Vortrag: Herr Woock, Verden, 19.03.2002

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Niedersächsisches Justizministerium
NS-Justiz und NS-Juristenkarrieren
nach 1945 im Landgerichtsbezirk Verden
Vortrag von Joachim Woock
Vortrag von Joachim Woock
(Förderverein Regionalgeschichte des Landkreises Verden 1933 – 1945 e.V.)
am 19. März 2002 im Landgericht Verden
Anlässlich der Wanderausstellung „Justiz im Nationalsozialismus –
Über Verbrechen im Namen des Deutschen Volkes“
im Landgericht Verden
Gliederung
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
NS-Rechtsverständnis und die Dimension der „Blutjustiz“
„Geschlechtsverkehr (GV) - Verbrechen“
Verurteilungen und Hinrichtungen von Zwangsarbeitern
Das Plünderungs-Sondergericht Verden
Das Erbgesundheitsgericht Verden
Lebensläufe von Juristen am Landgericht Verden
Karrieren von NS-Juristen nach 1945 am Landgericht Verden
1. NS-Rechtsverständnis und die Dimension der „Blutjustiz“
Sehr geehrte Damen und Herren, bevor ich auf die NS-Rechtsprechung im Landgerichtsbezirk
Verden eingehe, möchte ich auf das Rechtsverständnis im so genannten „Dritten Reich“ und auf
die Dimension dieser „Rechtsprechung“ eingehen.
Die Wanderausstellung „Justiz im Nationalsozialismus - Verbrechen im Namen des Deutschen
Volkes“, die hier im Landgericht gezeigt wird, will auf drei Schwerpunkte aufmerksam machen:
Die Dimension der Verbrechen, die Einstellung der Juristen und der erstaunlich große Handlungsspielraum der Richter. Die Ausstellung will eben nicht das, was ein Rechtsanwalt aus Bremen in das Gästebuch am 28. Februar 2002 eintrug:
„Hier können die guten Kinder und Enkel der bösen Väter und Großväter sich ordentlich entrüsten über so viel Unrecht von früher. Und morgen entrüsten sich die Kinder der Kinder über heutiges Unrecht!“
Es geht hier nicht um Anklage und Verurteilung, sondern um Aufklärung und Erinnerung. Die
Worte Richard von Weizsäckers haben auch heute noch Gültigkeit:
„Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der
Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.
Natürlich hat der Besucher recht, wenn er auf heutiges Unrecht zielt - und wir sind heute aufgerufen, den Ungerechtigkeiten in unserer Welt zu begegnen. Da muss sich eben jeder selbst an
die eigene Nase fassen!
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Das nationalsozialistische Rechtsverständnis hatte als Grundlage nicht mehr den Schutz des Einzelnen und die Gleichheit aller Bürger, sondern das ausschließliche Interesse der Volksgemeinschaft. Im Jahre 1932 bestand nach Hitler die Aufgabe der Justiz darin,
„das im nationalsozialistischen Staat sich vollziehende Gemeinschaftsleben unseres Volkes vor
destruktiven und damit diese Gemeinschaft schädigenden und bedrohenden Erscheinungen zu
schützen“.
Deshalb wurde für alle „Artfremden“, „Asozialen“, „Nichtarier“ und Behinderte, also die so genannten „Gemeinschaftsfremden“ bzw. „Fremdvölkischen“, die außerhalb der Gemeinschaft
gestellt wurden, Sonderrechte geschaffen. Der Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht an
der Uni Kiel, Prof. Dr. Karl Larenz1 gab 1935 zu Protokoll:
„Wer außerhalb der Volksgemeinschaft steht, steht auch nicht im Recht .....“
Der Staats- und Völkerrechtler Carl Schmitt,2 von 1921 bis 1945 Professor in Greifswald und
Berlin und bis 1936 der führende Rechtstheoretiker des NS-Regimes, verteidigte die RöhmMorde, trat für die Säuberung des deutschen Rechts vom „jüdischen Geist“ ein, trat für den „totalen Staat“ ein und rechtfertigte den NS-Angriffskrieg als „Raumrevolution“ und „Raumordnungskrieg“. Schmitt postulierte, dass der mit eigener, von der politischen Führung unabhängiger
Macht ausgestattete Richter nicht zum „Gegenführer oder Werkzeug eines Gegenführers“ werden
dürfe. So wurde dann die Richterschaft auf ein persönliches Treueverhältnis zu Hitler (seit dem
30. Juni 1934 „oberster Gerichtsherr des deutschen Volkes“) und ein rückhaltloses Eintreten für den
NS-Staat verpflichtet. Dazu passte natürlich der Ausruf Görings: „Das Recht und der Wille des
Führers sind eins!“3 Auch Prof. Dr. Ernst Rudolf Huber,4 Staatsrechtler an den Unis in Kiel, Leipzig
und Straßburg und Autor des führenden Lehrbuchs des NS-Verfassungsrechts wollte nicht hinten
anstehen und führte 1936 aus:
„ ..... [D]ie Freiheitsrechte des Individuums gegenüber der Staatsgewalt mußten verschwinden;
sie sind mit dem Prinzip des völkischen Rechts nicht vereinbar.“
Es sei „nicht möglich, die Gesetze des Führers an einer ihnen übergeordneten Rechtsidee zu
messen.“
Es war die „Führergewalt umfassend und total, [...] frei und unabhängig, ausschließlich und
unbeschränkt.“
In ihrem Kommentar zur deutschen Rassengesetzgebung behaupteten Wilhelm Stuckart und
Hans Globke5 1936:
„Das rassische Denken des Nationalsozialismus bedeutet [.....] eine Abkehr von
dem liberalistischen Grundsatz, von der Gleichheit aller Menschen.“
Und Dr. Hans Frank,6 Präsident der Akademie für Deutsches Recht führte 1937 aus:
„Der Strafvollzug im nationalsozialistischen Staat wird streng und gerecht, aber im Einklang
mit dem Volksgewissen durchzuführen sein. Er teilt sich in drei große Gebiete: Vernichtung des
gemeinen Verbrechers, Strafe des straffällig Gewordenen und Erziehung des Besserungsfähigen.“
Nun war es aber nicht so, dass die Richter in ihrem Ermessensspielraum beschnitten wurden, im
Gegenteil. Mit der Prämisse, rückhaltlos für den NS-Staat einzutreten, gewannen sie eine Entscheidungsbandbreite einmal durch die Möglichkeit „schöpferischer“ Rechtsgestaltung bei der
Konkretisierung des Volkswillens und andererseits durch Ausnutzung von Generalklauseln und
„Gummiparagrafen“.7 Als Beispiel sei hier nur die „Verordnung gegen Volksschädlinge“ (vom 5.
September 1939) aufgeführt, mit deren § 4 die meisten Todesurteile begründet wurden:
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„Ausnutzung des Kriegszustandes als Strafschärfung
Wer vorsätzlich unter Ausnutzung der durch den Kriegszustand verursachten außergewöhnlichen Verhältnisse eine sonstige Straftat begeht, wird unter Überschreitung des regelmäßigen
Strafrahmens mit Zuchthaus bis zu 15 Jahren, mit lebenslangem Zuchthaus oder mit dem Tode bestraft, wenn dies das gesunde Volksempfinden wegen der besonderen Verwerflichkeit der
Straftat erfordert.“
Die „Richt“schnur für die Juristen wurde also das „gesunde Volksempfinden“! Nicht der Tatbestand stand mehr im Vordergrund, sondern die Gesinnung des Täters und seine innere Einstellung gegenüber der Volksgemeinschaft. Die allgemeine Verschärfung des Strafmaßes zeigt sich
bei der Todesstrafe, die bis 1933 nur bei drei Straftatbeständen verhängt werden konnte. Bis
zum Ende des Krieges konnte man dann allerdings anhand von 46 Tatbeständen zum Tode verurteilt werden! Und die verhängten Todesurteile sprechen eine deutliche Sprache:
18.000 Todesurteile durch Zivilgerichte
25.000 Todesurteile durch Militärgerichte
ca. 40.000 Todesurteile durch Standgerichte gegen Ende des Krieges
Das bedeutet, dass ca. 80.000 rechtskräftige Todesurteile in 12 Jahren Nazi-Diktatur von Juristen
(also Täter im staatlichen Bereich) gefällt wurden.8 Vollstreckt wurden davon ca. 80%. Hinzu
kommen die „Todesurteile“, die an der Justiz vorbei hauptsächlich durch die Gestapo an
Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen vollstreckt wurden, die sogenannte „Sonderbehandlung“.
Angesichts dieser Dimension ist das Justizverbrechen im Nationalsozialismus nicht mehr mit der
Bezeichnung „Blutjustiz“9 zu charakterisieren. Im Vergleich dazu waren die 70.000 getöteten
Geisteskranke nicht Opfer einer „Blutpsychiatrie“, sondern dies war ein Massenvernichtungsprogramm!
Betrachtet man die 25 Jahre vor der „Machtergreifung“ (1907 bis 1932), dann bekommen die
oben genannten nüchternen Zahlen erst die richtige Bedeutung: 1.596 zum Tode Verurteilte,
von denen aber „nur“ 400 Personen hingerichtet wurden10 Im faschistischen Italien (1922 bis
1943), das immerhin 21 Jahre existierte, wurden 158 Todesurteile verhängt und nur die Hälfte
vollstreckt.
Was war also das Besondere an der deutschen Jurisprudenz? Waren es die so genannten deutschen „Tugenden“ wie Gründlichkeit, Ordnung und Pflichterfüllung? Oder nur die Tatsache, dass
der Mensch der größte Feind des Menschen ist und dass der Machtrausch die Sinne trübt? Oder
gehörten die Juristen, wie so viele Verwaltungsbeamte, ganz schlicht zum Prototyp des Schreibtischtäters?
Die Einstellung der Juristen zeigte sich deutlich in den harten Urteilen gegen Vertreter der linken
Parteien und großer Sympathie für die nationale Rechte. Die meisten Richter und Staatsanwälte
waren keine glühenden Nazis, Freisler war da die absolute Ausnahme. Die Juristen waren konservativ, deutschnational, trauerten dem Kaiserreich nach - und sie waren mehrheitlich total unpolitisch, auch wenn 90 Prozent aller Juristen im Staatsdienst in der NSDAP waren.11 Und sie
kamen aus einem gutsituierten, bürgerlichen Milieu. Da der Staat bewusst in der vierjährigen
Referendarzeit keine Gehälter zahlte, konnte nur eine gutbetuchte Familie ihren Sohn Jura studieren lassen. Begeistert unterstützte die Justiz die Hitler-Regierung, die eine „nationale Wiedergeburt“ und die Rückkehr zu obrigkeitsstaatlichen Verhältnissen proklamierte.12
Vergessen werden darf auch nicht, dass die Nazis ein Drittel der Juristen aus dem Staatsdienst
entfernten (Juden, „Republikaner“13). Das bedeutete, dass in der Justiz ein Rechtsruck stattfand,
bei dem die Demokratie auf der Strecke blieb. Es gab nach 1933 keinen einzigen demokratischen
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Staatsrechtler mehr! Gegen die Gesetze und Verordnungen, die gegen die Grundrechte verstießen, regte sich kein Widerstand. Spätestens am 3. Juli 1934 leistete sich die deutsche Justiz ihren
Offenbarungseid: mit dem „Ermächtigungsgesetz“ legalisierte der Reichsjustizminister Franz
Gürtner das Blutbad gegen Ernst Röhm und weitere SA-Führer in einem Akt von hinterherlaufendem Gehorsam.14
2. „Geschlechtsverkehr (GV) - Verbrechen“
Ich komme nun zu ausgewählten Straftaten die im Landgerichtsbezirk Verden verhandelt wurden. Für die kommenden Ausführungen erscheint es mir ganz wichtig darauf hinzuweisen, wie
schwierig es ist, so genannte Unrechtsurteile zu definieren bzw. von „Blutjustiz“ zu sprechen.
Kam es bei den Urteilen zur Rechtsbeugung mit Todesfolge (z. B. im bekannten Fall des polnischen Zwangsarbeiters Walerjan Wróbel, dessen Schicksal auch in der Wanderausstellung dokumentiert wird) oder zu Todesurteilen bei politischen Strafsachen, dann muss ganz klar von
Unrechtsurteilen gesprochen werden. Schwierig wird die Beurteilung, wenn es sich um Delikte
handelte, die auch noch nach dem Krieg unter gewissen Umständen zu einer Verurteilung führen
konnten. Schwierig ist es auch nachträglich zu beurteilen, ob es sich bei dem damals verhängten
Urteil um ein extrem hartes oder vielleicht sogar humanes Urteil gehandelt hat. In solchen Fällen
ist es wichtig, sich die Urteilsbegründung, falls noch vorhanden, vorzunehmen.
