Weltenweisheit zu wachsen. Da träumt sie kaum erst von
dem großen Gedanken des Allgeistes, welcher den Menschen
aufgebaut hat. Was aber jetzt noch wie schlafend im Menschen
wohnt, das Seelisch-Geistige, wird in der Zukunft vom Menschen begriffen werden. Der Weltengedanke, er hat durch unzählige Jahresläufe gewirkt, er hat in der Natur schaffend gewirkt, um zuletzt die Krone all dieses Schaffens, den menschlichen Leib zu bilden. In diesem menschlichen Leibe schlummert
nun die Weltenweisheit, um in der Menschenseele sich selbst
zu erkennen, um sich im Menschen ein Auge zu bilden, um sich
selbst zu erfassen. Weltenweisheit draußen, Welten Weisheit
drinnen, schaffend in der Gegenwart wie in der Vergangenheit,
schaffend in die Zukunft hinein, die wir in ihrer Erhabenheit
nur ahnen können. Die tiefsten menschlichen Gefühle werden
aufgerufen, wenn wir so Vergangenheit und Zukunft betrachten.
Wenn die Seele anfängt, das Wunderbare zu begreifen, das von
der Weltenweisheit aufgebaut wurde, wenn sie darüber zur besonnenen Klarheit, zum lichtvollen Herzenswissen gelangt,
dann mag ihr die Sonne als das herrlichste Symbolum erscheinen, das dieses innere Erwachen ausdrückt, das der Seele durch
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die Tore der Sinne den Zugang in die Außenwelt eröffnet. Das
Licht empfängt der Mensch, weil die Sonne die Dinge beleuchtet. Das, was der Mensch in der Außenwelt sieht, ist das widergespiegelte Sonnenlicht. Die Sonne erweckt in der Seele die
Kraft, die Außenwelt anzuschauen. Die erwachende Sonnenseele im Menschen, die anfängt in den Jahreszeiten den Weltengedanken zu erkennen, sie erblickt in der aufgehenden Sonne ihren Befreier.
Wenn die Sonne wieder ihren Aufstieg beginnt, wenn die Tage
wieder zunehmen, dann blickt die Seele zur Sonne hin und sagt:
Dir verdanke ich die Möglichkeit, in meiner Umgebung den
Weltengedanken ausgebreitet zu sehen, der in mir und in allen
andern schläft.-Und nun blickt der Mensch auf sein früheres
Dasein, auf das, was vorausgegangen ist dem tastenden Erfühlen
des Weltengedankens. Der Mensch ist ja viel, viel älter als seine
Sinne. Die geistige Forschung lässt uns zu jenem Zeitpunkte gelangen, in dem des Menschen Sinne erst in schwachen Anfängen sich herausgestalteten. Wir kommen zu dem Zeitpunkt, wo
die Sinne noch nicht die Tore waren, durch welche die Seele die
Umgebung wahrnehmen konnte. Schopenhauer hat dies empfunden und hat den Wendepunkt, wo der Mensch zur sinnlichen Wahrnehmung der Welt gelangt, charakterisiert. Das
meint er, wenn er sagt: Diese sichtbare Welt ist erst entstanden,
als ein Auge da war, um die Welt zu sehen. - Die Sonne hat das
Auge, Licht hat das Licht gebildet. Früher, als solch ein äußerliches Schauen noch nicht war, da hatte der Mensch ein inneres
Schauen. In Urzeiten der Menschheitsentwickelung, da regte
nicht ein äußerer Gegenstand den Menschen zu Wahrnehmungen an, von innen heraus aber stiegen Vorstellungen in ihm auf:
das alte Anschauen war ein Anschauen im astralischen Licht.
Der Mensch hatte damals ein dumpfes, dämmeriges Hellsehen.
In der germanischen Götterwelt hat der Mensch auch die Götter
gesehen in dumpfem, dämmerigem, astralischem Anschauen
und seine Göttervorstellungen daraus geschöpft. Dieses dumpfe
Hellsehen stieg herunter in die Finsternis und verschwand all-
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mählich ganz. Es wurde ausgelöscht durch das kräftige Licht der
physischen Sonne, die am Himmel erschien und die physische
Welt für die Sinne sichtbar machte. So trat des Menschen astralisches Schauen zurück. Wenn der Mensch in die Zukunft
blickt, da wird ihm klar, dass dieses astralische Anschauen auf
einer höheren Stufe wiederkehren muss: Aufleben wird wieder,
was jetzt wegen des physischen Anschauens erloschen ist, damit
das volle wache Hellsehen des Menschen herbeigeführt werden
könne. Zu dem Tagesanschauen wird hinzukommen ein noch
helleres, leuchtenderes Leben des Menschen im Lichte der Zukunft. Zu dem physischen Anschauen tritt noch hinzu das
Schauen in astralischem Lichte.
