4 Modellieren und Rechnen mit Wahrscheinlichkeiten

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4 Modellieren und Rechnen mit Wahrscheinlichkeiten
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4 Modellieren und Rechnen mit Wahrscheinlichkeiten
4.1 Hinführung: klassische und statistische Wahrscheinlichkeit
Die Wahrscheinlichkeitsrechnung entstand auch historisch im Kontext von Glücksspielen.
Dabei spielen Spielgeräte wie Münzen und Würfel eine zentrale Rolle. Eine Lostrommel, aus
der man auf gut Glück ein Los zieht, kann allgemeiner als eine „Urne“ beschrieben werden,
die mit gleichartigen Objekten bestückt ist, von denen man eines zieht.
Gemeinsam ist diesen „Zufallsgeräten“, dass man annimmt, dass die verschiedenen Ergebnisse, die auftreten können, alle gleichmöglich sind, mit gleicher Wahrscheinlichkeit eintreten,
also
Münze: Wappen, Zahl
Würfel: 1,2,3,4,5,6
Urne mit n Kugeln, die die Nummern 1 bis n tragen: Jede der n Kugeln mit gleicher Chance
Man weiß auch, dass das nicht bei jedem Gerät automatisch der Fall ist, vielmehr müssen gewisse Bedingungen erfüllt sein, für den Gegenstand selber bzw. für das Experimentieren mit
dem Gegenstand.
Münze: muss physikalisch und geometrisch homogen sein, muss so hoch geworfen werden,
dass man das Ergebnis praktisch nicht beeinflussen kann.
Würfel: muss die perfekte geometrische Form eines Würfels haben, physikalische Homogenität muss gegeben sein, am besten man benutzt einen Würfelbecher.
Urne: Alle Objekte, klassischerweise Bälle, lassen sich beim Ziehen nicht unterscheiden, nach
jedem Zug wird der Ball wieder zurückgelegt und gut gemischt.
Solche gleichen Wahrscheinlichkeiten ordnet man also eigentlich nicht den Geräten selber zu,
sondern sogenannten „Zufallsexperimenten“ oder Vorgängen mit zufälligem Ausgang.
Die klassische Wahrscheinlichkeitstheorie vergleicht dann auch Wahrscheinlichkeiten von
„Ereignissen“: Ist es wahrscheinlicher eine gerade Zahl zu würfeln als eine Zahl die kleiner
als 3 ist? Für das Ereignis „gerade Zahl“ sprechen 3 Fälle, 3 Fälle sind günstig für das Ereignis „gerade Zahl“, nämlich die Ergebnisse 2,4 und 6. Für das Ereignis „Zahl < 3“ sind 2 Ergebnisse günstig, nämlich 1 und 2. Man wird eher eine gerade Zahl würfeln als eine Zahl < 3.
So lange man innerhalb eines Zufallsexperiments bleibt kann man Chancen anhand der günstigen Fälle miteinander qualitativ vergleichen, so wie man sagen kann, dass ein Stab länger
als ein anderer ist, ohne dass man bereits einen Maßstab eingeführt haben müsste.
Wir wollen jetzt Wahrscheinlichkeiten über Zufallsexperimente hinweg vergleichen. Was ist
nun wahrscheinlicher, mit einer Münze ein Wappen zu erzielen oder beim Würfeln eine gerade Zahl zu erhalten?
Für Wappen stehen die Chancen, wie man im Alltag sagt 1:1, für eine gerade Zahl stehen die
Chancen 3:3. Hier setzt man günstige zu ungünstigen Verhältnissen in Beziehung, in diesem
Fall sind diese Verhältnisse gleich. Wir würden intuitiv dieselbe Wahrscheinlichkeit zuordnen.
In der klassischen Wahrscheinlichkeitstheorie hat man die Wahrscheinlichkeit für ein Ereignis
Anzahl der für das Ereignis günstigen Fälle
definiert als einen Bruch Ws ( Ereignis ) =
. VorAnzahl der möglichen Fälle
ausgesetzt wird, dass alle Fälle gleichmöglich sind (was immer das heißt). In unserem Fall
Elementare Stochastik
Rolf Biehler
WS 2006/2007
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sind also nach dieser Definition beide Wahrscheinlichkeiten gleich ½, also insbesondere
gleich. Bei einem Glücksspiel würde es also keinen Unterschied machen, ob man auf Wappen
bei einer Münze oder „Gerade Zahl“ beim Würfeln setzt.