Ein typisches Vergehen war seit Kriegsbeginn der „Verbotene Umgang mit Kriegsgefangenen“.
Nach dem Überfall auf Polen und dem Arbeitseinsatz polnischer Kriegsgefangener in Deutschland war den Nazis klar, dass gemeinsames Arbeiten Gelegenheit und Anlass zu freundschaftlichen und intimen Verkehr geben könnte. In der „Verordnung zur Ergänzung der Strafvorschriften
zum Schutz der Wehrkraft des Deutschen Volkes“ vom 25. November 1939 hieß es:
㤠4 Verbotener Umgang mit Kriegsgefangenen
(1) Wer vorsätzlich gegen eine zur Regelung des Umgangs mit Kriegsgefangenen erlassene
Vorschrift verstößt oder sonst mit einem Kriegsgefangenen in einer Weise Umgang pflegt, die
das gesunde Volksempfinden gröblich verletzt, wird mit Gefängnis, in schweren Fällen mit
Zuchthaus bestraft.“
Das Oberkommando der Wehrmacht erließ im Januar 1940 einen Befehl, nach dem Kriegsgefangene bei sexuellem Verkehr mit deutschen Frauen mit Gefängnis bis zu zehn Jahren und unter
Umständen mit dem Tode bestraft werden sollten. Tatsächlich verurteilten die Militärgerichte
westeuropäische Kriegsgefangene anfangs nur mit 21 Tagen Arrest, dann aber in der Regel zu
drei Jahren Gefängnis. Bei polnischen Kriegsgefangenen wurde dagegen grundsätzlich die Todesstrafe verhängt („Sonderbehandlung“).
Im März 1940 folgte ein Erlass Himmlers über die Behandlung der polnischen Zivilarbeiter.
Konnte den Männern oder Frauen Geschlechtsverkehr („GV“) mit Deutschen nachgewiesen
werden, sollten sie dem Chef der Sipo und des SD zur Erwirkung einer „Sonderbehandlung“, also
Hinrichtung, gemeldet werden. Die deutschen Partner sollten in ein KZ eingeliefert werden.
„Die Festnahme soll jedoch eine geeignete Diffamierung dieser Person seitens der Bevölkerung nicht
unmöglich machen.“ Was Himmler darunter verstand, machte er in einem Schreiben vom gleichen Tag an Parteiführer Heß deutlich:
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„Ich halte vielmehr die Wirkung öffentlicher Diffamierungen für außerordentlich abschreckend
und habe keine Bedenken, wenn man z. B. deutschen Frauen wegen ihres ehrlosen Verhaltens
in Gegenwart etwa der weiblichen Jugend des Dorfes die Kopfhaare abschneidet oder sie mit
einem das Vergehen kennzeichnenden Schild durch das Dorf führt.“
Diese frauenfeindlichen Demütigungen, die erst im November 1941 verboten wurden, wurden
im umgekehrten Fall, also wenn einem deutschen Volksgenossen ein heimliches Liebesverhältnis
mit z. B. einer Polin nachgewiesen werden konnte, „natürlich“ nicht angewandt! Die spießige
Doppelmoral der Nazis zeigte sich auch in den Fällen, wo z. B. „Pg.s“ (Parteigenossen), Honorationen, Wachmänner und Lagerführer osteuropäische Zwangsarbeiterinnen als Freiwild betrachteten. Aber ganz ohne Strafe kamen die deutschen Männer nicht weg:
„Der deutsche Mann ist grundsätzlich auf die Dauer von drei Monaten einem Konzentrationslager zuzuführen, daneben können je nach Lage des Falles weitere staatspolizeiliche Maßnahmen oder Auflagen, z. B. Sicherungsgeld, Geldbuße an das Rote Kreuz usw. ergriffen werden.“
Die Fälle von Geschlechtsverkehr mit Ausländern wurden von den Richtern an den Sonder-,
Land- oder Amtsgerichten, auch unter den Berücksichtigung der Tatsache, dass jeder Fall individuell war, am Anfang völlig unterschiedlich beurteilt. Die Spanne der Verurteilungen der deutsche Partnerin reichte von zehn Jahren Zuchthaus (Ende 1939) bis vier Monaten Gefängnis
(1941). Danach erhielten die deutschen Frauen bei Geschlechtsverkehr mit Kriegsgefangenen in
der Regel eine Zuchthausstrafe von drei Jahren. Die Unterlagen lassen den Schluss zu, dass Frauen, die mit einem sowjetischen Staatsbürger oder mit einem Polen sexuellen Verkehr hatten, für
zwei bis drei Jahre in ein KZ eingeliefert wurden.
Polnische oder sowjetische Zwangsarbeiterinnen, die sexuelle Kontakte mit deutschen Männern
hatten, wurden auf unbestimmte Zeit in ein KZ eingeliefert. Es wurden aber auch Ausnahmen
gemacht:
„In den Fällen, in denen die fremdvölkische Arbeiterin zur Ausübung des Geschlechtsverkehrs
unter Ausnutzung eines Abhängigkeitsverhältnisses durch den deutschen Mann veranlasst
worden ist, ist sie kurzfristig (bis zu 21 Tagen) in Schutzhaft zu nehmen und nach der Haftentlassung an eine andere Arbeitsstelle zu vermitteln.“
Das Problem der Nazis war, dass sie aus Rücksicht auf die Bevölkerung im besetzten Westeuropa kein gesetzliches Verbot des sexuellen Verkehrs mit zivilen „Westarbeitern“ durchsetzen
konnten. Sehr zwiespältig wurde auch in der deutschen Bevölkerung die unterschiedliche Bestrafungspraxis wegen Geschlechtsverkehrs mit z. B. Franzosen zur Kenntnis genommen:
„Es werde in der Bevölkerung nicht verstanden, warum die Frau, die mit einem kriegsgefangenen Franzosen verkehre, zu einer Zuchthausstrafe verurteilt werden müsse, während eine andere Frau, die mit dessen Bruder, einem Zivilarbeiter, verkehre, straflos bleibe. Ein Verhältnis,
das unter Zuchthausandrohung stand, könne plötzlich dadurch zulässig werden, daß der Gefangene in ein ziviles Arbeitsverhältnis überführt werde. Dieser Unterschied sei auch innerlich
nicht berechtigt. Denn die gleiche Gefahr des Verrats militärischer oder wirtschaftlicher Geheimnisse bestehe beim Kriegsgefangenen wie beim Zivilarbeiter. Bei beiden bestehe auch die
gleiche biologische Gefahr.“
Im Untersuchungsgebiet kam es zu zahlreichen Verfahren wegen der so genannten „GVVerbrechen“. In den noch vorhandenen Unterlagen des Sondergerichts Hannover finden sich für
den Zeitraum 1942 bis 1944 insgesamt etwa 80 Verurteilungen, davon 12 Verfahren aus dem
Bereich des Landgerichtsbezirks Verden.15 Drei Verhandlungen das Sondergerichts Hannover
wurden sogar im Landgericht Verden abgehalten. Zusätzlich sind Unterlagen der Staatsanwaltschaft Verden zu 11 Fällen vorhanden, die vor dem Landgericht Verden in Sachen „Geschlechtsverkehr mit Kriegsgefangenen“ verhandelt wurden. Aber auch westeuropäische Zivilarbeiter, die
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mit einer deutschen Frau ein Liebesverhältnis hatten, wurden im Raum Verden verfolgt, obwohl
die NS-Behörden keine offizielle Handhabe gegen sie hatten. Zwei belgische und ein französischer Zwangsarbeiter wurden im Dezember 1943 und Januar 1944 in das Landgerichtsgefängnis
eingeliefert, jedoch nach zwei bzw. vier Wochen wieder entlassen - aber nicht an die alte Arbeitsstelle, sondern direkt an das Arbeitsamt für eine Umvermittlung. Insgesamt ergeben sich für
den Landgerichtsbezirk Verden 65 Fälle von verbotenem Geschlechtsverkehr mit deutschen
Frauen bzw. Kriegsgefangenen. Wie hoch die tatsächliche Zahl von Urteilen in den Kriegsjahren
war, darüber kann anhand der schlechten Aktenüberlieferung nur spekuliert werden.
Auch im Untersuchungsgebiet wurden den denunzierten Frauen, nachdem sie von der Gestapo
verhaftet worden waren, öffentlich die Haare abgeschnitten. Im Sommer 1940 musste ein Friseurmeister in Rotenburg/Wümme auf Befehl des NSDAP-Kreisleiters Christoph Bock bei der
19-jährigen Hausgehilfin M. H. dieses Werk öffentlich tun. Danach ließ dieser sie mit kahl geschorenem Kopf durch die Straßen führen. Die lokalen Zeitungen berichteten darüber. Sie habe
„Rassenschande“ begangen, da angeblich ihr Verhältnis mit dem polnischen Zwangsarbeiter Stanisław Klepacki Dorfgespräch in Bothel war. Beide wurden am gleichen Tag in das Landgerichtsgefängnis in Verden eingeliefert. Nach den Ermittlungen der „Sonderkommission Z“ des niedersächsischen Landeskriminalpolizeiamtes im Jahre 1965 verstarb sie im Februar 1944 an Hungertyphus im KZ Ravensbrück. Der Pole sollte im Mai 1941 in einem Wäldchen in Unterstedt erhängt werden. Der Amtsarzt des Kreises Rotenburg konnte die Hinrichtung verhindern, da er
anhand der erbbiologischen Kartei des Gesundheitsamtes feststellte, dass die deutsche H. aus
einer „schwer belasteten Sippe“ stammte:
„Ein Bruder und eine Schwester waren in den hiesigen Anstalten der Inneren Mission untergebracht und sind wegen angeborenen Schwachsinns sterilisiert worden. Ein dritter, schon verstorbener Bruder war ebenfalls Insasse der erwähnten Anstalten und litt gleichfalls an
Schwachsinn höheren Grades. Nach ihrem Lebenslauf - sie neigt trotz ihres jugendlichen Alters
zu häufig wechselndem Geschlechtsverkehr und hat einen deutschen Soldaten mit Tripper infiziert - und in Verbindung mit dem schlechten Erbgut, das bei ihr zu erwarten ist, ist die H. als
eine sittlich minderwertige Volksgenossin anzusehen. Es besteht durchaus die Möglichkeit,
dass sie dem Polen die strafbare Handlung sehr erleichtert und vielleicht sogar dazu verleitet
hat.“
Stanisław Klepacki wurde zu einer dreijährigen Zuchthausstrafe verurteilt, strafmildernd kam ihm
zugute, dass die H. als „geschlechtskranke Dirne“ angesehen wurde. Er kam in die Haftanstalt
Bremerhaven, wurde dann aber im August 1941 von der Gestapo in das KZ Neuengamme überführt! Am 1. August 1942 wurde er in das KZ Dachau überstellt. Aus der Dachauer Gefangenenliste geht hervor, dass er befreit wurde. Im Juli und August 1941 berichtete die örtliche Tageszeitung in Verden über weitere Fälle, wo Frauen die Haare abgeschnitten wurden.
Auch die 19-jährige Else Meyerhoff bekam keine Chance, sich vor einem Gericht gegen den
Vorwurf, Geschlechtsverkehr mit einem polnischen „Fremdarbeiter“ gehabt zu haben, zu verteidigen. Auf dem Hof der Familie B. in Jarlingen bei Walsrode wurde im Herbst 1941 der Geburtstag der Bäuerin, ihrer früheren Arbeitgeberin, gefeiert. In der Küche wurde getanzt und
auch die beiden polnischen Zwangsarbeiter, die auf dem Hof arbeiteten, waren anwesend. Und
der eine, Eugen, wollte mit ihr tanzen. Sie lehnte aber ab: „Wenn Hitler tot wär´, denn könnten
wir immer tanzen!“ Vier Tage später wurde sie von dem Hof ihrer Großeltern, wo sie arbeitete
und wohnte, abgeholt und zur Polizei nach Bomlitz gebracht. Dort wurde ihr eröffnet, dass ihr
Geschlechtsverkehr mit dem verheirateten Eugenius Lesniewski vorgeworfen würde. Der Mann,
der sie verhörte, setzte sie unter Druck und versprach ihr, wenn sie mit ihm intim würde, käme
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sie wieder frei. Sie ging darauf nicht ein, war aber so eingeschüchtert, dass sie auch später nicht
auf die Idee kam, zu ihrer Verteidigung einen Arzt zu verlangen, der ihre Jungfräulichkeit hätte
bestätigen können. Zwei Tage später wurde sie zusammen mit Lesniewski, von der Gestapo
Fallingbostel in das Landgerichtsgefängnis in Verden eingeliefert und „in Schutzhaft“ genommen.