Führer der Menschheit sind jene Geister, welche durch ein entsagungsvolles irdisches Leben es vermocht haben, den Zustand
schon vor dem Tode für sich herzustellen, den man das Schreiten durch die Todespforte nennt. Er schließt jene Erfahrungen
in sich ein, die später der ganzen Menschheit zuteil werden,
wenn sie das astralische Anschauen erworben haben wird, das
ihr das Seelische und Geistige wahrnehmbar machen wird. Dieses Wahrnehmbarmachen des Geistig-Seelischen um uns her,
das nannten die Eingeweihten immer das Erwachen, die Auferstehung, die geistige Wiedergeburt, die dem Menschen zu den
Gaben der physischen Sinne die Gaben der geistigen Sinne gibt.
Ein inneres Osterfest feiert derjenige, der das neue astralische
Anschauen in sich erwachen fühlt.
So können wir begreifen, dass das Frühlingsfest immer solche
Symbole mit sich führt, die an Tod und an Auferstehung erinnern. Tot ist im Menschen das astralische Licht; es schläft. Aber
wiederauferstehen wird dieses Licht im Menschen. Ein Fest, das
auf das Erwachen des astralischen Lichts in der Zukunft hinweist, ist das Osterfest.
Der Schlafzustand des Vishnu beginnt um die Weihnachtszeit,
wo das astralische Licht in Schlummer versank und das physische Licht erwachte. Wenn der Mensch dazu gelangt, dem Persönlichen zu entsagen, dann erwacht das astralische Licht wie-
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der in ihm, dann kann er das Osterfest feiern, dann darf Vishnu
wieder in seiner Seele erwachen.
In kosmisch geistvoller Erkenntnis wird das Osterfest nicht nur
an das Erwachen der Sonne angeknüpft, sondern an das Aufgehen der Pflanzenwelt im Frühling. So wie das Saatkorn in die
Erde versenkt ist und faulen muss, um neu zu erwachen, so
muss das astralische Licht schlummern im Menschenleibe, um
wieder auf erweckt zu werden. Das Symbol des Osterfestes ist
das Saatkorn, das sich hinopfert, um eine neue Pflanze erstehen
zu lassen. Es ist das Opfer einer Phase der Natur, um eine neue
erstehen zu lassen. Opfer und Werden - das drängt sich in dem
Osterfeste zusammen. Schön und groß hat Richard Wagner diesen Gedanken empfunden. Er war am Zürcher See 1857 in der
Villa Wesendonk; da sah er hinaus auf die erwachende Natur.
Mit dem Gedanken an sie kam ihm der Gedanke an den erstorbenen und wiedererwachenden Weltenheiland, an den Christus
Jesus, und der Gedanke an den Parzival, der in der Seele das
Heiligste sucht.
Alle die Führer der Menschheit, die gewusst haben, wie das höhere geistige Leben der Menschen erwacht aus der niedrigen
Natur heraus, sie haben den Ostergedanken verstanden. Daher
hat auch Dante in seiner «Divina Comedia» sein Erwachen am
Karfreitag dargestellt. Gleich am Anfang des Gedichtes wird uns
das klar. Im fünfunddreißigsten Jahre seines Lebens hat Dante
diese große Vision, die er schildert. In der Mitte seines Lebens
lässt er sie sich vollziehen. Siebzig Jahre zählt das normale Menschenleben, fünfunddreißig Jahre ist die Mitte. Fünfunddreißig
Jahre rechnet er für das Heranentwickeln der physischen Erfahrung, in welcher der Mensch noch immer neue physische Erfahrungen aufnimmt. Dann ist der Mensch dafür reif, dass zu
der physischen Erfahrung die geistige tritt. Er ist dann reif zur
Wahrnehmung der geistigen Welt. Wenn die wachsenden,
werdenden Kräfte des Physischen alle vereint sind, dann beginnt der Zeitpunkt, wo das Geistige zum Leben erweckt wird.
Darum lässt Dante an dem Osterfeste diese Vision entstehen.
