Parlamentswahl in Bulgarien - Hanns-Seidel

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POLITISCHER HINTERGRUNDBERICHT
Projektland: Bulgarien
Datum: 10. Oktober 2014
Parlamentswahl in Bulgarien
Eine stabile Reformregierung für das Land?
Am 5. Oktober 2014 fanden in Bulgarien die vorgezogenen Parlamentswahlen statt. Die
Wahlbeteiligung lag bei knapp 50 %. Nach den offiziellen Wahlergebnissen vom 9.
Oktober 2014 ist die konservative Partei GERB mit 32,67 % der Wahlsieger. Sie gewinnt
die Parlamentswahl in Bulgarien zum dritten Mal in Folge. Wegen der geringen
Wählerzahl der BSP (Linke Koalition - Sozialisten) ist GERB die einzige große Partei im
Parlament. Eine Regierungsbildung ist ohne GERB nicht möglich. Bei diesem Punkt sind
sich auch alle Parteien einig. Eine Regierung zu stellen, ist eine schwierige Aufgabe für
den GERB-Vorsitzenden Boiko Borissov: Seine Partei hat 84 Mandate und für eine
Parlamentsmehrheit bräuchte er mindestens 121 Mandate. Deswegen kommentierten
einige Politikwissenschaftler, dass für Bulgarien die Gefahr eines ”italienischen
Szenarios“ bestünde –instabile Regierungen mit kurzer Dauer und sich wiederholende
ergebnislose Parlamentswahlen.
GERB gab am Tag nach der Bekanntgabe der offiziellen Wahlergebnisse eine erste
Pressekonferenz und erklärte, dass sie mit allen parlamentarisch vertretenen Parteien
Gespräche und eventuell Verhandlungen für die Bildung einer Regierung der
„gemeinsamen Verantwortung“ führen werde. Bislang hat keine der anderen Parteien
definitiv erklärt gegen eine Koalitionsregierung zu sein. Während der Pressekonferenz
verkündete der Parteivorsitzende Borissov, dass er auf keinen Fall eine
Hanns-Seidel-Stiftung_Politischer Hintergrundbericht_Bulgarien _10. Oktober 2014
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Koalitionsregierung mit der DPS (liberale Partei) führen werde, weil dies von den GERBWählern nicht akzeptiert werden würde. Eine parlamentarische Unterstützung für die
Regierung ist aber sehr wahrscheinlich. Borissov sagte noch, dass die Variante für eine
breite Koalition mit den Sozialisten in Bulgarien an erster Stelle wegen des niedrigen
Ergebnisses der BSP nicht möglich sei. GERB und BSP haben zusammen nur 123
Abgeordnete von 240 Abgeordneten insgesamt. Bei der Kräfteverteilung in diesem
Parlament ist eine vor den Wahlen prognostizierte Koalition zwischen GERB und dem
Reformblock alleine auch nicht möglich: Sie kommen auf insgesamt 107 Stimmen.
Realisierbar ist eine Koalition von mehreren Parteien. In den Medienkommentaren wird
eine Dreierkoalition zwischen GERB, dem Reformblock und der Patriotischen Front als die
wahrscheinlichste angesehen. Welche Koalition und ob überhaupt es überhaupt eine
Koalition geben wird, wird erst in einigen Wochen klar werden. Im Falle der
Nichteinigung wird der Staatspräsident Neuwahlen ansetzen und die Interimsregierung
wird auch in den nächsten Monaten im Amt bleiben.
Zum ersten Mal nach der Wende gibt es in Bulgarien so viele (acht) parlamentarische
Parteien. Die niedrige Wahlbeteiligung und damit sinkt auch die Zahl der notwendigen
Stimmen für die Überwindung der Vier-Prozent-Hürde, mag eine Erklärung dafür sein. Nur
6 % der Wähler haben Parteien gewählt, die an dieser Hürde scheiterten.
Das Wahlergebnis und die daraus folgende Verteilung der Mandate sind aus der folgenden
Tabelle ersichtlich:
Partei
Prozente
Wählerstimmen Mandate
GERB
32,67 %
1 072 491
84
BSP- Linkes Bulgarien (Linke Koalition -
15,40 %
505 527
39
DPS (liberale Partei)
14,84 %
487 134
38
Reformblock (Koalition von 5 konservativen
8,89 %
291 806
23
7,28 %
239 101
19
Bulgarien ohne Zensur (populistische Partei)
5,69 %
186 938
15
Ataka (Nationalisten)
4,52 %
148 262
11
ABV (neue sozialdemokratische Partei des
4,15 %
136 223
11
Sozialisten)
Parteien)
Patriotische Front (Koalition von 2
“gemäßigten” nationalistischen Parteien)
früheren Präsidenten Parvanov)
Hanns-Seidel-Stiftung_Politischer Hintergrundbericht_Bulgarien _10. Oktober 2014
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Die Ergebnisse der Europawahl vom Mai 2014 – Wahlsieg für die oppositionelle Partei
GERB und großer Verlust der mitregierenden BSP – markieren den Beginn eines
Destabilisierungsprozesses mit wirtschaftlichen (Bankenkrise, gravierende finanzielle
Probleme in den Bereichen Gesundheitswesen und Energie) und politischen Dimensionen,
der bald zum Zerfall der regierenden Koalition (BSP und DPS) und zu der vorgezogenen
Parlamentswahl am 5. Oktober 2014 führte. Ende Juli erklärte der Premierminister
Plamen Orescharski den Rücktritt seiner Regierung nach nur vierzehn Monaten im Amt.