Nach zehn Tagen wurden beide in das Landgerichtsgefängnis Lüneburg überführt. Nach weiteren sechs Wochen erfolgt für Else Meyerhoff, ohne Gerichtsverhandlung und Urteil, die Einlieferung in das KZ Ravensbrück. Eugenius Lesniewski wurde nach einem halben Jahr Haft am 9. April
1942 „entlassen, von Gestapo abgeholt“. Die „Rücküberstellung“ der Justiz an die Gestapo war
durchaus üblich. Entweder wurden die „entlassenen“ Häftlinge durch die Gestapo in ein KZ eingeliefert oder es erfolgte in kürzester Zeit die Exekution. Dieses Schicksal ereilte auch Lesniewski. Noch am gleichen Tag wurde er zum „Tatort“, auf den Hof seines ehemaligen Arbeitgebers B. in Jarlingen, gebracht und in einem nahe gelegenen Buchenwäldchen an einem Baum
erhängt. Einige hundert polnische Zwangsarbeiter, die bei der Eibia und Wolff & Co. in Bomlitz
arbeiteten, mussten der Exekution beiwohnen. Else Meyerhoff wurde nach fast dreieinhalbjähriger Haft, im Februar 1945 aus dem KZ Ravensbrück entlassen und kehrte zu ihren Großeltern
nach Jarlingen zurück. Aber die Dorfgemeinschaft hielt zusammen, sie erfuhr nie, wer sie denunziert hatte!
Die Schicksale der deutschen Frauen aus der Region, die „wegen verbotenen Umgangs mit Kriegsgefangenen“ angeklagt wurden, lassen sich anhand der erhalten gebliebenen Verfahren vor dem
Sondergericht Hannover und vor dem Landgericht Verden nachvollziehen. Im April 1944 setzte
der Oberstaatsanwalt als Leiter der Anklagebehörde bei dem Sondergericht Hannover, Dr.
Bergter, die Anklageschrift gegen die Ehefrau S. S. aus A. im Landkreis Verden auf. Sie hatte Anfang Juni 1943 beim Torfstechen Geschlechtsverkehr mit einem französischen Kriegsgefangenen
gehabt, der auf dem Hof ihrer Eltern arbeiten musste. Ihr Ehemann hatte sie im Februar 1944,
nachdem er von der Schwangerschaft seiner Frau erfahren hatte, beim Bürgermeister angezeigt.
Dieser informierte sofort die Gestapo in Verden. Die im achten Monat Schwangere gab den
Fehltritt zu und der Oberstaatsanwalt formulierte in seiner Anklageschrift.
„Die Angeschuldigte will sich heute nicht mehr erklären können, wie sie zu der Tat gekommen
ist. Sie meint, sie müsse eine schwache Stunde gehabt haben. Es soll zu keinem weiteren Geschlechtsverkehr gekommen sein. Die Tat der Angeschuldigten ist schamlos und einer deutschen
Kriegerfrau unwürdig. [...] Sie hat hierdurch vorsätzlich mit einem Kriegsgefangenen einer dem
gesunden Volksempfinden gröblich verletzenden Weise in einem schweren Falle Umgang gepflogen. Verbrechen nach § 4, Abs. 1 der Verordnung zur Ergänzung der Strafvorschriften zum
Schutze der Wehrkraft des deutschen Volkes vom 25.11.1939.“
Das „Sondergericht, Abt. 2, für den Oberlandesgerichtsbezirk Celle bei dem Landgericht in Hannover“
hatte in der Sitzung vom 15. Mai 1944 in Verden getagt und „Im Namen des deutschen Volkes“ die
„gestrauchelte“ Angeklagte mit einem Jahr Zuchthaus, der Mindeststrafe für einen schweren Fall,
und zu zwei Jahren Ehrverlust bestraft. Ihr wurde strafmildernd angerechnet, dass es nur zu einem einmaligen Geschlechtsakt gekommen sei, den sie reuevoll eingestanden hätte. Ihr Ehemann, der ihr verziehen hätte, wenn sie nicht schwanger geworden wäre, ließ sich scheiden.
Zwei Tage nach dem Urteil erreichte ihr Rechtsanwalt eine Verfügung, dass sie aus der U-Haft
entlassen werden musste, damit sie ihr inzwischen geborenes Kind stillen konnte. Im Juli 1944
beantragte er auf dem Gnadenwege die Umwandlung der Zuchthausstrafe in eine Gefängnisstrafe mit der Begründung, dass sie in A. den besten Ruf hätte und der Kriegsgefangene immer sehr
zudringlich war und die Verurteilte gequält hätte. Erst nach langem Drängen hätte sie nachgegeben. Am 1. März 1945 wurde die Verurteilte, ein Jahr nach der Verhaftung, aus dem Gefängnis
entlassen.
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Waren der Staatsanwaltschaft die vom Landgericht Verden gefällten Urteile zu mild, konnte sie
Revision beim Reichsgericht in Leipzig einlegen. Das Reichsgericht rügte aber meist keine Rechtsfehler, sondern teilte dem zuständigen Gericht gewöhnlich seine Vorstellungen von einem „gerechten“ Urteil mit. Zum Beispiel beurteilte das Landgericht Verden den einmaligen Geschlechtsverkehr der 31-jährigen Strohhülsenarbeiterin A. L. mit einem serbischen Kriegsgefangenen, obwohl sie geschwängert wurde, als keinen schweren Fall, da sie nur einmal schwach
geworden war und es zu keinem Liebesverhältnis gekommen war. Das Urteil vom 29. September 1944 lautete auf ein Jahr Gefängnis. Die Staatsanwaltschaft ging daraufhin beim Reichsgericht
in die Revision. Im Dezember beurteilte das Reichsgericht das Vergehen als schweren Fall und
bestand auf eine Strafe von einem Jahr Zuchthaus! Roland Freisler, der berüchtigte spätere Präsident des Volksgerichtshofes, versuchte auch schon im Jahre 1941 als Staatssekretär des Reichsjustizministeriums, Einfluss auf die Richterschaft zu nehmen. In seinen Schreiben an die OLGPräsidenten teilte er ihnen seine Rechtsauffassung zu Strafrechtsfällen mit, die in deren Bezirken
zu milde beurteilt wurden. Der Präsident des OLG Celle Adolf von Garßen, der zuvor die Entlassungen von prorepublikanischen Richtern unterstützt hatte, stellte sich hinter die Kritik Freislers und wies die Landgerichtspräsidenten an, dessen Stellungnahme allen Strafrichtern zur
Kenntnis zu bringen. Das Schreiben, das von Garßen an den Verdener Landgerichtspräsidenten
Lindemann verfasste, hatte folgenden Wortlaut:
„Sehr geehrter Herr Landgerichtspräsident!
Ein Strafgericht des hiesigen Bezirks hatte einen Polen, der die fünfzehnjährige Tochter eines
deutschen Bauern geschwängert hatte, wegen Vergehen gegen § 182 Strafgesetzbuches16 in
Tateinheit mit Beleidigung zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahre verurteilt und dabei in Übereinstimmung mit dem Sitzungsvertreter der Anklagebehörde das Vorliegen des § 4 der Volksschädlings-Verordnung17 verneint. Zu diesem Urteil hat Herr Staatssekretär Dr. Freisler mir gegenüber noch in folgender Weise Stellung genommen: Das Gericht habe zwar auf die Höchststrafe des § 182 des Strafgesetzbuches erkannt, doch könne nach Ansicht des Herrn Staatssekretärs diese Strafe keinesfalls als ausreichende Sühne für das Verhalten des Angeklagten angesehen werden. Eine angemessene Bestrafung des Angeklagten, dessen Tat Herr Staatssekretär Dr.
Freisler für todeswürdig hält, hätte sich nach Ansicht des Herrn Staatssekretärs unter Anwendung des § 4 der Volksschädlings-Verordnung erreichen lassen. Es sei zu berücksichtigen, dass
der Verurteilte nur aus Anlass des Krieges nach Deutschland gekommen und nur aus diesem
Grunde mit dem von ihm verführten Mädchen bekannt geworden sei. Es sei ferner in Fällen dieser Art zu berücksichtigen, dass der Pole ganz andere Verhältnisse vorfinde, als sie im Frieden in
Deutschland bestehen würden. So seien viele Männer im Wehrdienst, die Strassen seien viel
weniger belebt, die Polizei müsse vielfach mit Hilfskräften arbeiten, die Aufmerksamkeit der Bevölkerung sei infolge der intensiveren Arbeit, die insbesondere auch von Frauen geleistet werden
müsse, abgelenkt, sodass sie gar nicht in der Lage sei, wie in Friedenszeiten auf die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung mitzuachten. Alle diese Umstände würden in Fällen der vorliegenden Art oft ausschlaggebende Bedeutung gewinnen. Herr Staatssekretär Dr. Freisler weist
auf die unbedingte Notwendigkeit hin, dass die Strafgerichte, um ihrer Aufgabe zur Sicherung
des deutschen Volkes im Kriege gerecht zu werden, die in Deutschland beschäftigten Polen unter ein strenges und unnachsichtiges Recht stellen. Ich bitte Sie, Herr Landgerichtspräsident,
diese Stellungnahme des Herrn Staatssekretärs den in Betracht kommenden Strafrichtern in geeigneter Weise zur Kenntnis zu bringen."
Interessant ist, dass erst im Jahre 1969 der § 172 StGB (Ehebruch) aufgehoben wurde. Wurde
wegen dieses Deliktes die Ehe geschieden, konnte der schuldige Ehegatte sowie dessen Mitschuldiger mit Gefängnis bis zu sechs Monaten bestraft werden! In Bezug auf diese Rechtspraxis
kommen auch heute noch Juristen ins Grübeln, ob es sich denn wirklich bei den oben beschrie-
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benen Verurteilungen (ca. drei Jahre Zuchthaus) um Unrechtsurteile gehandelt haben könnte,
wenn auch noch nach dem Krieg der außereheliche Geschlechtsverkehr bestraft werden konnte.
3. Verurteilungen und Hinrichtungen von Zwangsarbeitern
Aufgrund meiner langjährigen Recherchen zum Thema „Zwangsarbeit im Regionalgebiet Verden“ konnte ich viele Schicksale einzelner Personen aufarbeiten. Hilfreich waren dabei auch die
Interviews mit Zeitzeugen hauptsächlich aus Osteuropa. Die im Staatsarchiv Stade erhalten gebliebenen Akten der Staatsanwaltschaft Verden dokumentieren Ermittlungen und Urteile zu Sabotage-Vorwürfen.
Der französische Zwangsarbeiter Louis Peponnet war 22 Jahre alt, als er im Juni 1944 wegen
Sabotageverdachts in Untersuchungshaft kam. Im September 1944 wurde er von der I. Großen
Strafkammer des Landgerichts Verden „wegen Störung eines Rüstungsbetriebes“ zu drei Monaten und zwei Wochen Gefängnis verurteilt. Er musste auch die Kosten des Verfahrens tragen.
Die Strafe galt durch die erlittene Untersuchungshaft als verbüßt. Er war bei der Eibia in Bomlitz
als Elektrokarren-Führer beschäftigt und war nach eigenem Geständnis am 20. April (!) mit einem von ihm gesteuerten und mit Pulverkisten beladenen Elektrokarren absichtlich in zwei
Holzschrauben gefahren. Dabei wurde die Bereifung beschädigt und musste ausgewechselt werden. Als strafmildernd sah das Gericht an, dass ein Arbeitsausfall für den Betrieb nicht eingetreten und lediglich ein Sachschaden von 3,-- RM entstanden war. Deshalb wurde seine Tat als weniger schwerer Fall angesehen und auf Gefängnisstrafe erkannt.
Für den 46-jährigen Niederländer Klaas van Land wurde am 12. September 1944 Haftbefehl erlassen, da er beschuldigt wurde, zwei Walzwerke durch mangelhafte Schmierung außer Tätigkeit
gesetzt zu haben. Am 11. Oktober 1944 wurde in öffentlicher Sitzung der I. Strafkammer des
Landgerichts Verden gegen ihn wegen „Wehrmittelbeschädigung“ verhandelt. Das Gericht verurteilte ihn zu drei Monaten Gefängnis. Die 23 Tage U-Haft wurden ihm auf die Strafvollstreckung
angerechnet. Die Reststrafe von 62 Tagen sollte er im Strafgefängnis Hannover verbüßen. Der
Strafantritt wurde auf den 8. November 1944 terminiert. In den knapp vier Wochen, die ihm
noch verblieben, arbeitete er weiterhin bei seiner alten Arbeitsstelle. Untergebracht war er im
Lager Loheide. Im Gnadenheft der Staatsanwaltschaft befindet sich ein Schreiben der Eibia in
Bomlitz:
„Die Verurteilung hat bei dem Holländer Klaas van Land derartig heilsam gewirkt, daß er jetzt
seine Pflicht geradezu vorbildlich erfüllt. Es wäre uns wegen der verschärften Einziehungsaktion angenehm, wenn der Strafantritt des v. Land verschoben werden könnte und zwar mit der
vorgenannten Begründung.“
Daraufhin wurde die Vollstreckung, unter Bewilligung einer Bewährungsfrist von drei Jahren, bis
zum 30. November 1947 ausgesetzt.
