15 Psychotherapie

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Psychotherapie
Peter Neu
Fallbeispiel
Ein 24-jähriger Patient wird nach Betreuungsrecht mit Behandlungsauftrag aufgrund einer
manischen Episode mit psychotischen Symptomen untergebracht. Die Vordiagnosen sprechen
von einer bipolaren affektiven Störung und einer
Persönlichkeitsstörung aus dem Cluster A. Vom
Vater des Patienten wird folgende Fremdanamnese erhoben:
Der Patient habe ein hohes prämorbides Intelligenzniveau und sein Abitur mit Auszeichnung
bestanden. Es habe jedoch in den letzten Jahren
große Schwierigkeiten im sozialen und beruflichen Bereich gegeben, auch außerhalb der
Krankheitsepisoden der affektiven Störung: ausgeprägte, teils auch aggressive Konflikte mit den
Eltern und immer wieder heftige Auseinandersetzungen mit Kommilitonen und Mitbewohnern im Studentenwohnheim. Der Patient habe
die Tendenz, sein soziales Umfeld für Misserfolge in seinem Leben verantwortlich zu machen
und entwickle dann Aggressionen, die auch in
körperlicher Gewalt mündeten. Aufgrund fehlender Krankheitseinsicht setze er prophylaktische Medikamente rasch wieder ab, was zu seiner häufigen Wiedererkrankung führe. Trotz starker Begeisterung für sein Physikstudium sei es
dem Patienten bisher nicht gelungen, auch nur
eine Prüfung erfolgreich abzuschließen, weil er
häufig wiedererkranke. Er selbst halte dies für
die Folge des bevormundenden und übergriffigen Verhaltens seiner Eltern, die ihn mithilfe der
psychiatrischen Klinik immer wieder daran hindern wollen, sein Studium zu absolvieren. Während der diversen stationären Behandlungen sei
es immer wieder zu starker körperlicher Gewalt
gegen das Klinikpersonal gekommen. Aus vielen
Kliniken sei er häufig nur teilremittiert entlassen
worden. Sein Vater berichtet ferner, dass sein
Sohn vor Ausbruch der affektiven Störung schon
immer sehr zurückgezogen und einzelgängerisch
gewesen sei. Er sei durch Kritik immer sehr leicht
verletzbar gewesen. Der Vater ist sehr verzweifelt, weil sein Sohn immer noch keine Ausbildung
hat und er aufgrund seiner Krankheitsuneinsichtigkeit und Ablehnung jeglicher Hilfsangebote im
Begriff sei, seine Zukunft zu zerstören.
Bei Aufnahme präsentiert sich ein stark erregter
Patient mit Größenideen, die die Kriterien eines
Wahns erfüllen, und mit Verfolgungs- und Beeinträchtigungserleben, die jedoch nicht die Wahnkriterien erfüllen. Der Patient weist eine deutlich
vernachlässigte Körperpflege auf. Er ist aggressiv gereizt, logorrhöisch, getrieben und unruhig.
Er ist eingeengt darauf, dass er zu Unrecht in der
Klinik sei und ihm nun kostbare Zeit verloren gehe, sein Studium voranzubringen. Eine Behandlung lehnt er als unnötig kategorisch ab. Er verlangt stattdessen vehement, dass man ihn sofort
zur Universität gehen lassen soll. Obwohl er zusagt, keine Gewalt anzuwenden, kommt es wenig später auf Station zu heftigen Aggressionen
mit Sachbeschädigung und Körperverletzung.