Die Wahrscheinlichkeit als einen solchen Bruch zu definieren hat einen weiteren Vorteil. Es
scheint völlig klar zu sein, dass folgendes gilt
Empirisches Gesetz der großen Zahl
Bei sehr häufigem Durchführen eines Zufallsexperiments erwartet man, dass sich die relative
Häufigkeit mit der ein Ereignis in der Versuchsserie auftritt, um die Wahrscheinlichkeit dieses Ereignisses einpendelt und sich ihr immer mehr annähert (Wahrscheinlichkeit als zu erwartende relative Häufigkeit).
Das ist keine mathematische Aussage, sondern eine „Erfahrungstatsache“, man nennt sie das
empirische Gesetz der großen Zahl. In der Anfangszeit der Wahrscheinlichkeitsrechnung
wurde dies zunächst nicht weiter in Frage gestellt.
Später wurde durchaus gelegentlich geprüft, ob dies Gesetz wirklich gilt. Ein berühmtes Beispiel ist das Buch von John Kerrich, das in quasi-deutscher Kriegsgefangenschaft entstand.
Kerrich vertrieb sich seine Zeit damit, dass er 10.000 mal ein Münze warf und die Entwicklung der relativen Häufigkeiten notierte.
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Rolf Biehler
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Er visualisierte auch, wie die relativen Häufigkeiten noch schwanken, wenn man jeweils 1000
Würfe durchführt.
Die klassische Theorie hat verschiedene Grundprobleme
•
Wie bzw. in welchen Situationen lässt sich die Annahme gleichmöglicher Fälle rechtfertigen? (Begründungsproblem)
•
Wie entscheidet man sich, wenn die Ergebnisse der statistischen Experimente gegen
die Annahme sprechen, dass gleichwahrscheinliche Ergebnisse vorliegen? (Entscheidungsproblem bei Unverträglichkeit zwischen Theorie und Experiment)
•
Wann sprechen Daten überhaupt gegen die Annahme gleichwahrscheinlicher Ergebnisse, denn gewisse Abweichungen der relativen Häufigkeiten von der Wahrscheinlichkeit erwartet man ja immer. Kerrich hatte nach 10.000 Würfen eine relative Häufigkeit von 0,507 für „Kopf“. Spricht dies bereits gegen die Annahme, die Wahrscheinlichkeit von Kopf sei ½? (Diagnoseproblem einer Unverträglichkeit zwischen
Theorie und Experiment)
•
Was macht man, wenn man die günstigen und möglichen Fälle eines Ereignisses nicht
so schön vor jedem Experiment kennt wie beim Würfel (a priori Wahrscheinlichkeit),
sondern nur die relativen Häufigkeiten in einer Versuchsserie: Wie genau und sicher
kann ich dann die Wahrscheinlichkeit aus den Daten schätzen (statistische Wahrscheinlichkeit)? (Schätzproblem von Wahrscheinlichkeiten nur aus Daten)
Historisch war die klassische Theorie zunächst dadurch sehr erfolgreich, dass man in Fällen,
wo zunächst keine gleichwahrscheinlichen Ergebnisse vorlagen, doch die vorliegenden Fälle
so durch zunächst nicht sichtbare gleichwahrscheinliche Fälle darstellen könnte, dass eine
Verträglichkeit zwischen Daten und Theorie hergestellt werden konnte.
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Rolf Biehler
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4
Dabei warfen nicht die einfachen Zufallsexperimente mit Würfel, Münze und Urne Probleme
auf, sondern mehrfache Münz- und Würfelwürfe, bei denen man sehr genau günstige und
mögliche Fälle zählen musste, um eine Übereinstimmung mit Experimenten zu erhalten.