Am 25. August 1944 wurden die beiden französischen Staatsangehörigen Joseph Miclo (46 Jahre)
und Francis Rigoult (44 Jahre), die bei der Schießpulverfabrik Eibia in Dörverden als Zwangsarbeiter arbeiten mussten, verhaftet. Sie wurden in das Landgerichtsgefängnis Verden eingeliefert.
Der Bericht des Gendarmeriebeamten an die Gestapo Verden schilderte den Tathergang:
„Die Beschuldigten hatten das ihnen im Waggon zugestellte Pulver auf einer Siebmaschine zu
sieben. Hierbei wurden von den Beschuldigten von 28 Sack Pulver nur acht Sack Pulver gesiebt
und der Rest des Pulvers als gesiebt wieder zum Magazin zurückgeschickt. Nachträglich hatte
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sich ergeben, daß das Pulver von drei Waggons in der gleichen Form nicht gesiebt worden ist.
[...] Sabotage ist dadurch einwandfrei erwiesen.“
Die beiden Franzosen gaben an, dass sie keine schlechte Absichten verfolgt hätten, sondern nur
schneller fertig werden wollten. Sie sahen beide ein, dass sie sich strafbar gemacht hatten und
baten in Anbetracht ihrer Familienverhältnisse um ein mildes Strafmaß. Miclo gab an, dass er
Waisenkind sei, nie die Schule besucht hätte und weder lesen noch schreiben könnte. Er hatte
vier Kinder. Rigoult war auch verheiratet und hatte ein Kind. Beide wurden im August 1942 zum
Arbeitseinsatz zur Eibia geschickt. Sie beteuerten, von niemanden den Auftrag erhalten zu haben, das Pulver nicht zu sieben. In seinem Ermittlungsbericht schloss der Gestapo-Beamte zwar
nicht aus, dass die beiden nur aus Bequemlichkeit das Pulver nicht gesiebt hätten, äußerte aber
den dringenden Verdacht, dass sie die Pulverherstellung gefährden wollten, da durch das
Nichtsieben das Schießpulver unbrauchbar wurde. Auch Oberstaatsanwalt Foerster ermittelte
wegen Sabotage weiter. Über seine Ermittlungsergebnisse informierte er die Abwehrabteilung
des OKW in Berlin. Ein Sachverständiger des OKW erstellte ein geheimes Gutachten mit der
Feststellung, dass Pulver ein Wehrmittel im Sinne des § 143a StGB wäre und durch die Nichtsiebung auch eine Gefährdung der Schlagfertigkeit der deutschen Wehrmacht eingetreten sei, da
das ungemischte Pulver für 2 cm-Munition nicht frontverwendungsfähig sei. Die von den
Beschuldigten nicht gesiebte Pulvermenge betrug 2 bis 3 Prozent der Monatsproduktion im
Werk Dörverden. Der Gutachter kam zu dem Schluss, dass bei dieser Menge ein schweren Fall
im Sinne des § 143a StGB vorliegen würde. Im Dezember 1944 beantragte Oberstaatsanwalt
Foerster dann die Anordnung der Hauptverhandlung vor der Strafkammer des Landgerichts
Verden. Das Urteil lautete für beide auf acht Monate Gefängnis unter Anrechnung der erlittenen
U-Haft. Am 22. Februar 1945 wurden beide in das Strafgefängnis nach Hannover überstellt. Am
29. März 1945 verstarb dort Joseph Miclo im Alter von 47 Jahren. Francis Rigoult wurde auf
Anordnung der britischen Militärregierung am 10. April 1945 entlassen.
Auffallend ist, dass in vielen Fällen die Gestapo und die Staatsanwaltschaft die Taten als „Sabotage“ einstuften, die Richter aber diesen Vorwurf nicht immer übernahmen, sondern relativ moderat urteilten und strafmildernde Umstände in das Urteil einfließen ließen.
Hinrichtungen
Die letzten „amtlichen“ Hinrichtungen im Landgerichtsbezirk Verden fanden im Juli 1936 im Gefängnishof des Gerichtsgefängnisses in Verden statt. Der extra angereiste Scharfrichter aus Magdeburg köpfte einen zweifacher Polizistenmörder noch mit dem Handbeil. Die Vollstreckung
wurde noch am gleichen Tag mittels leuchtend roter Plakate in der Stadt publik gemacht. Für
den Oberlandesgerichtsbezirken Celle und Braunschweig und den Landgerichtsbezirken Oldenburg und Bremen war dann später der Vollstreckungsort für Hinrichtungen das Strafgefängnis
Wolfenbüttel; der zuständige Scharfrichter hatte seinen Sitz in Hannover. Die Hinrichtungsstätte
war ein Backsteingebäude in der Mitte des Komplexes des Strafgefängnisses, das seit 1990 eine
Gedenkstätte ist. Zwischen Oktober 1937 und März 1945 wurden dort über 600 Männer und
Frauen durch die Guillotine hingerichtet. Nach der Befreiung durch die Alliierten wurde dieser
Ort des Schreckens von der Militärregierung noch bis Juli 1947 für weitere 67 Hinrichtungen
genutzt.
Der Pole Jerzy Szernat war am 18. Juni 1940 aus der Kriegsgefangenenschaft in die Zwangsarbeit
zum Bauern Fritz Meyer im Dorf Scharnhorst, drei Kilometer von Verden entfernt, entlassen
worden. Am 20. Oktober 1941 wurde von der Gestapo Verden wegen Körperverletzung in das
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Landgerichtsgefängnis Verden eingeliefert. Zwei Tage später kam er in das Polizeigefängnis nach
Bremen. Das Sondergericht Hannover verurteilte ihn zwei Monate danach zum Tode:
„Pole zum Tode verurteilt
Scharnhorst, 4. Jan. Das Sondergericht in Hannover verurteilte den 26jährigen polnischen
Landarbeiter Georg Schernat aus Scharnhorst wegen Vergehens gegen § 4 der Volksschädlingsverordnung und wegen schwerer Körperverletzung zum Tode und zu den üblichen Nebenstrafen. Der Pole war bei einem Bauern in S c h a r n h o r s t beschäftigt und zeigte sich äußerst
rabiat und widerspenstig. Als ihm am 20. Oktober v. J. die Jungbäuerin Vorhaltungen machen
mußte, schlug er dieser aus Wut darüber mit einer gefüllten Kaffeeflasche über den Kopf.
Nicht genug damit, mißhandelte er dann auch die Altbäuerin durch Schläge, so daß sie erhebliche Wunden davontrug. In der Verhandlung war er geständig: er wollte in Erregung gehandelt
haben.“
Ein halbes Jahr später, am 2. Juni 1942, wurde Jerzy Szernat in Wolfenbüttel hingerichtet.
Ein besonders dunkles Kapitel stellen die halb-öffentlichen Hinrichtungen dar, die außerhalb von
Zwangsarbeiterlagern vollzogen wurden und an denen häufig Landsleute zwecks Abschreckung
teilnehmen mussten. Die so genannte „Sonderbehandlung“ („SB“) war im Sprachgebrauch der SS,
der Gestapo, aber auch im Reichsjustizministerium eine Umschreibung für Mord. Der Chef der
Sipo und des SD definierte die „Sonderbehandlung“ kaum 20 Tage nach Kriegsausbruch zum ersten Mal. In seinem Erlass hieß es, dass in den Fällen unterschieden werden solle
„zwischen solchen, die auf dem bisher üblichen Wege erledigt werden können und solchen,
welcher eine Sonderbehandlung zugeführt werden müssen. Im letzteren Falle handelt es sich
um solche Sachverhalte, die hinsichtlich ihrer Verwerflichkeit, ihrer Gefährlichkeit oder ihrer
propagandistischen Auswirkung geeignet sind, ohne Ansehung der Person durch rücksichtslosestes Vorgehen (nämlich durch Exekution) ausgemerzt werden.“
Die Gestapo konnte also ohne Gerichtsbeschluss Hinrichtungen vornehmen. Eine öffentliche
Hinrichtung unter Hinzuziehung von polnischen Zwangsarbeitern fanden beim Schützenplatz im
„Daverdener Holz“ im Dorf Daverden, zehn Kilometer von Verden entfernt, statt. Der 21jährige Stanisław Rutkowski musste im Gaswerk in Verden arbeiten. Der drei Jahre ältere Feliks
Puchalski hatte seit Juli 1942 beim Schuhmachermeister Kothe in Verden gearbeitet. Marian
Królikowski war bei seiner Verhaftung 20 Jahre alt und arbeitete bei der „Norddeutschen Zementfabrik“ in Verden. Alle drei wohnten in der Baracke an der Hafenstraße. Zu dritt stiegen sie
im Januar 1944 nachts in den Keller eines Bauernhauses in Daverden ein um Lebensmittel zu
stehlen. Sie wurden aber gefasst:
„Diebische Polen festgenommen
Daverden. 26. Jan. In der letzten Nacht schlichen sich Diebe in das Haus eines Bauern in unserem Orte ein. Gestohlen wurde das Eingemachte (Pökelfleisch) eines Schweines. Die Beute
holten die Diebe aus dem Keller. Offenbar haben die Diebe versucht, noch auf zwei anderen
Stellen einen Raubzug zu unternehmen. Auf dem einen Gehöft scheinen sie durch den Hofhund verscheucht zu sein; in dem anderen Falle blieb es auch bei einem Diebstahlsversuch.
Das gestohlene Fleisch verstauten sie in Säcken, die auf einem Gehöft entwendet worden sind
und wollten die Beute in der folgenden Nacht wegschaffen. Der Diebstahl ist inzwischen schon
aufgeklärt worden. Täter sind drei in Verden in Arbeit stehende Polen. Einer von den Gaunern
konnte bereits im Landgebiet von der Gendarmerie festgenommen werden; seine beiden Mittäter sind in Verden von der Polizei verhaftet worden. Das Fleisch konnte dem Bestohlenen zurückgegeben werden.“
Die Aufklärung der Straftaten erfolgte durch die Kriminalpolizei sowie durch Gendarmeriebeamte des Kreises Verden. Im Februar 1944 wurden sie in das Arbeitserziehungslager (AEL) Bremen-Farge überführt. Die „Sonderbehandlung“ wurde nach Vorlage der Akten durch die Gestapo
in Bremen von Himmler angeordnet. Nach sechs Wochen Haft im AEL wurden die drei Polen im
März 1944 an den Tatort ihres letzten Einbruchs gebracht. Der Standesbeamte des Standesam12
tes Daverden trug den Tod der drei Polen in das Sterbebuch ein und notierte als Todesursache
„Exekution“ mit dem Zusatz „angezeigt durch den Landrat in Verden, 23.03.44“. Auch die Uhrzeit
beim Eintritt des Todes wurde für alle drei penibel festgehalten: „8 Uhr 55 Minuten“.
4. Das Plünderungs-Sondergericht Verden
Über dieses Sondergericht war in Verden lange Zeit nichts bekannt. Bislang gab es darüber keine
zusammenfassende Darstellung. Meine Forschungen führten dann zu einigen Aktenstücken im
Hauptstaatsarchiv Hannover. Die Akten zu den Urteilen, die hauptsächlich am Amtsgericht in
Wesermünde (heute Bremerhaven) gefällt wurden, konnten dort bisher nicht gefunden werden.
Die einzig erhalten gebliebene Abschrift eines Urteils befindet sich in der Gefangenenakte der
Hingerichteten Klara Moses.
Im Juni 1942 ermächtigte eine vertrauliche Rundverfügung des Reichsjustizministeriums die Oberlandesgerichtspräsidenten, Sondergerichte an Ort und Stelle einzurichten. Es handelte sich
dabei um ad hoc eingesetzte Plünderungs-Sondergerichte, die nach alliierten „Terrorangriffen“
Plünderer sofort mit der Todesstrafe nach § 1 der „Volksschädlingsverordnung“ vom 5. September
1939 aburteilen sollten. Eine Woche später bestimmte der Celler Oberlandesgerichtspräsident
von Garßen die Errichtung von Plünderungs-Sondergerichten in Cuxhaven (Landgerichtsbezirk
Stade) und Wesermünde (identisch mit Bremerhaven) im Landgerichtsbezirk Verden. Am 9. November 1943 wurde der Sitz des Plünderungs-Sondergerichts von Wesermünde nach Verden
verlegt. Im Januar 1945 kam es zu einer personellen Umsetzung des Plünderungs-Sondergerichts
Verden: Landgerichtsdirektor Lindenberg in Verden wurde zum Vorsitzenden und u. a. wurde
Landgerichtsdirektor Dr. Quentin in Wesermünde zum 2. stellvertretenden Vorsitzenden ernannt.