15.1 Besonderheiten
der Psychotherapie
auf der Akutstation
Für jedes eigene Krankheitsbild, das bisher besprochen wurde, existieren wirksame psychotherapeutische Verfahren. Darauf wurde teil-
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15 Psychotherapie
Tab. 15-1 Zu fördernde Verhaltensweisen/Fähigkeiten
und zu vermindernde Verhaltensweisen/Symptome
Verhaltensweisen/
Fähigkeiten, die gefördert werden sollen
Verhaltensweisen/
Symptome, die vermindert werden sollen
쐌
쐌
쐌
쐌
쐌 Aggression
쐌 Angst
쐌 Antriebsminderung
Tagesstruktur
Soziale Kompetenz
Krankheitseinsicht
Compliance bei der
Behandlung
쐌 Körperpflege
쐌 Selbstständigkeit
weise bereits in Teil II »Spezielle Krankheitsbilder« eingegangen. Diese Psychotherapieverfahren können und sollten selbstverständlich
je nach Stadium des Krankheitsverlaufes bereits auf der Akutstation begonnen und dann
gegebenenfalls auf peripheren Stationen, im
ambulanten oder teilstationären Bereich weitergeführt werden. In diesem Buch soll nicht
noch einmal im Detail auf diese spezifischen
Psychotherapieverfahren eingegangen werden,
hierzu existiert bereits eine ausreichend große
Zahl an Literatur. Wir wollen in diesem Kapitel jedoch auf psychotherapeutische Mechanismen hinweisen, die besonders in dem spezifischen Setting einer Akutstation zum Tragen
kommen und für die Unterstützung einer erfolgreichen Behandlung genutzt werden können. Selbst wenn die psychotherapeutischen
Möglichkeiten auf einer Akutstation eher rudimentär und wenig differenziert erscheinen
mögen, so können sie dennoch für den Therapieerfolg sehr wichtig sein. Um sich die Anwendbarkeit von Psychotherapieelementen auf
einer Akutstation zu vergegenwärtigen, müssen Sie sich klar machen, dass eine Akutstation
eine spezialisierte Station ist. In der klinischen
Praxis existieren inzwischen viele andere, auf
bestimmte Erkrankungen spezialisierte Stationen, wie z. B. solche zur Behandlung von
Borderline-Persönlichkeitsstörungen oder affektiven Erkrankungen. Eine Spezialstation ist
sowohl in medikamentöser als auch in psychotherapeutischer Hinsicht auf die Krank-
heitsbilder, die sie behandeln soll, eingerichtet.
Das Besondere dabei ist, dass das Behandlungsteam als psychotherapeutische Einheit wirken kann. Dies macht erst die Besonderheit
und Effektivität einer Spezialstation aus und
unterscheidet sie damit z. B. von einer ambulanten Praxis. Darauf soll in diesem Kapitel
eingegangen werden. Wir beschränken uns in
diesem Buch generell auf verhaltenstherapeutische Elemente. Die Verhaltenstherapie ist eine
effektive und zeitökonomische Therapiemethode, die den Notwendigkeiten einer Therapie
auf einer Akutstation gut Rechnung trägt. Es
soll aber betont werden, dass es nicht auch andere Behandlungskonzepte geben kann, die
sich z. B. an tiefenpsychologisch orientierter
Psychotherapie anlehnen und die sich für die
Akutstation als ebenso geeignet erweisen.
Wir müssen uns immer wieder vor Augen führen, dass die Patienten auf einer Akutstation
sehr schwer krank sind und wir daher von einer
sehr eingeschränkten Fähigkeit, aber auch sehr
geringen Bereitschaft zur Psychotherapie ausgehen müssen. Selbst wenn es dem individuellen Patienten nicht in allen Facetten gerecht
werden kann und daher im Einzelfall modifiziert und ergänzt werden muss, so können
dennoch allgemein einige Symptome bzw. Verhaltensweisen formuliert werden, die häufig
bei Erkrankungen auf einer Akutstation vorkommen und die effektiv therapiert werden
sollen. Diese sind in Tabelle 15-1 aufgelistet.
15.2 Verhaltenstherapeutische Interventionen
15.2.1 Konditionierung
Die Konditionierung gehört zu den grundlegendsten Mechanismen, die Verhalten beeinflussen können, und ist fester Bestandteil sowohl in der Erklärungstheorie als auch in den
Behandlungsansätzen zahlreicher psychischer
Störungen. Vielen verhaltenstherapeutischen
15.2 Verhaltenstherapeutische Interventionen
Techniken liegt die Konditionierung zugrunde. Bei der Konditionierung unterscheidet man
die klassische und die operante Konditionierung.