4.2 Stochastische Simulation
Computer haben eingebaute Zufallsgeräte, mit denen man verschiedene mögliche Ergebnisse
mit gleicher Wahrscheinlichkeit erzeugen kann. Die Hersteller garantieren, dass für diese Zufallsgeräte das empirische Gesetz der großen Zahl gilt und dass sich die produzierten Zufallsfolgen auch sonst praktisch nicht von realen Zufallsfolgen unterscheiden, die noch allerlei
weitere Eigenschaften haben, die wir jetzt noch nicht erörtern können. Wenn wir uns darauf
verlassen, dann können wir statt reale Experimente zu machen, unseren Computer als universelle Zufallsmaschine einsetzen, um
•
Theorien zu überprüfen (Theorieprüfung)
•
Vermutungen für und Hinweise auf theoretische Ergebnisse zu gewinnen (Heuristische Funktion) oder
•
Wahrscheinlichkeiten rein statistisch zu bestimmen (Schätzfunktion).
Wir benutzen zunächst 2 Zufallsmaschinen von Fathom
ganzeZufallszahl ( n; m ) : erzeugt eine ganze Zufallszahl zwischen den beiden ganzen
Zahlen n bis m (einschließlich der beiden Grenzen n und m); ganzeZufallszahl (1;6 ) ist
also äquivalent zu einem üblichen Würfel.
ZufallsWahl (" Objekt _1";… ;" Objekt _ k ") ist äquivalent zu einer Urne, in der sich die
Gegenstände Objekt_1 bis Objekt_k befinden. Sie werden immer mit gleicher Wahrscheinlichkeit gezogen. Maximal können hier 10 Objekte zur Wahl gestellt werden. Die
Namen müssen in „“ gesetzt werden. Bei Zahlen ist das ohne „“ möglich.
ZufallsWahl (" rot ";" rot ";" schwarz ") simuliert eine Urne mit 2 roten und einer
schwarzen Kugel (oder 20 roten und 10 schwarzen Kugeln).
Wir haben rechts einen Würfelwurf
100mal simuliert und die relativen Häufigkeiten ausgewertet. Theoretisch ist jeweils 1/6 zu erwarten, wozu es bei n = 100
natürlich noch deutliche Abweichungen
gibt.
Man beachte, dass der Computer ähnlich
wie ein realer Würfel die Einzelergebnisse
scheinbar irregulär hintereinander produziert. Dazu später mehr.
Wir demonstrieren, dass für die Zufallsgeräte von Fathom das Gesetz der großen
Zahl gilt. Wir haben jeweils 4 Wiederholungen bei n = 100, 1000, und 5000 Würfen.
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Rolf Biehler
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Histogramm
Würfel
5
Histogramm
Würfel
Histogramm
Würfel
0,30
0,30
0,30
Wurfergebnis1 0,20
Wurfergebnis1 0,20
Wurfergebnis1 0,20
0,10
0,10
0,10
0,00
0,00
0,00
0,30
0,30
0,30
Wurfergebnis2 0,20
Wurfergebnis2 0,20
Wurfergebnis2 0,20
0,10
0,10
0,10
0,00
0,30
0,00
0,30
0,00
0,30
Wurfergebnis3 0,20
Wurfergebnis3 0,20
Wurfergebnis3 0,20
0,10
0,10
0,10
0,00
0,00
0,00
0,30
0,30
0,30
Wurfergebnis4 0,20
Wurfergebnis4 0,20
Wurfergebnis4 0,20
0,10
0,10
0,10
1
Relative Häufigkeit =
2
3
4
5
1
6
6
1
Relative Häufigkeit =
2
3
4
1
6
5
6
1
Relative Häufigkeit =
2
3
4
5
6
1
6
Sowohl die Abweichungen vom theoretischen Wert 1/6 werden geringer bei wachsendem n
wie auch die Unterschiede zwischen den jeweils 4 Replikationen.
Ähnlich wie bei Kerrich können wir auch die Simulationen untersuchen:
Streudiagramm
Gesetz_der_großen_Zahl
0,58
0,56
0,54
0,52
0,50
0,48
0,46
0,44
0,42
0
2000
4000
6000
8000
10000
Anzahl
relHäufErfolg
relHäufErfolg1
relHäufErfolg2
relHäufErfolg3
relHäufErfolg4
relHäufErfolg5
relHäufErfolg6
In der letzten Graphik haben wir das Resultat von mehreren 10.000fachen Münzwürfen dargestellt. Man sieht, dass selbst bei n = 10.000 noch eine Schwankung um etwa einen Prozentpunkt existiert.