Die ersten Opfer wurden im Juli 1944 das Ehepaar Moses. Sie wohnten in Wesermünde in einem
Mietshaus, das bei einem Angriff der Alliierten vollständig zerstört wurde. Während des Bombenalarms hielten sie sich in der Bude in ihrem Schrebergarten auf und überlebten. Am nächsten
Tag suchten sie mit zwei Überlebenden nach ihren Habseligkeiten. Dabei nahmen sie auch einige
Kleidungsstücke und Haushaltsgegenstände mit auf ihr Gartengrundstück, das den umgekommenen Nachbarn gehört hatte. Sie wurden denunziert und vom Plünderungs-Sondergericht Verden
zum Tode verurteilt.18 Die Leser des Verdener Anzeigenblattes wurden über den Sachverhalt
aufgeklärt und der Artikel endete mit dem Satz:
„Die Bevölkerung wird mit Genugtuung von diesem gerechten Urteil Kenntnis nehmen,
denn sie weiß, daß mit ehrlosem Verbrechergesindel unbarmherzig aufgeräumt wird.“
Vier Wochen später wurden beide innerhalb von drei Minuten in Wolfenbüttel mit dem Fallbeil
hingerichtet. Der 41 Jahre alte Ewald Sbresny, der bereits wegen Diebstahl vorbestraft war, hatte im Oktober des gleiches Jahres aus einem beschädigten Gebäude 55 Dosen Fischkonserven
gestohlen. Auch er wurde vom „Sondergericht Verden, das in Wesermünde tagte“, aufgrund der
„Volksschädlingsverordnung“ zum Tode verurteilt. Die Presse konstatierte:
„Sie schließen sich durch ihre niederträchtige Handlungsweise als Volksschädlinge von selbst aus
der Volksgemeinschaft aus. Es kommt nicht darauf an, was, sondern daß geplündert wurde. Der
Wert des Diebesgutes spielt dabei keine Rolle.“
Hier finden Sie die Schlagwörter wieder, mit denen ich eingangs den Jura-Professor Larenz zitierte: „Wer außerhalb der Volksgemeinschaft steht, steht auch nicht im Recht.“ Auch Sbresny wurde fünf Wochen nach der Urteilsverkündung im Strafgefängnis Wolfenbüttel hingerichtet. Direkt
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nach ihm wurde die ebenfalls als Plünderin zum Tode verurteilte 19-jährige Erna Wazinski geköpft. Ihr Schicksal und das Wiederaufnahmeverfahren in den Jahren 1952 und 1991 (Freispruch)
können Sie in der Wanderausstellung nachlesen. Der Plünderungsprozess gegen das Ehepaar
Woldeck, das einen Gasherd, einen Küchentisch und zwei Stühle aus einem zerstörtem Nachbarhaus im September 1944 entwendet hatte, konnte erst durch das Sondergericht Hannover,
das in Wesermünde tagte, am 2. April 1945 abgeschlossen werden. Das war ihr Glück, denn die
Todesurteile konnten wegen der Kriegslage nicht mehr vollstreckt werden. Am 15. März fand in
Wolfenbüttel die letzte Hinrichtung statt und am 8. Mai 1945 kapitulierte Deutschland.
In den 60er Jahren veranlasste das Niedersächsische Justizministerium eine Recherche zum
„Sondergericht Verden“. Damit betraut wurden zwei Staatsanwälte (Oberstaatsanwalt Dr. Pfleiderer am OLG Celle und Erster Staatsanwalt Rogalla am Landgericht Verden), die selbst während
des Krieges als Staatsanwälte an Sondergerichten in Brünn und Stettin Todesurteile beantragt
hatten! Ihrer Karriere nach dem Krieg tat dies, wie Sie später noch hören werden, aber keinen
Abbruch! Rogalla befragte nun den inzwischen pensionierten Oberstaatsanwalt Foerster und der
behauptete, dass es in Verden nie ein Sondergericht gegeben hätte - obwohl er als oberster Vertreter der Anklagebehörde die Zuständigkeit für das Plünderungs-Sondergericht Verden hatte!
5. Das Erbgesundheitsgericht Verden
Die Tätigkeit der Erbgesundheitsgerichte (ErbGG) an den Amtsgerichten und der Erbgesundheitsobergerichte (ErbGOG) an den Oberlandesgerichten war gesetzlich geregelt. Für den Landgerichtsbezirk Verden war das Erbgesundheitsgericht Verden am Amtsgericht Verden und für
den OLG-Bezirk Celle das Erbgesundheitsobergericht Celle zuständig. Die Entscheidungen der
Erbgesundheitsobergerichte, bestehend aus zwei Ärzten und einem Mitglied des Oberlandesgerichtes, war endgültig. Eine Erweiterung stellte das „Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des
deutschen Volkes (Ehegesundheitsgesetz)“ aus dem Jahre 1935 dar: es konnte eine Eheschließung
versagt werden, wenn ein Gesundheitsamt das so genannte „Ehetauglichkeitszeugnis“ verweigerte. Die Durchsicht der Entscheidungen verschiedener Erbgesundheitsgerichte und des ErbGOG
Celle legt es nahe, dass eine erhebliche Willkür in der Beurteilung der Patienten an den Tag gelegt wurde. Für die Fälle wurden durchschnittlich 15 bis 30 Minuten pro Fall aufgewendet. Am
ErbGG Verden lag der Schnitt sogar bei drei Minuten. In einem Tätigkeitsbericht des Vorsitzenden des ErbGOG Celle vom 2. Mai 1936 wurde über den Zeitaufwand berichtet:
„Es wurden zunächst 40 sitzungsreife Sachen aufgespeichert, dann zu einer bestimmten Sitzung
vorgesehen, den ärztlichen Beisitzern vor der Sitzung zu gründlicher Durchsicht zugeleitet und
dann in beratender Sitzung besprochen. Ergaben sich Zweifel über das Vorliegen der Erbkrankheit, so ist in den meisten Fällen Anstaltsbeobachtung angeordnet, in anderen Fällen sind sonstige Beweisaufnahmen beschlossen. Von der persönlichen Anhörung der Unfruchtbarzumachenden ist jedenfalls grundsätzlich abgesehen, weil der Wert einer solchen Anhörung für die Feststellung der Krankheit hier nicht als erheblich angesehen wurde. [...] Bei diesem Verfahren war
es möglich gewesen, etwa 40 Sachen ohne Schwierigkeiten in einer Nachmittagssitzung durchzuberaten, die Beschlüsse konnten dann in verhältnismäßig kurzer Zeit erledigt werden.“
Der Vorsitzende des ErbGG Verden war Dr. Görges. In seinem Schreiben vom 1. Dezember
1936 nahm er Stellung zu einer Verfügung des Verdener Landgerichtspräsidenten vom 19. November 1936 betr. „Entschädigung mittelloser Unfruchtbarzumachender bei gerichtlicher Vorladung“:
14
„Der Ansicht, dass die Unfruchtbarmachung eine Strafe sei begegnet man immer wieder. Vielfach wehren sich die Leute auch nur deshalb gegen die Unfruchtbarmachung, weil sie die Kosten
nicht bezahlen können und sie müssen immer wieder darauf hingewiesen werden, dass sie die
ihnen entstehenden Kosten ersetzt bekommen können.“19
Von den Patienten der „Rotenburger Anstalten der Inneren Mission“20 waren in den Jahren 1934
bis 1944 307 von einem Sterilisationsverfahren vor dem Erbgesundheitsgericht Verden betroffen. Nur drei Verfahren endeten mit der Ablehnung der Unfruchtbarmachung! Für die BewohnerInnen war das Verfahren bereits mit der Antragstellung durch den Anstaltsarzt entschieden
worden. Deshalb kam es nur in ganz wenigen Fällen zu einer Beschwerde beim ErbGOG in Celle gegen das ErbGG Verden.
Die typische Praxis der Unfruchtbarmachung gegenüber den BewohnerInnen der „Rotenburger
Anstalten“ soll hier am Schicksal des Friedrich G. geschildert werden. Er wurde als 15-Jähriger in
die Einrichtung 1935 eingewiesen. Der Kreisarzt aus Verden stellte in seinem Gutachten fest:
„G. ist am 26.6.1920 unehelich geboren. Er hat viele Jahre die hiesige Hilfsschule besucht, hat
aber nur mangelhafte Schulkenntnisse [...] Über der rechten Stirn vom Fall aus der Bodenluke
alte Narbe. Verwaschene Sprache, zeitweise Stottern. Allgemeiner geistiger Besitz sehr gering.
[...] G. leidet an Schwachsinn erheblichen Grades. Es läßt sich diesseits bei dem Fehlen seiner
Vorgeschichte die Frage nicht entscheiden, ob der Schwachsinn angeboren ist oder nicht . (Fall
aus der Bodenluke).“
Friedrich wurde nach seiner Aufnahme umgehend dem Amtsarzt als „erbkrank“ gemeldet. Der
Stiefvater beantragte für ihn eine Beurlaubung für die Weihnachtstage. Der Direktor der Anstalt
verweigerte den Urlaub mit der Begründung, dass alle Patienten, die unter das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses fallen, nicht eher beurlaubt werden dürfen, bevor sie nicht
sterilisiert wurden. Die Eltern lehnten dies aber ab. 1937 stellte der leitende Arzt der Anstalt den
Antrag auf Unfruchtbarmachung beim ErbGG Verden mit der folgender Begründung:
„Die Leiter der Rotenburger Anstalten haben die Unfruchtbarmachung des Friedrich G. beantragt. Die Mutter [...] ist schwach begabt. Eine Halbschwester [...] ist als schwachsinnig bezeichnet, ein schwebendes Unfruchtbarmachungsverfahren ist ausgesetzt. Über Krankheiten des
Friedrich G. ist nichts ermittelt. [...] Die Diagnose des Anstaltsarztes lautet: angeborener
Schwachsinn höheren Grades. Nach dem ärztlichen Gutachten in Verbindung mit dem Entwicklungsgang des G., dem Ergebnis der Intelligenzprüfung sowie in Rücksicht auf eine offenbar vorliegende Belastung, steht fest, dass Friedrich G. an angeborenem Schwachsinn leidet, zumal
keinerlei Ursachen dafür hervorgetreten sind, dass der Schwachsinn auf äußere Ursachen, wie z.
B. den Fall aus der Bodenluke, zurückzuführen ist. Da auch zu erwarten ist, dass Friedrich G.
seinen Schwachsinn gegebenenfalls weiter vererbt, war seine Unfruchtbarmachung geboten.“
Das Gesundheitsamt Rotenburg teilte dem Heim am 28. April 1937 mit, dass der Beschluss
rechtskräftig geworden war. Die Sterilisation erfolgte am 2. Mai im Krankenhaus des Diakonissen-Mutterhauses. Nur einen Monat später wurde Friedrich G. als Arbeitskraft zu einem Bauern
entlassen. Er überlebte das „Dritte Reich“ und wurde 1949 vom Wittekindshof bei Bad Oeynhausen aufgenommen.
Sterilisationen wurden an den BewohnerInnen der Einrichtung auch gegen ihren Willen oder den
des Vormundes durchgeführt. Der jüngste Bewohner der Anstalt, der im Krankenhaus des Diakonissen-Mutterhauses sterilisiert wurde, war Willi M. Er kam Anfang 1938 mit zehn Jahren in
das Rotenburger Heim und ihm wurde bereits in diesem Jahr mehrfach der Urlaub verweigert.
Im Juni stellte die Anstaltsleitung einen Antrag auf Unfruchtbarmachung beim ErbGG Verden,
15
obwohl der Vater die gewünschte Ermächtigung verweigerte. Das ErbGG Verden beschloss die
Sterilisation im September 1938. Da der Vater sich aber weigert, der Sterilisation zuzustimmen,
wurde die Durchführung der Unfruchtbarmachung entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres (21. Juni 1941) vertagt. Das bedeutete für das Kind,
dass es seine Eltern in den Ferien nicht besuchte durfte. Im März 1939 resignierte der Vater
schließlich und stimmt der Sterilisation zu, die am 2. Mai 1939 im Alter von 11 Jahren durchgeführt wurde!