Am 6. August wurde das Parlament verfassungsgemäß vom Staatspräsidenten aufgelöst,
der Wahltermin für ein neues Parlament festgelegt und eine Interimsregierung mit
Ministerpräsident Georgi Bliznaschki gebildet.
Die Partei ABV wurde vor einigen Monaten von dem früheren Staatspräsidenten und
Vorsitzenden der BSP, Georgi Parvanov, gegründet. Infolge seiner Kritik an der Leitung
der BSP wurden er und andere Politiker von dieser Partei ausgeschlossen. Die
Überwindung der Vier-Prozent-Hürde für die Parlamentswahl ist zweifellos ein großer
Erfolg für diese Partei, womit sich das Ende der Monopolstellung der BSP im linken
politischen Raum abzeichnet.
Das Ergebnis der Patriotischen Front, einer Koalition von zwei nationalistischen Parteien
– NFSB (Nationale Front für die Rettung Bulgariens) und VMRO (älteste nationalistische
Partei in Bulgarien) – ist keine Überraschung. Bei der letzten Parlamentswahl war eine
der Parteien, die NFSB, bereits fünftstärkste Partei mit 3,71 %. Das politische Profil
dieser neuen Koalition ist eher unklar, sie plädiert an erster Stelle für Konsens aller
politischen Parteien in Bulgarien, um zumindest die wichtigsten Fragen für die Zukunft
des Landes zu lösen.
Bei den Umfragen wurden steigende Werte für die Partei Ataka erst in der letzten Woche
vor der Wahl registriert. Nach ihrer stillen Unterstützung für die Regierung von Oresharski
hatte die Partei viel eingebüßt – bei der Europawahl im Mai hatte sie nur 2,97 % erreicht.
Politische Kommentatoren erklären den erneuten Zuwachs von Wählern dieser Partei mit
der, eine Woche vor den Wahlen, beschlossenen Erhöhung der Strompreise um 10 %,
sowie mit der immer stärker werdenden prorussischen Propaganda von Ataka.
Trotz der vielen Skandale jeglicher Art um Nikolai Barekov, Vorsitzender der neuen
populistischen Partei “Bulgarien ohne Zensur“, schaffte seine Formation den Eintritt ins
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Parlament. Für diese Wahl schloss er ein Abkommen mit der Partei “Lider“ – korporative
Partei eines Energieoligarchen.
Der Reformblock, eine Koalition von fünf konservativen Parteien, erzielte ein besseres
Ergebnis als bei der Europawahl. Bereits in den ersten Tagen nach der Wahl entflammten
Streitigkeiten zwischen Vertretern der Koalitionsparteien des Reformblocks wegen
unterschiedlichen Bedingungen für die Unterstützung einer GERB-Regierung,
beziehungsweise für die Beteiligung daran. Die „Demokraten für ein starkes Bulgarien“
(die Partei des früheren Ministerpräsidenten Ivan Kostov) sind gegen eine Unterstützung
von Boiko Borissov als Ministerpräsident. Die UDK (Union der demokratischen Kräfte) und
die Bewegung „Bulgarien der Bürger“ der früheren bulgarischen EU-Kommissarin Meglena
Kuneva würden hingegen eine von Borissov geführte Regierung unterstützen. Der Zerfall
der Koalition des Reformblocks in den ersten Tagen des neuen Parlaments ist
wahrscheinlich.
Das Ergebnis der bislang regierenden BSP ist ein großer Misserfolg für diese Partei und
das niedrigste seit der Wende 1989. Im Vergleich zu den vorgezogenen Parlamentswahlen
2013 haben die Sozialisten jetzt um die Hälfte weniger Stimmen bekommen. Einen
plausiblen Grund dafür sehen alle Kommentatoren in der von BSP in Koalition mit der DPS
mitgetragenen Regierung von Oresharski, gegen welche es eine heftige, monatelange
Bürgerprotestbewegung wegen der Dominanz von oligarchischen Interessen gab – und
die deshalb von einer großen Mehrheit der Bevölkerung missbilligt wurde.
Ein sich wiederholendes Phänomen ist das sehr gute Ergebnis der DPS, welche ebenfalls
die Regierungsverantwortung für das Kabinett Oresharski trug. Diese Partei hat ihr
Ergebnis im Vergleich zu der vorherigen Parlamentswahl verbessert, das nun knapp nach
jenem der zweitstärksten Partei BSP liegt. Der bekannte Medienmogul Deljan Peevski,
dessen Wahl zum Vorsitzenden des Geheimdienstes im Juni 2013 die Proteste gegen die
Orescharski-Regierung entflammte, wurde erneut zum Abgeordneten dieser Partei
gewählt. Schon am Wahlabend wurde klar, dass die DPS neben den gewohnten Stimmen
der türkischen Minderheit etwa 50 % aller Roma-Stimmen für sich gewinnen konnte.