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4.3 Beispiel 1: Die Augensumme beim Doppelwürfel
Wir beginnen mit folgendem Spiel. Ein Spielfeld besteht aus einem Rechteck mit 11 mal 11
Kästchen. In der ersten Zeile sind die Zahlen 2 bis 12 eingetragen und es stehen dort Spielfiguren. Die jeweils 10 Felder über den Startfeldern können mit den Spielsteinen vorgerückt
werden. Es wird zwei Würfeln gewürfelt und die Augensumme beachtet. Jeder Spieler darf
sich eine Zahl zwischen 2 und 12 wählen. Wenn diese Zahl als Augensumme gewürfelt wird,
so darf man mit der entsprechenden Figur ein Feld weiterrücken. Gewonnen hat wer als erster
das Ziel erreicht.
Welche Zahl soll man als Spieler wählen? Oder ist es egal?
Zunächst ist klar, dass man mit jeder der Zahlen 2 bis 12 grundsätzlich auch gewinnen kann.
Haben manche Zahlen eine größere Chance als andere zahlen? Schon nach relativ wenigen
Versuchen wird klar, dass manche Zahlen immer wieder häufiger vorkommen als andere (2x
n = 100), die mittleren Zahlen erscheinen wahrscheinlicher, die Randzahlen weniger Wahrscheinlich.
Doppelwürfel
0
2
Punktdiagramm
4
6
8 10
Summe
12
14
Doppelwürfel
0
2
Punktdiagramm
4
6
8 10
Summe
12
14
Wie kann man ein Ergebnis theoretisch ermitteln mit der klassischen Formel?
Ws ( Ereignis ) =
Anzahl der für das Ereignis günstigen Fälle
Anzahl der möglichen Fälle
Wir analysieren, wie viele Kombinationen, wie viele „günstige Fälle“ es für die verschiedenen Augenzahlen gibt. Wir erwarten, dass die Augensummen mit mehr Kombinationsmöglichkeiten auch häufiger in den Spielen auftreten werden.
Wir zerlegen die verschiedenen Zahlen additiv:
2 = 1+1
3 = 2+1
4 = 3+1 = 2+2
5 = 4+1 = 3+2
6 = 5+1 = 4+2 = 3+3
7 = 6+1 = 5+2 = 4+3
8 = 6+2 = 5+3 = 4+4
9 = 6+3 = 5+4
10 = 6+4=5+5
11 = 6+5
12 = 6+6
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Rolf Biehler
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Nach diesen Überlegungen sind in der Tat einige Zahlen chancenreicher als andere. Die Zahlen 6, 7 und 8 scheinen die meisten Chancen und untereinander gleichen zu haben.
Wenn wir allen diesen Kombinationen die gleiche Chance geben, haben wir 21 mögliche Fälle. Das Ereignis, eine Augensumme von 7 zu erhalten, hätte beispielsweise die Wahrschein3 1
lichkeit
= .
21 7
Diese Theorie könnte man durch Experimente mit 2 Würfeln überprüfen. Wir überprüfen dies
durch Simulation
Wir machen uns einen Simulationsplan
1. Auswahl einer (zweier) für den doppelten Würfelwurf
2. Betätigen der Maschine: Einmaliger Wurf eines Doppelwürfels
3. Ermittlung der Augensumme
4. Wiederholung der Schritte 2 und 3: N – mal, z.B. N = 1000
5. Auswertung der Ergebnisse: Vergleich der jeweiligen Häufigkeiten
Kollektion 1
Wurf1
=
Wurf2
Augensumme <
ganzeZufallszahl ( 1; 6 ) ganzeZufallszahl ( 1; 6 ) Wurf1 + Wurf2
1
2
5
7
2
5
5
10
3
4
5
9
4
6
6
12
5
3
1
4
6
2
3
5
7
4
6
10
8
3
1
4
9
3
2
5
Bei 1000mal Würfeln ergibt sich die folgende Häufigkeitsverteilung:
Kollektion 1
Säulendiagramm
180
160
140
120
100
80
60
40
20
2
3
4
5
6
7
8
Augensumme
9
10
11
12
Anzahl ( )
Unsere Theorie wird qualitativ bestätigt: Mittlere Zahlen kommen häufiger. Aber im Detail
scheinen die experimentellen Daten kaum mit unserer Theorie verträglich. Die 2 ist nicht so
häufig wie die 3, die 4 und die 5 sind nicht gleich häufig, die 6, 7 und 8 sind nicht gleich häufig etc.