Nach 1945 lagen zunächst dem Oberamtsrichter Dr. Görges keine Anträge auf Wiederaufnahme
des Erbgesundheitsverfahrens vor. Da das ErbGG Verden bereits am 1. Dezember 1944 geschlossen wurde und die Akten an das ErbGG Hannover mit dem Sitz in Celle abgegeben worden war, erschien es sinnvoll, dass derartige Anträge aus dem Landgerichtsbezirk Verden direkt
nach Celle geschickt wurden.
Im September 1947 wurde eine Verordnung erlassen, dass die Amtsgerichte zuständig wurden,
in deren Bezirk das ErbGG, dessen Verfahren wieder aufgenommen werden sollte, seinen Sitz
hatte. Für den Landgerichtsbezirk Verden wurde daher das Amtsgericht Verden für Wiederaufnahmeverfahren zuständig. Die Mitglieder und ihre Stellvertreter wurden direkt durch den Landgerichtspräsidenten und die ärztlichen Mitglieder auf Vorschlag der höheren Verwaltungsbehörde ausgesucht. Bestellt wurden dann in Verden der Amtsarzt und ein in Verden approbierter
Arzt. Im Oktober 1947 wurde Dr. Görges, ehemaliger Vorsitzender des ErbGG Verden, zum
Vorsitzenden der Abteilung am Amtsgericht Verden berufen, die sich mit Entschädigungsfragen
in Wiederaufnahmeverfahren von Erbgesundheitssachen zu befassen hatte!! Einen Monat später
legte die britische Militärregierung Wert darauf, dass zur Bezeichnung der mit den Wiederaufnahmeverfahren in Erbgesundheitsfällen befassten Gerichte unter keinen Umständen der Ausdruck „Erbgesundheitsgerichte“ verwandt wurde, da von einer Wiedereröffnung der ErbGG nicht
gesprochen werden könne. Der Oberlandesgerichtspräsident ordnete deshalb an, dass die
Abteilungen der Amtsgerichte, die mit derartigen Wiederaufnahmeverfahren befasst waren,
einheitlich die Bezeichnung „Amtsgericht - Abteilung für Wiederaufnahmeverfahren in
Erbgesundheitssachen“ zu führen hätten.
6. Lebensläufe von Juristen am Landgericht Verden
Erich Lindenberg21
Er wurde im Jahre 1881 geboren, sein Vater war Kaufmann. Im Jahre 1910 machte er sein 2.
Staatsexamen in Berlin. Bis 1914 war er Staatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft Lüneburg. Von
1914 bis 1917 war er als Kriegsgerichtsrat im Heeresdienst. Danach wurde er als Landgerichtsrat
beim Landgericht Lüneburg und für ein Jahr als Hilfsrichter am OLG Celle tätig. Im Jahre 1927
kam er dann als Landgerichtsdirektor und Amtsgerichtsrat an das Landgericht Verden. Zum 1.
Mai 1933 trat er in die NSDAP und ein paar Monate später in den NS-Juristenbund ein. Spätestens ab 1936 wurde er „Förderndes Mitglied der SS“. Sein Mitgliedsbeitrag betrug 1,-- RM monatlich. Zum 1. April 1942 wurde er zum Ständigen Vertreter des Landgerichtspräsidenten befördert. Noch im Januar 1945 erfolgte die Ernennung zum Vorsitzenden des „PlünderungsSondergerichts Verden“. Weder seine Mitgliedschaft in der SS noch sein Vorsitz beim PlünderungsSondergericht wurde ihm nach dem Krieg zum Nachteil ausgelegt, im Gegenteil: für die Zeit von
Juli 1945 bis Januar 1946 wurde er durch die britische Militärregierung mit der Führung der Ge16
schäfte des Landgerichtspräsidenten beauftragt, da der ehemalige Landgerichtspräsident Hermann Lindemann (1938 bis 1945) sofort im April 1945 durch die Briten interniert wurde.22 Erich
Lindenberg war auch als Vorsitzender an mindestens fünf Prozessen wegen „Verbotenen Umgangs mit Kriegsgefangenen“ beteiligt. Sein Entnazifizierungsverfahren in Stade endete1947 mit
der Einstufung in Kategorie V, und das bedeutete „Entlastet“!23 Im gleichen Jahr wurde Lindenberg dann mit 65 Jahren pensioniert.
Dr. Ernst Quentin24
Er wurde 1883 in Posen geboren. Sein Vater war Oberst, seine Mutter die Tochter eines Straßenbahndirektors. Im Jahre 1911 machte er in Berlin sein 2. Staatsexamen. Während des gesamten 1. Weltkrieges war er als Oberleutnant der Reserve in der Matrosen-Artillerie-Abteilung in
Lehe. Von 1919 bis 1924 war er Mitglied in der Deutschnationale Volkspartei (DNVP), die konservative und nationalistische Gruppen, die im Kaiserreich wurzelten, vereinte. Nach dem Krieg
bekam er einen Posten als Staatsanwaltschaftsrat in Geestemünde (heute Bremerhaven) und
1930 wurde er Landgerichtsdirektor in Hannover. Im April 1933 wurde er Mitglied der NSDAP
und zum 1. Mai 1933 auch „Förderndes Mitglied der SS“, er unterstützte die SS mit monatlich 2,-RM. Ab Kriegsbeginn bis 1940 war er „Marinekriegsgerichtsrat zur Verfügung“ in Wilhelmshaven,
Swinemünde und Wesermünde. Danach kam er als Hilfsrichter zum Amtsgericht Wesermünde.
Im Januar 1945 erfolgte die Ernennung zum 2. Stellvertretenden Vorsitzenden und Stellvertreter
der Beisitzer des Plünderungs-Sondergerichts Verden beim Amtsgericht Wesermünde. Seine
dienstlichen Beurteilungen waren eindeutig: „Er ist entschlusskräftig und verantwortungsbewusst
und bestrebt, im Sinne der Gerechtigkeit und des neuen Reiches Recht zu sprechen [...] Er steht uneingeschränkt auf dem Boden des heutigen Staates.“25 „Für die Belange des heutigen Staates tritt er
rückhaltlos ein.“26 Die amerikanische Militärregierung (Enklave Bremen, Bremerhaven) entließ
nach dem Krieg sofort die Juristen, die in der NSADAP waren. In Wesermünde waren das von
sechs Richtern fünf, darunter Quentin. Auch nach seinem Umzug nach Hannover lehnte die britische Militärregierung seine Wiedereinstellung in den Justizdienst ab. Zum Verhängnis wurde ihm
der Umstand, dass er „Förderndes Mitglied der SS“ gewesen war. Die Alliierten leiteten daraus
vermutlich eine SS-Mitgliedschaft ab, die aber faktisch nicht bestanden hatte. Seine Tätigkeit am
Plünderungs-Sondergericht Verden war den Behörden offensichtlich nicht bekannt, sie spielte
auch im Entnazifizierungsverfahren keine Rolle. Im Dezember 1945, mit 62 Jahren, beantragte er
die Versetzung in den Ruhestand unter Gewährung der gesetzlichen Bezüge. Aber auch dies
wurde ihm abgelehnt. Im April 1948 reiht ihn die Entnazifizierungsspruchkammer Bremerhaven
als „Mitläufer“ ein. Die „Geldsühne“ betrug immerhin 1.000,-- RM. Acht Monate später wurde er
mit 65 Jahren unter Gewährung der Bezüge pensioniert.
Gustav Foerster
Er wurde 1882 in Halberstadt geboren und war Oberstaatsanwalt und Leiter der Staatsanwaltschaft am Landgericht Verden.27 Ich hatte ja bereits Foerster im Zusammenhang mit dem Plünderungs-Sondergericht Verden erwähnt. Interessant sind nun seine Aussagen nach dem Krieg zu
seiner Parteimitgliedschaft. In dem Entnazifizierungsverfahren gegen Seeling, dem Leiter der
Gestapo-Stelle in Verden, behauptete Foerster in seinem „Persilschein“ für Seeling, dass er,
Foerster, vom damaligen Gauleiter Telschow zum Parteieintritt gezwungen wurde. In seiner
Personalakte befindet sich aber ein umfangreicher Schriftwechsel über seine Bestrebungen, in
die NSDAP einzutreten. Im Januar 1936 stellte Foerster zum ersten Mal einen Antrag auf Mitgliedschaft. Dieses Gesuch wurde aber abgelehnt. Erst durch Interventionen des Generalstaatsanwalts in Celle und des Gauleiters Telschow wurde Foerster am 1. Mai 1937 Parteigenosse!
17
7. Karrieren von NS-Juristen nach 1945 am Landgericht Verden
Fünf Juristen, die während des 2. Weltkrieges an Sondergerichten tätig waren, machten nach
dem Krieg in Verden fast unbehelligt Karriere. Es handelte sich dabei um Willi Harzmann (Erster
Staatsanwalt am Volksgerichtshof in Berlin), Hans Rogalla (Staatsanwalt am Sondergericht Stettin)
und Dr. Rolf Pfleiderer (Staatsanwalt am Sondergericht Brünn und Prag). Diese drei Juristen
wirkten nachweislich an Todesurteilen mit. Über sie habe ich ausführliche Biografien veröffentlicht.28 Zu den beiden anderen NS-Juristen habe ich noch keine Recherchen unternommen. Ob
sie auch an Todesurteilen beteiligt waren, ist bislang nicht belegt. Sicher ist, dass Dr. Hermann
Hagemann Erster Staatsanwalt am Sondergericht Hannover und Dr. Hans-Karl von Hagens Oberstabsrichter bei der Wehrmachtskommandantur Berlin war und beide namentlich in der einschlägigen Literatur als „NS-Juristen“ geführt werden.
Willi Harzmann29
Er wurde im Jahre 1907 in Hildesheim als Sohn eines Studienrats (Prof. Dr.) geboren und machte
sein 2. Staatsexamen 1933 in Berlin. Als „Maikäfer“ trat er am 1. Mai 1933 in die NSDAP und in
die SA ein. In den Jahren 1933-1937 war er an verschiedenen Staatsanwaltschaften im OLGBezirk Celle tätig. 1938 erhielt er dann eine Stelle als Staatsanwalt beim Landgericht Berlin. Von
1942 bis Kriegsende war er dann Erster Staatsanwalt bei der Reichsanwaltschaft beim Volksgerichtshof in Berlin. In dieser Zeit war er an 618 Prozessen beteiligt, davon 312 Todesurteilen!
Nach dem Krieg wurde er von den Amerikanern für ein Jahr interniert aber nicht angeklagt.
Nach seiner Entlassung war er von 1946 bis 1948 Lagerverwaltung bei einer britischen Dienststelle in der Nähe von Hameln. Sein Entnazifizierungsverfahren endete mit der Einstufung in die
Kategorie IV („Mitläufer“). Mit dieser „Auszeichnung“ wurde er als Staatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft Hannover wieder in den Staatsdienst aufgenommen. Im Juni 1950 wurde noch die
Entscheidung der Entnazifizierungsspruchkammer korrigiert: Einstufung in Kategorie V = „Entlastet“! Von 1953 bis zu seinem Tod (er wurde 53 Jahre alt) im Jahre 1960 war er als Landgerichtsrat beim Landgericht Verden tätig.
Die braune Vergangenheit hatte ihn allerdings 1957 eingeholt. In der Zeitung „Die Tat“, einer
Publikation der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ (VVN) wurden unter der Überschrift „Wie lange will Bonn schweigen?“ sechs NS-Juristen namentlich genannt, darunter auch
Harzmann, der Todesurteile gegen fünf Tschechen beantragt haben sollte. Im Zusammenhang
mit einem Ermittlungsverfahren gegen drei ehemalige Richter des Volksgerichtshofes wurde
auch gegen Harzmann wegen „vorsätzlicher Tötung, Rechtsbeugung und schwerer Freiheitsberaubung“ ermittelt. Harzmann war damals im Prozess gegen den Schriftsteller Dr. Kaufmann und
den Kunstmaler Will (Abhören von Feindsendern) der Anklagevertreter und beantragte für beide
die Todesstrafe, die dann auch ausgesprochen wurde. Will wurde hingerichtet und Kaufmann zu
acht Jahren Zuchthaus begnadigt. Die Staatsanwaltschaft konnte sich bei ihren Ermittlungen auf
ein Verfahren des Bundesgerichtshofes von 1956 stützen, das den weiblichen Lockspitzel, der
damals in den Kaufmann-Will-Kreis eingeschleust wurde, verurteilt hatte. In diesem BGH-Urteil
kamen die Richter zu dem Schluss, dass die Verurteilung und Hinrichtung Wills eine vorsätzliche
rechtswidrige Tötung unter dem Deckmantel der Strafrechtspflege gewesen sei. Eine derartige
„Rechtsanwendung“ als Terrorinstrument habe nur „der Vernichtung des politischen Gegners gedient und den unantastbaren rechtlichen Kernbereich verletzt“. Die Verhängung der Todesstrafe sei
18
willkürlich und grausam gewesen. Die Staatsanwaltschaft Darmstadt schloss sich dem Urteil des
BGH an:
„Nach dieser Beurteilung des Sachverhalts durch den Bundesgerichtshof muß davon ausgegangen werden, daß mindestens die Mehrzahl der Mitglieder des Volksgerichtshofes im vorliegenden
Fall das Recht bewußt gebeugt und in Tateinheit damit ein vorsätzliches Tötungsverbrechen [...]
begangen hat.“
Bei der Prüfung der Frage, ob sich nun Harzmann durch seine Mitwirkung in der Hauptverhandlung (Antragstellung) der Beihilfe schuldig gemacht habe, musste beachtet werden, dass Beihilfe
die vorsätzliche Unterstützung eines rechtswidrigen und vorsätzlichen Verbrechens voraussetzte. Harzmann hätte deshalb nachgewiesen werden müssen, dass er davon ausgegangen sei, der
VGH werde die damaligen Angeklagten nicht nach Recht und Gesetz aburteilen, sondern vorsätzlich das Recht beugen. Hierzu müsste Harzmann mit Wissen und Willen Hilfe geleistet haben.