Die Präsenz so vieler Parteien im Parlament ermöglicht GERB mehrere Optionen für eine
Regierungsbildung. Fast alle Politiker sind der Meinung, dass Neuwahlen das
schlechteste Szenario für Bulgarien wären.
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Dafür sprechen auch mehrere objektive Faktoren:
1) Die Bürger sind der Wahlen überdrüssig und die Parteien haben auch keine
Kapazität mehr für effektive Wahlkampagnen. Dies würde höchstwahrscheinlich
zum gleichen Wahlergebnis führen bei gleicher, wenn nicht noch niedrigerer,
Wahlbeteiligung.
2) Bulgarien braucht dringend eine reguläre Regierung und ein funktionierendes
Parlament, damit der diesjährige Staatshaushalt aktualisiert und der
Staatshaushalt für 2015 verabschiedet wird. Die Interimsregierung hat ein
Aktualisierungsprojekt für den diesjährigen Haushalt mit zusätzlichen 4
Milliarden Leva (1 Euro=1.95 Leva) erarbeitet. Bei der Revision der Finanzen hat
diese Regierung festgestellt, dass die Ausgaben um 2 Milliarden Leva höher als
geplant ausfielen und die staatlichen Einnahmen andererseits unrealistisch um 2
Milliarden Leva höher eingeplant waren. Dies würde aber zu einem jährlichen
Haushaltsdefizit von über 4 % führen. Die Entscheidung darüber muss von einer
regulären Regierung mit der Sanktion des Parlaments getroffen werden.
3) Mehrere Sektoren stehen vor dem Finanzkollaps. Am kritischsten ist die Lage im
Gesundheitswesen und im Energiebereich. Bereits im Sommer wurde die
öffentliche Gesundheitskasse mit zusätzlichen 200 Millionen Leva vom
Staatshaushalt wegen der Gefahr eines Konkurses ausgestattet. Wenn man keine
dringenden Reformen unternehmen würde, stünde das ganze System im nächsten
Jahr vor dem Kollaps. Ähnlich ist die Situation im Energiebereich. In den letzten
12 Monaten ist die Neuverschuldung der nationalen Energiegesellschaft in Höhe
von 1 Milliarde Leva gestiegen und erreicht heute 3 Milliarden Leva. Ab dem 1.
Oktober 2014 wurden die Strompreise um knapp 10 % erhöht, trotzdem wird die
Neuverschuldung für das nächste Jahr 700 Mio. Euro erreichen. Grundlegende
Reformen des Sektors könnte nur eine stabile Regierung durchsetzen. Die
Hauptprobleme sind die hohen Strompreise in den langfristigen Kaufverträgen mit
Herstellern grüner Energie sowie mit Betreibern einiger Kohlekraftwerke.
4) Seit Juni 2014 ist die KTB-Bank (Corporate Commercial Bank), die viertgrößte im
Lande, geschlossen und steht unter spezieller Aufsicht der Zentralbank. Dies ist
die Folge eines Oligarchenkrieges, fragwürdiger Handlungen von mehreren
Institutionen – an erster Stelle ist die Passivität der Zentralbank zu nennen– und
aufgrund von Liquiditätsengpässen der KTB-Bank sowie wegen des Verdachts auf
Veruntreuung von Geldern. Gleichzeitig sind vier Monate lang alle Kundenkonten
gesperrt. Laut EU-Direktive sind alle Einlagen auf Konten bis 100.000 Euro
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staatlich garantiert. In dem Reservefond dafür gibt es 2 Milliarden Leva, aber für
die Auszahlung dieser garantierten Summen werden insgesamt 4 Milliarden Leva
gebraucht. Es muss entschieden werden, ob die Bank nun saniert werden kann
(und wie) – oder in Konkurs mit sofortiger Auszahlung der garantierten Summen
gehen muss – eine Entscheidung, die zweifellos die nächste reguläre Regierung
treffen soll.
Bogdan Mirtchev
Der Autor ist Projektleiter der Hanns-Seidel-Stiftung in Sofia, Bulgarien
IMPRESSUM
Erstellt: 10. Oktober 2014
Herausgeber: Hanns-Seidel-Stiftung e.V., Copyright 2014
Lazarettstr. 33, 80636 München
Vorsitzende: Prof. Ursula Männle, Staatsministerin a.D.,
Hauptgeschäftsführer: Dr. Peter Witterauf
Verantwortlich: Dr. Susanne Luther, Leiterin des Instituts für Internationale Zusammenarbeit
Tel. +49 (0)89 1258-0 | Fax -359
E-Mail: [email protected] | www.hss.de
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