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Das ursprüngliche Wachsen der Sonnenkraft wird in dem
Weihnachtsfeste gefeiert. Das Osterfest wird geknüpft an die
Mitte der wachsenden Sonnenkraft. Im Frühlingsmittelpunkt,
im Osterpunkte stehen wir, wo Dante in der Mitte des menschlichen Lebens zu stehen glaubte, als er das geistige Leben in sich
aufgehen empfand. Mit Recht wird das Osterfest in die Mitte
des Aufstiegs der Sonne gestellt, entsprechend dem Zeitpunkt,
wo im Menschen das schlummernde astralische Licht wieder
erweckt wird. Die Sonnenkraft weckt die schlummernde Saat,
das in der Erde ruhende Samenkorn. Das Samenkorn ist ein Bild
geworden für das, was in der Menschennatur sich vollzieht,
wenn im Menschen das erwacht, was der Okkultist das astralische Licht nennt. Es wird geboren im Innern des Menschen. Das
Osterfest ist das Fest der Auferstehung im Innern des Menschen.
Der Gedanke des erlösenden Christus ist in Zusammenhang gebracht worden mit dem kosmischen Gedanken.
Es ist eine Art Gegensatz gefühlt worden zwischen dem, was der
Christ im Osterfeste sieht, und zwischen der geisteswissenschaftlichen Idee des Karma. Es scheint ein Gegensatz zu sein,
diese Idee des Karma und die der Erlösung durch den Menschensohn. Die nicht viel verstehen von der Grundanschauung
des geisteswissenschaftlichen Gedankens, sehen einen solchen
Widerspruch zwischen der Erlösung durch den Christus Jesus
und der Idee des Karma. Sie sagen: Der Gedanke von dem erlösenden Gott widerspricht der Selbsterlösung durch das Karma. Sie verstehen weder im richtigen Sinne den Ostergedanken der
Erlösung noch den Gedanken der Gerechtigkeit des Karma. Es
wäre nicht richtig, wenn jemand einen andern leiden sähe und
sagte zu ihm: Du hast selbst dies Leiden verursacht - und er ihm
deshalb nicht helfen wollte, weil das Karma sich auswirken soll.
Das ist ein Missverstehen des Karma. Das Karma sagt im Gegenteil: Hilf dem, der leidet, denn du bist ja da, um zu helfen. Du
verbesserst das Konto des Karma der Notwendigkeit, indem du
deinem Mitmenschen hilfst. Dadurch gibst du ihm die Möglichkeit, sein Karma zu tragen. Du erscheinst dann als der Erlöser
vom Leiden. - So kann man auch, statt einem einzelnen, einem
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ganzen Kreis Menschen helfen. Dadurch fügt man sich ein in
das Karma dieser Menschen, indem man ihnen hilft. Wenn eine
mächtige Individualität wie der Christus Jesus der ganzen
Menschheit zu Hilfe kommt, so ist es sein Opfertod, der
hineinwirkt in das Karma der ganzen Menschheit. Er konnte das
Karma der ganzen Menschheit tragen helfen, und wir dürfen die
Sicherheit haben, dass die Erlösung durch Christus Jesus in das
Karma der Menschheit aufgenommen wurde.
Gerade der Auferstehungs- und Erlösungsgedanke wird durch
die Geisteswissenschaft erst recht begriffen werden. Ein Christentum der Zukunft wird Karma und Erlösung zusammen vereinigen. Weil Ursache und Wirkung im geistigen Leben zusammenhängen, darum muss diese große Opfertat im Leben der
Menschen auch ihre Wirkung haben. Auch auf diesen
Festesgedanken wirkt Geisteswissenschaft vertiefend. Der Gedanke, der geschrieben zu sein scheint in der Sternenwelt, den
wir zu lesen glauben in der Sternenwelt, diesen Gedanken des
Osterfestes vertieft die Geist-Erkenntnis. Aber auch im Aufgange des Geistes in der Zukunft, der sich in der Menschenwesenheit vollziehen wird, erblicken wir die Tiefe des Ostergedankens. Jetzt lebt der Mensch in der Mitte seines Lebens in unharmonischen, verwirrenden Zuständen. Aber er weiß auch:
Wie aus dem Chaos die Welt hervorgegangen ist, so wird aus
seinem Innern, das noch chaotisch ist, einst die Harmonie hervorgehen. Wie der regelmäßige Gang der Planeten um die Sonne, so wird der innere Heiland des Menschen erstehen, der gegenüber aller Disharmonie das Einheitliche, das Harmonische
bedeuten wird. Ein jeder soll durch das Osterfest erinnert werden an die Auferstehung des Geistes aus der jetzigen verdunkelten Natur des Menschen
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4. Auflage 2010
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