Dies stellte er aber entschieden in Abrede. Die Staatsanwaltschaft schloss daher die Akten:
„Es kann dem Beschuldigten auch nicht nachgewiesen werden, daß er selbst eine Rechtsbeugung und eine widerrechtliche Tötung der Angeklagten aus politischen Motiven gewollt oder gebilligt habe. Anhaltspunkte, die eine solche Vermutung nahelegen könnten, haben sich in der
Person des Beschuldigten nicht ergeben. [...] Das Verfahren war daher mangels Nachweises einer strafbaren Handlung einzustellen.“
Hans Rogalla
Er wurde im Jahre 1901 im Kreis Bromberg als Sohn eines Bürgermeister i. R. geboren. Ein begnadeter Jurist scheint er nicht gewesen zu sein, schaffte er doch die erste Staatsprüfung erst
nach zweimalige Wiederholung mit „ausreichend“. In Berlin legte er dann 1930 das 2. Staatsexamen ab und kam danach zur Staatsanwaltschaft Stettin. 1941 wurde er Erster Staatsanwalt und
wurde mit dieser Ernennung auch Abteilungsleiter am Sondergericht Stettin. Politisch hatte er
schon früh Farbe bekannt: Von 1919 bis 1920 war er Mitglied des Marburger Studentenkorps.
Im März und April 1920 war er Zeitfreiwilliger und Teilnehmer an der Niederwerfung des kommunistischen Aufstandes in Thüringen! Der SA und NSDAP gehörte er seit 1933 an. Am Ende
des Krieges wurde er wegen seiner Parteizugehörigkeit entlassen. Er zog mit seiner Familie nach
Lüneburg und bewarb sich dort um die Wiederverwendung als Staatsanwalt. Die britische Militärregierung lehnte aber eine Beschäftigung ab, da er in die „Kategorie der zwangsweise Entfernten“ gehörte und sein Entnazifizierungsverfahren noch nicht abgeschlossen war. Nachteilig wirkte sich auch die Beurteilung seines Vorgesetzten aus, der in seiner Personalakte vermerkte: „für
politische Strafsachen besitzt er ein besonderes Fingerspitzengefühl.“ 1947 wurde er dann in die
Kategorie IV („Mitläufer“) eingereiht. Mit diesem „Zeugnis“ bewarb er sich wieder und hatte
Erfolg: er wurde Staatsanwalt in Hannover, später in Hildesheim und Lüneburg - und bearbeitete
wieder politische Fälle. 1948 ließ er seinen „Einreihungsbescheid“ überprüfen, um mit zusätzlichem Beweismaterial die Unrichtigkeit der früheren Entscheidung zu widerlegen. Der Ausschuss
ging noch einmal kurz auf seine NS-Mitgliedschaften und seine Tätigkeit am Sondergericht Stettin
ein und stufte ihn, wie auch Willi Harzmann, in die Kategorie V ein! Entlastung gemäß Kategorie
V setzte nicht nur Passivität voraus, sondern aktiven Widerstand und dadurch erlittene Nachteile! Im Jahre 1956 erfolgte dann die Beförderung zum Ersten Staatsanwalt beim Landgericht Verden.
Im Jahre 1963 wurde auch er von seiner dunklen Vergangenheit eingeholt. Kein Geringerer als
Walter Ulbricht prangerte in einer DDR-Fernsehansprache Rogalla als Verbrecher an, der führende Gewerkschaftsfunktionäre ins Zuchthaus und KZ geschickt hatte. Der damalige Vorsitzende der ÖTV, Adolph Kummernuß, war 1936 von Rogalla vor dem Sondergericht Stettin ange19
klagt worden, weil er Beziehungen zu Gewerkschaften anderer Länder unterhielt. Von den Richtern des Sondergerichts wurde er dann zu einer langjährigen Zuchthausstrafe verurteilt. Einen
Monat nach Ulbrichts Rede wurden die Vorwürfe gegen Rogalla in der Bremer Zeitschrift „Neues Echo“ aufgegriffen und ein paar Wochen später sogar in Verden Flugblätter verteilt mit der
Forderung: „Treten Sie ab, Herr Rogalla!" Im November 1962 erschien dann ein Artikel in dem
DDR-Organ „Neues Deutschland“, in dem Rogalla sechs Todesurteile zur Last gelegt wurden.
Das Niedersächsische Justizministerium sah aber keinen Handlungsbedarf, da dem Ministerium
im Fall Rogalla keine Anhaltspunkte vorlagen, dass er an Todesurteilen mitgewirkt hatte. In einer
1964 von der DDR veröffentlichten Publikation soll Rogalla an 29 Todesurteilen mitgewirkt haben. Bereits 1963 hatte die Staatsanwaltschaft Bückeburg begonnen, gegen Rogalla wegen Begünstigung im Amt und Rechtsbeugung zu ermitteln. Obwohl Akten auftauchten, in denen Rogalla seinerzeit in einem Verfahren die Anklageschrift dem Reichsjustizministerium übersandte mit
dem Vermerk „Ich beabsichtige, die Todesstrafe zu beantragen.“ Die Staatsanwaltschaft Bückeburg
machte sich die Argumentation Rogallas zu eigen, die damals im Verfahren vorgeschlagene Todesstrafe sei eine rein innerdienstliche Vorlage an das Reichsjustizministerium gewesen. Und
deshalb könne daraus nicht kausal die schließliche Vollstreckung des Todesurteils abgeleitet werden. Mit der Einstellungsverfügung aus dem Jahre 1965 endete das Ermittlungsverfahren gegen
Rogalla. Hans Rogalla verstarb 1974 im Alter von 73 Jahren.
Dr. Rolf Pfleiderer
Er wurde 1912 in Wuppertal geboren und schloss 1939 seine 2. Staatsprüfung in Berlin mit „gut“
ab. Noch in seiner Studentenzeit trat er als „Maikäfer“ am 1. Mai 1933 der NSDAP und im Oktober der „Allgemeinen SS“ bei. Anschließend kam er als Assessor an die Staatsanwaltschaft nach
Brünn, der damals zweitgrößten Stadt der ehemaligen Tschechoslowakei.30 1941 wurde er
Staatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft am Landgericht Brünn. Bis 1942 war er auch beim Sondergericht Brünn für Kapitalverbrechen und zur Bekämpfung von Gewohnheitsverbrechern zuständig. Ende 1942 wurde er zur Wehrmacht eingezogen und kämpfte als Leutnant und Kompanieführer in Sardinien. Im April 1945 geriet er in Gefangenschaft. Nach seiner Entlassung bewarb
er sich um eine Einstellung in den niedersächsischen Justizdienst und leitete sein Entnazifizierungsverfahren ein, das mit seiner Einstufung in die Kategorie IV („Mitläufer“) endete. 1946 lehnten aber die britischen Militärbehörden eine Wiedereinstellung ab mit den Hinweis auf seine Tätigkeit am Sondergericht und seiner damaligen Parteimitgliedschaft.31 So musste er sich zunächst
nach einer anderen Tätigkeit umsehen und er erhielt auf einer Domäne in der Nähe von Hannover eine Arbeit als Hilfsarbeiter und Flurhüter. Im Laufe der Zeit wurde aber die Entnazifizierungspraxis der Alliierten immer liberaler, da die Personaldecke in der Justiz sehr knapp war. In
der britischen Zone kam es zum so genannten „Huckepack-Verfahren“: Mit einem unbelasteten
durfte zugleich ein formell belasteter Jurist eingestellt werden. Aber auch diese Regelung erwies
sich als zu eng. Ab Juli 1936 konnten alle in den Justizdienst zurückkehren, die in ihrem Entnazifizierungsverfahren als „Entlastet“ eingestuft worden waren. Ein weiterer alliierter Liberalisierungsschub kam 1947/48. Wie Harzmann und Rogalla konnte jetzt Pfleiderer eine Überprüfung
seines ersten Entnazifizierungsbescheides beantragen. Im August 1948 erhält er endlich das ersehnte Dokument für den Aufbau seiner Karriere: „Es wird festgestellt, daß der Betroffene den
Nationalsozialismus nicht unterstützt hat. Er gilt als entlastet (Kategorie V). Kosten 20,-- DM.“ Interessant ist, dass die Tätigkeit Pfleiderers am Sondergericht Brünn bei diesem Verfahren nicht
einmal zur Kenntnis genommen wurde. Im März 1949 erhielt er dann die Stelle eines Staatsanwaltes bei der Staatsanwaltschaft des Landgerichts Verden. 1958 wurde er dann Erster Staatsanwalt beim OLG Celle und 1965 kam dann die Beförderung zum Oberstaatsanwalt. Aber auch
Pfleiderer wurde „geoutet“. Der „Verband der Antifaschistischen Widerstandskämpfer der Tsche20
choslowakei“ erstattete 1960 beim Justizminister des Landes Niedersachsen Strafanzeige, u. a.
auch gegen Pfleiderer, der in der Kriegsverbrecherliste der CSR aufgeführt wurde. Seine Beteiligung an mind. sechs Todesurteilen konnten ihm nachgewiesen werden (Verurteilungen aufgrund
des § 4 der „Volksschädlingsverordnung“). Es wurde ein Ermittlungsverfahren gegen Pfleiderer
eingesetzt, das aber noch im gleichen Jahr eingestellt wurde. Wie bei Harzmann und Rogalla hatten die Ermittlungen keine dienstrechtlichen Konsequenzen. Dr. Rolf Pfleiderer verstarb 1997.
Wie bereits in meinem Vortrag eingangs erwähnt, waren die meisten Juristen keine glühenden
Nazis, keine blutrünstigen Richter. Prof. Dr. Ulrich Vultejus, pensionierter Richter, charakterisierte einmal seine Kollegen, und auch das sollte man nicht vergessen - es war damals eine rein
männliche Justiz:
„Von den Richtern und Staatsanwälten, die Hitlers Todesmaschinen bedienten und nach dem
Kriege - rückgratlos hinter der jeweiligen Regierung und treu auf dem Boden der wechselnden
Verfassungen - ihr Amt fortgeführt haben, habe ich viele gekannt. Bei allen Unterschieden: Es
waren bürgerlich konservative Bildungsbürger mit gepflegten Umgangsformen, gewissenhaft, ordentlich, oft kollegial. Es war keiner unter ihnen, dem auch nur ein Hauch von Zweifeln an seiner Vergangenheit anzumerken gewesen wäre. Ihre Vergangenheit blieb verschlossen. Nur einmal habe ich einen von ihnen sprechen hören. 1952 höhnte der Staatsanwalt Pfleiderer, der als
Staatsanwalt an den Sondergerichten Prag und Brünn an Todesurteilen beteiligt war, von seiner
Anwesenheit bei Hinrichtungen während des Krieges in Wien über die Kollegen, denen anschließend das Mittagessen nicht geschmeckt habe. Ich sehe ihn noch heute auf dem ausgelaugten
Dielenfußboden des Flurs der Staatsanwaltschaft in Verden stehen. Ich habe oft über diese Szene nachgedacht. Kann es sein, daß er vor sich selbst beweisen wollte, daß er vor sich selbst beweisen wollte, er habe die Zeiten seelisch heil überstanden?“
21
Literatur
Der Autor
Klaus Bästlein, Sondergerichte in
Norddeutschland als Verfolgungsinstanz, in:
Frank Bajohr, Hg., Norddeutschland im
Nationalsozialismus, Hamburg 1993 (=
Forum Zeitgeschichte, Bd. 1) S. 218-238
Helmut Kramer, Plädoyer für ein Forum zur
juristischen Zeitgeschichte, hg. v. Forum Justizgeschichte. Vereinigung zur Erforschung
und Darstellung der deutschen Rechts- und
Justizgeschichte des 20. Jhts e.V., Bremen
1998
Wolf-Dieter Mechler, Kriegsalltag an der
„Heimatfront“. Das Sondergericht Hannover, Hannover 1997
Joachim Woock, Die letzten öffentlichen Hinrichtungen im Raum Verden, in: Landkreis
Verden (Hg.): Heimatkalender für den Landkreis Verden 1997, Verden 1996, S. 42-65
Joachim Woock, „Festnahme! ...weil ihm Sabotageakte zuzutrauen sind“. Widerstand von
Zwangsarbeitern, Regionalbeispiele Niedersachsen, Praxis Geschichte, H. 3., Braunschweig 1994, S. 34-38.