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Rolf Biehler
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Das Urteil, unsere Theorie sei falsch, hat ein gewisses Restrisiko. Wenn man das Experiment
wiederholt, kommt immer eine etwas andere Verteilung heraus, das qualitative Ergebnis wird
aber bestätigt.
Kollektion 1
Säulendiagramm
Kollektion 1
180
180
160
160
140
140
120
120
100
100
80
80
60
60
40
40
20
20
2
3
4
5
6
7
8
Augensumme
9
10
Anzahl ( )
11
12
Säulendiagramm
2
3
4
5
6
7
8
Augensumme
9
10
11
12
Anzahl ( )
Wir schauen uns noch mal die Resultate von 3 weiteren Simulationen numerisch an und vergleichen die mit der Theorie. Wir sehen die systematischen Abweichungen. Exemplarisch visualisieren wir die Abweichungen zwischen Theorie und Experiment .
Kollektion 1
Augensumme Kombinationen
Ws_Theorie_1
runde (
=
relProzent1
Kombinationen• 100
21
relProzent2
relProzent3
<
; 2)
1
2
1
4,76
2
1,7
2,8
2
3
1
4,76
6,2
6,1
6,7
3
4
2
9,52
8,3
8,8
9,1
4
5
2
9,52
9,3
11,4
9,6
5
6
3
14,29
15,9
13,6
15,6
6
7
3
14,29
17,7
16,6
17,3
7
8
3
14,29
13,6
11,2
16,6
8
9
2
9,52
11,3
15
9,3
9
10
2
9,52
7,1
8,6
6,6
10
11
1
4,76
5,8
4,9
5
11
12
1
4,76
2,8
2,1
1,4
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Die Abweichungsstruktur ist uneinheitlich bei n = 1000. Wir erhöhen auf n = 5000 und erhalten die folgenden Abweichungen.
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Rolf Biehler
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Spätestens jetzt werden wir die Richtigkeit unserer Theorie sehr stark anzweifeln.
Da wir der Simulation des Würfels jetzt vertrauen, haben wir also allen Anlass unserer kombinatorischen Analyse zu misstrauen.
Die folgende Idee hilft weiter: Die Zahl 3 kann z.B. entstehen, indem man auf dem ersten
Würfel eine 1 und beim zweiten eine 2 oder umgekehrt realisiert. Das wären 2 Möglichkeiten.
Hingegen kann die Zahl 2 nur auf eine Art und Weise entstehen. Wir haben also die möglichen unterschiedlichen Reihenfolgen nicht beachtet.
Wir erneuern unsere theoretische Analyse.
2 = 1+1
3 = 2+1 = 1+2
4 = 3+1 = 2+2 = 1+3
5 = 4+1 = 3+2 = 2+3 = 1+4
6 = 5+1 = 4+2 = 3+3 = 2+4 = 1+5
7 = 6+1 = 5+2 = 4+3 = 1+6 = 2+5 = 3+4
8 = 6+2 = 5+3 = 4+4 = 3+5 = 2+6
9 = 6+3 = 5+4 = 4+5 = 3+6
10 = 6+4=5+5 = 4+6
11 = 6+5 = 5+6
12 = 6+6
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1
2
3
4
5
6
1
2
3
4
5
6
7
2
3
4
5
6
7
8
3
4
5
6
7
8
9
4
5
6
7
8
9
10
5
6
7
8
9
10 11
6
7
8
9
10 11 12
Rolf Biehler
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Die Tabelle liefert eine übersichtliche Struktur aller 36 möglichen Fälle, durch Abzählen gewinnt man die jeweiligen günstigen Fälle für die verschiedenen Augensummen.