Klassische Konditionierung
Bei der klassischen Konditionierung handelt
es sich um assoziatives Lernen, bei dem das
Individuum aus dem Auftreten von Reizbedingungen Beziehungen zwischen Ereignissen in seiner Umwelt lernt. Ein ursprünglich
neutraler Stimulus wird mit einem unkonditionierten Reiz zeitlich verknüpft, der eine
unkonditionierte Reaktion auslöst. Nach mehreren Paarungen des konditionierten und unkonditionierten Stimulus löst eine alleinige
Präsentation des konditionierten Stimulus eine
konditionierte Reaktion aus, die der unkonditionierten Reaktion ähnelt.
Operante Konditionierung
Bei der operanten Konditionierung handelt es
sich um Veränderungen der Auftretenswahrscheinlichkeit von Verhalten durch seine Konsequenzen. Positive Konsequenzen oder der
Wegfall negativer Reize erhöhen die Auftretenswahrscheinlichkeit eines Verhaltens. Die
Darbietung positiver Konsequenzen (Verstärker) wird positive Verstärkung, der Wegfall
von negativen Reizen negative Verstärkung
genannt. Der Wegfall positiver Reize vermindert die Auftretenswahrscheinlichkeit eines
Verhaltens und führt schließlich zu dessen Löschung. Die Darbietung von negativen Konsequenzen nennt man Bestrafung. Löschung ist
nicht mit Bestrafung gleichzusetzen. Jedoch
wird das Ausbleiben positiver Konsequenzen
mitunter als belastend und als Bestrafung erlebt, daher sollten immer gleichzeitig positive
Verstärker angeboten werden.
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Beispiel für eine erfolgreiche Löschung
Ein 3-jähriger Junge ist lange krank und bekommt während der Behandlung viel Zuwendung von den Eltern. Nun schläft er nachts nicht
mehr allein ein und schreit unentwegt, bis sich
die Eltern ans Bett setzen und ihn etwa 1 Stunde
beruhigen, bis er einschläft. Lösung: Die Eltern
bringen das Kind wie gewohnt liebevoll ins
Bett und verlassen das Kinderzimmer. Danach
schauen sie erst alle 10, dann alle 15, dann alle
20 Minuten nach dem Kind, gleichgültig ob es
schreit oder nicht. Diese Abstände werden in
den nächsten Tagen regelmäßig erhöht (Margraf
2000).
Cave
Löschung sollte eine Methode der 2. Wahl sein.
Wenn sie eingesetzt wird, sollte dies immer nur
unter gleichzeitigem Angebot von positiven Verstärkern erfolgen.
!
Besonderheiten auf der Akutstation
Positive Verstärker auf einer Akutstation können mannigfaltig sein. Es lassen sich prinzipiell 3 Klassen von Verstärkern unterscheiden:
soziale Verstärker (Zuwendung, Aufmerksamkeit), materielle Verstärker (z. B. Zigaretten)
und Aktivitäten (z. B. Ausgang, selbstständige
Aktivitäten). Zur Löschung geeignet sind dagegen beispielsweise Verwehrung von Aufmerksamkeit oder Ignorieren bis hin zu Entzug von Privilegien. Zum Aufbau eines neuen
Verhaltens ist kontinuierliche Verstärkung besonders wichtig. Das Löschen unerwünschten
Verhaltens gelingt jedoch sehr viel schwerer
und ist allenfalls dann einsetzbar, wenn es mit
der positiven Verstärkung eines neuen Verhaltens kombiniert wird. Bestrafung sollte
überhaupt nicht als verhaltenstherapeutisches
Mittel im stationären Rahmen eingesetzt werden.
Die Akutstation ist hier ein besonders sensibler Bereich, denn viele einschränkende Maßnahmen, die natürlich die Auftretenswahrscheinlichkeit von Verhalten erhöhen oder
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