Unsere neue theoretische Analyse stimmt nun qualitativ mit den Simulationsergebnissen über
ein. Wir überprüfen auf quantitative Übereinstimmung bei N = 5000 Simulationen.
Bei einer erneuten Simulation erhalten wir die folgenden 4 Verteilungen der relativen Häufigkeiten, die wir mit unserer Theorie vergleichen. Wir stellen fest, dass sie einigermaßen verträglich sind mit der Theorie (Genaueres später). Die Abweichungen sind wesentlich geringer
als noch bei der ersten Theorie.
Kollektion 1
Augensumme Kombinationen
Ws_Theorie_1
runde (
=
relProzent1 relProzent2 relProzent3 <
Kombinationen• 100
36
; 2)
1
2
1
2,78
2,88
2,68
3,16
2
3
2
5,56
5,14
5,4
5,76
3
4
3
8,33
8,1
8,02
8,32
4
5
4
11,11
12,04
11,38
10,78
5
6
5
13,89
13,28
14,78
12,7
6
7
6
16,67
17,02
15,84
17,16
7
8
5
13,89
13,82
14,12
13,96
8
9
4
11,11
11,1
11,26
11,48
9
10
3
8,33
8,44
8,5
8,1
10
11
2
5,56
5,54
5,08
5,68
11
12
1
2,78
2,64
2,94
2,9
12
4.4 Rechtfertigung der „Theorie“ über den Doppelwürfel – ideale
und reale Zufallsgeräte und Zufallsexperimente
Die Annahme, dass die 2 Würfel unterscheidbar sind, wir also 36 gleichmögliche Fälle haben,
liefert eine qualitativ wesentlich bessere Übereinstimmung mit den Daten als Theorie 1. Das
man die Würfel unterscheiden muss, ist den meisten Leuten auch plausibel. Man kann sich
nun auch fragen, ob es auch theoretisch plausibel ist, dass alle 36 Kombinationen gleichwahrscheinlich sind, bzw. unter welchen Bedingungen das der Fall ist. Es ist z. B. sicher nicht der
Fall, wenn die Würfel magnetisch sind, dann würden sie zusammen kleben und bestimmte
Zahlenkombinationen wären gar nicht möglich.
Ein Gegenbeispiel wären auch folgendermaßen gekoppelte Würfel:
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Rolf Biehler
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Vorsicht!
„gekoppelte Würfel“ (mit relativ steifem Kabel oder Feder)
(1,1)
sind in diesem Fall vermutlich nicht gleichwahrscheinlich!
(1, 6)
Die Ergebnisse des zweiten Würfels sind hier von den Ergebnissen des ersten Würfels abhängig. Es besteht eine Wechselwirkung zwischen den Würfeln.
Falls sich die beiden Würfel nicht „beeinflussen“ kann man in der Regel davon ausgehen,
dass alle 36 Kombinationen die gleiche Wahrscheinlichkeit haben. Zwei Würfel im Würfelbecher beeinflussen sich zwar de facto auch sehr stark, aber die Erfahrung der Glücksspieler
zeigt offenbar, dass sie sich nicht so beeinflussen, dass irgendeine Zahlenkombination wahrscheinlicher als eine andere ist.
Die Sachlage ist etwas verworren: Macht die Mathematik überhaupt Aussagen über reale
Würfel und welcher Art sind diese?
Ein Standpunkt ist: Die Stochastik macht ihre Aussagen über ideale Würfel, deren Seiten mit
genau der Wahrscheinlichkeit 1/6 fallen, bzw. über ideale Doppelwürfel, die aus 2 idealen
Würfeln bestehen, die sich aber wechselseitig nicht beeinflussen, so dass die Wahrscheinlichkeit für alle Kombinationen von Würfelergebnissen gleich ist, und zwar 1/36.
Auf reale Würfel und Doppelwürfel ist die Stochastik dann anwendbar, wenn sie den idealen
Bedingungen möglichst nahe kommen. Das müsste man im Zweifelsfall genau prüfen, indem
man die einzelnen Würfel und den Wurfmechanismus untersucht, bzw. indem man prüft, ob
die Würfelergebnisse mit den Vorhersagen, die man für den idealen Würfel macht, verträglich
sind.
Wir können den Sachverhalt auch mit dem Begriff des mathematischen Modells beschreiben:
Mathematisches Modell
•
idealer Würfel, oft auch Laplace-Würfel genannt
•
idealer Laplace-Doppelwürfel, bestehend aus 2 Laplace-Würfeln, bei denen alle 36 Kombinationen beim Würfeln gleichwahrscheinlich sind
Realsitation
•
Reale Würfel und Doppelwürfel zusammen mit gewissen Wurfmechanismen
Modellbildungsheuristik
•
Physikalisch-geometrisch symmetrische Würfel verhalten sich in der Regel
ähnlich wie Laplace –Würfel, so dass es oft nahe liegt ein solches Modell anzunehmen
•
Falls sich 2 Würfel nicht beeinflussen, dann liegt es nahe, einen idealen Laplace-Doppelwürfel als Modell anzunehmen
Validierung eines Modells
•
Ob das Modell eines idealen Würfels (Doppelwürfels) auf eine Realsituation
zutrifft muss ggf. begründet werden, z.B. durch physikalische Argumente
(Aufbau der Würfel) oder durch statistische Argumente (Verträglichkeit der
Daten mit der Annahme eines idealen Würfels).
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12
Das mathematische Modell wird hier zunächst nicht durch eine Formel und ein mathematisches Objekt bekannter Art repräsentiert. Das ist ähnlich in der Geometrie, wo man es auch
mit idealen Punkten, idealen Geraden und idealen Körpern (Kegel, Kugeln) zu tun hat.
Ähnlich wie ideale Würfel stehen auch ideale Münzen in unserem Modellierungsrepertoire
zur Verfügung, besonders flexibel adaptierbar ist aber die ideale Urne.
Mathematisches Modell
•
Ziehung aus einer idealen Urne mit k Objekten, jedes Objekt hat die gleiche
Chance gezogen zu werden.
Realsitationen
•
Lottoziehung, Roulette, Stichproben aus einer Population, bei der jedes Mitglied die gleiche Chance hatte, gezogen zu werden.
Modellbildungsheuristik
•
Ein Auswahlverfahren, das kein Objekt bevorzugt, ist ein Kandidat dafür,
durch eine Ziehung durch ideale Urne modelliert zu werden.
Validierung eines Modells
•
Ob das Modell der Ziehung aus einer idealen Urne auf eine Realsituation zutrifft muss ggf. begründet werden, z.B. durch physikalische Argumente oder
durch statistische Argumente (Verträglichkeit der Daten mit der Annahme einer idealen Urne). Wählt man z.B. zufällig eine Person aus dem Kasseler Telefonbuch, so entspricht dieses Auswahlverfahren nicht der Situation, dass man
alle Kasseler mittels eines Repräsentanten (z.B. mittels eines Zettels) in eine
ideale Urne legen würde, denn man gibt denjenigen Personen ohne eigenen Telefonanschluss überhaupt keine Chance, gezogen zu werden.
In der Mathematik geht man nun noch eine Abstraktionsstufe weiter. Die Essenz einer idealen
Urne ist eigentlich folgendes
•
Es sind endlich viele Ergebnisse w1, w2 ,… wk bei einem Auswahlverfahren möglich, diese können wir uns in einer Ergebnismenge W = {w1, w2 ,… wk } zusam-
mengefasst denken.
1
zu.
k
•
Alle Ergebnissen ordnen wir die gleiche „Wahrscheinlichkeit“ P ( wi ) =
•
Teilmengen E von W kann man als „Ereignisse“ interpretieren. Ihnen ordnet
man als Wahrscheinlichkeit den Wert
E
Anzahl der Elemente von E
=
P(E) =
W Anzahl der Elemente von W
=
Anzahl der für das Ereignis E günstigen Fälle
Anzahl der möglichen Fälle
In den Schulbüchern wird solch eine Situation auch manchmal als Laplace-Experiment bezeichnet. Auch hier ist wieder ein ideales Experiment gemeint und bei jeder konkreten Situation muss entschieden werden, ob man sie als Laplace-Experiment bzw. als ideale Ziehung
aus einer Urne modellieren kann.
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Rolf Biehler
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