Joachim Woock, NS-Juristen nach 1945 in
Verden (Teil 1): Landgerichtsrat Wili Harzmann, in: Landkreis Verden (Hg.): Heimatkalender für den Landkreis Verden 1997, Verden 1996, S. 257-273
Joachim Woock, NS-Juristen nach 1945 in
Verden (Teil 2): Erster Staatsanwalt Hans
Rogalla, in: Landkreis Verden (Hg.): Heimatkalender für den Landkreis Verden 1998,
Verden, 1997, S. 260-283
Joachim Woock, NS-Juristen nach 1945 in
Verden (Teil 3): Oberstaatsanwalt Dr. Rolf
Pfleiderer, in: Landkreis Verden (Hg.): Heimatkalender für den Landkreis Verden 1999,
Verden, 1998, S. 292-312.
Joachim Woock, „Wegen staatsfeindlicher
Betätigung“. Politische Schutzhäftlinge aus
dem Landkreis Verden 1933/34 und 1944, in:
Landkreis Verden (Hg.): Heimatkalender für
den Landkreis Verden 2002, Verden 2001, S.
311-325.
Joachim Woock, geb 1951 in Berlin, Dipl.Ing. für Nachrichtentechnik. Studium Lehramt an Berufsbildenden Schulen für Elektrotechnik und Politik an der TU Berlin. Seit
1980 Studienrat an der Berufsbildenden
Schule Verden.
1992 Gründung des Fördervereins Regionalgeschichte des Landkreises Verden 19331945 e.V. (Vorsitzender). Umfangreiche
Veröffentlichungen zu regionalgeschichtlichen Themen wie der NS-Geschichte (Justiz, Verfolgung von Minderheiten, z.B.
ZwangsarbeiterInnen) und der Verfolgung
von Minderheiten in der Frühen Neuzeit
(Hexenverfolgung im Bistum/Herzogtum
Bremen-Verden).
Außerdem erschienen in dieser Reihe
•= :... am 11. April 1945 befreit: Das Strafgefängnis Wolfenbüttel und die Justiz im Nationalsozialismus. Rede von Dr. Rainer Litten am 11. April 2000 anlässlich des 55. Jahrestages der Befreiung der Gefangenen des Strafgefängnisses Wolfenbüttel
•= Das juristische Erbe des „Dritten Reiches“ – Beschädigungen der demokratischen Rechtsordnung.
Vortrag von Prof. Dr. Joachim Perels im Amtsgericht Hannover am 5. April 2001
•= Zur Theorie und Praxis des Sondergerichtes Bremen. Vortrag von Dr. Hans Wrobel am 28. Juni
2001 im Landgericht Oldenburg (z. Zt. im Druck)
•= Erich Schiff und Ernst Löwenstein – zum Schicksal jüdischer Rechtsanwälte in Oldenburg im Dritten Reich. Vortrag von Dr. Ulf Brückner am 7. Juni 2001 im Landgericht Oldenburg
•= Warum gab es nur so wenige, die Courage zeigten? Rede des Niedersächsischen Justizministers
Prof. Dr. Christian Pfeiffer am 27. Juli 2001 im Oberlandesgericht Celle
•= Das „gesetzliche Unrecht“ der NS-Justiz und die Bedeutung der demokratischen Rechtsordnung –
Rede von Dr. Rainer Litten am Vorabend des 9. November 2001 im Landgericht Göttingen
•= Senatspräsident am Oberlandesgericht Celle: Das Schicksal des Dr. Richard Katzenstein. Vortrag
von Dr. Brigitte Streich am 2. August 2001 im Oberlandesgericht Celle
•= Die Staatsanwaltschaft im Dritten Reich als „gegebene Lenkungsbehörde“. Vortrag von Prof. Dr.
Hinrich Rüping am 8. November 2001 im Landgericht Göttingen
•= Judenverfolgung in Hannoversch Münden: Der Fall Erwin Proskauer 1939. Vortrag von Dr. Johann Dietrich von Pezold am 29. November 2002 im Landgericht Göttingen
•= Bestrafung der „Rechtsschänder“ – eine Herausforderung für den demokratischen Rechtsstaat
nach dem Ende diktatorischer Systeme. Vortrag von Prof. Dr. Peter Steinbach am 30. August
2001 im Oberlandesgericht Celle
Weitere Hefte sind in Vorbereitung.
Dieser Vortrag erscheint zur Wanderausstellung „Justiz im Nationalsozialismus – Über Verbrechen im
Namen des Deutschen Volkes“, die seit Januar 2001 in niedersächsischen Gerichten gezeigt wird:
Amtsgericht Hannover:
27. Januar bis 17. April 2001
Landgericht Oldenburg:
8. Mai bis 6. Juli 2001
Oberlandesgericht Celle:
27. Juli bis 4. Oktober 2001
Landgericht Göttingen:
8. 11.2001 bis 14.1.2002
Landgericht Verden:
27. Januar bis 27. März 2002
Landgericht Braunschweig:
15. April bis 18. Juni 2001
Weitere Ausstellungsorte in den Jahren 2002 bis 2004:
9. bis 20. September 2002:
Nds. Landesvertretung in Berlin
9. Nov. 2002 bis 12. Jan. 2003:
Landgericht Osnabrück
27. Januar bis 23. März 2003:
Landgericht Lüneburg
28. März bis 16. Mai 2003:
Landgericht Bückeburg
23. August bis 13. Oktober 2003:
Amtsgericht Papenburg
8. Nov. 2003 bis 16. Jan. 2004:
Landgericht Stade
ab 27. Januar 2004:
Amtsgericht Nordenham
1
Karl Larenz (*1903) war einer der wichtigsten NS-Theoretiker im Zivilrecht und der Rechtsphilosophie; ab 1960 Professor in
München.
2
Carl Schmitt (*1888 †1985) war zwar nach 1945 ohne Amt, hatte aber trotzdem in der Bundesrepublik noch großen Einfluss.
3
Hermann Göring (*1893 †1945) am 30.06.1934 an die Leiter der preußischen Staatsanwaltschaften.
4
Ernst Rudolph Huber (*1903 †1990) war von 1962-1968 Professor in Göttingen und Verfasser der „Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 in 7 Bd.“
5
Der Jurist Hans Globke (*1898 †1973) war von 1932-1945 Ministerialrat im Reichsinnenministerium. 1949 trat er auf Wunsch
Adenauers als Staatssekretär in das Bundeskanzleramt ein.
6
Hans Frank (*1900 †1945) gründete 1928 den „NS-Rechtswahrerbund“ und war 1933/34 bayerischer Justizminister; seit 1939
Generalgouverneur im Generalgouvernement (Polen).
7
Das Delikt „Rassenschande“ (Geschlechtsverkehr zwischen Christen und Juden bzw. osteuropäischen Zwangsarbeitern) war
„nur“ mit Zuchthaus bedroht, trotzdem wurden Todesurteile ausgesprochen!
8
Ab der Kriegswende 1942 wurden jeden Monat 720 Personen zum Tode verurteilt!
9
Als „Blutrichter“ bezeichnete im Kalten Krieg die ehemalige DDR bundesdeutsche Juristen, die Todesurteile beantragt oder
verhängt hatten und wieder im Staatsdienst tätig waren. Erst 1995 kam der Bundesgerichtshof zu der Auffassung, dass der Begriff
„Blutjustiz“ nicht zu Unrecht benutzt werden kann.
10
Im 1. Weltkrieg gab es nur 291Todesurteile im Zivil- und Militärbereich!
11
Bereits kurz nach der „Machtergreifung“ hatte ein Landgerichtsrat die Haltung seines Berufsstandes zusammengefasst: „Der
deutsche Richter ist immer unpolitisch gewesen [...] Das schließt aber nicht aus, dass er sich der machtvollen deutschen Freiheitsbewegung aus überzeugtem Herzen anschließt [...] Es ist selbstverständlich, dass er den Staat, dessen Gesetze er anwendet, so wie er jeweils
besteht, ohne Einschränkung anerkennt.“
12
Vgl. Erklärung des Präsidiums des Deutschen Richterbundes und des Preußischen Richtervereins vom 19./20.3.1933, zehn
Wochen nachdem Hitler Kanzler wurde!
13
Die Nazis verstanden darunter Demokraten, Liberale und Sozialdemokraten, die sich für die Weimarer Republik einsetzten.
14
Vorausgegangen waren z. B. die „Reichstagsbrandverordnung“ (28.2.33). Marinus van der Lubbe wurde wegen Brandstiftung
zum Tode verurteilt, obwohl nach dem Gesetz auf Brandstiftung nicht die Todesstrafe stand! Das rechtsstaatliche Prinzip „keine
Strafe ohne Gesetz“ wurde hier aufgehoben. Das Reichsgericht mogelte mit der juristischen Spitzfindigkeit, dass dieses Prinzip
nur auf die Strafbarkeit (Straftatbestand Brandstiftung gab es natürlich schon vor dem Reichstagsbrand) zutreffe. Die rückwirkende Erhöhung des Strafmaßes könne dagegen der Gesetzgeber jederzeit beschließen („lex van der Lubbe“)! Der Einwand, dass
doch der Täter wissen müsse, mit welcher Strafe er zu rechnen habe, ließ man nicht gelten.
15
Alle 12 Frauen wurden wegen Geschlechtsverkehrs mit ausschließlich serbischen, belgischen und französischen Kriegsgefangenen angeklagt und verurteilt.
16
StGB § 182 Verführung (bis 1994 in Kraft): Zu der Höchststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe konnte derjenige verurteilt
werden, der ein Mädchen unter sechzehn Jahren dazu verführte, mit ihm den Beischlaf zu vollziehen.
17
Verordnung gegen Volksschädlinge vom 5.9.1939, § 4: „Ausnutzung des Kriegszustandes als Strafschärfung. Wer vorsätzlich unter
Ausnutzung der durch den Kriegszustand verursachten außergewöhnlichen Verhältnisse eine sonstige Straftat begeht, wird unter Überschreitung des regelmäßigen Strafrahmens mit Zuchthaus bis zu 15 Jahren, mit lebenslangem Zuchthaus oder mit dem Tode bestraft,
wenn dies das gesunde Volksempfinden wegen der besonderen Verwerflichkeit der Straftat erfordert.“ (RGBl 1939 I, S. 1679).
18
Vorsitzender Richter war Landgerichtsrat Dr. Meyer, Beisitzer waren die beiden Amtsgerichtsräte Dreyer und Heitmann und
für die Staatsanwaltschaft der Staatsanwalt Busch.
19
Schreiben des Vorsitzenden der ErbGG Verden vom 1.12.36 an den Landgerichtspräsidenten des LG Verden; Generalakten
des Landgerichts Verden betr. Wohlfahrtspflege im allgemeinen, 62, Bd. 1 (1936-1950), Bl. 8.
20
Seit 1996: „Rotenburger Werkstätten der Inneren Mission“.
21
Personalakte Erich Lindeberg, Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover, Hann. 173, Acc. 57/98, Nr. 229 I und 229 II.
22
Auf Hermann Lindemann wird hier nicht eingegangen, seine Biografie ist in der Ausstellung dokumentiert.
23
Entnazifizierungsakte Erich Lindenberg, Niedersächsisches Staatsarchiv Stade, Rep. 275 II, Nr. 35621.
24
Personalakte Dr. Ernst Quentin, Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover, Hann. 173, Acc. 57/98, Nr. 231 I und Nr. 231
II.
25
Beurteilung durch den Landgerichtspräsidenten des Landgerichts Hannover, 1.12.1938; ebd.
26
Beurteilung durch den Landgerichtspräsidenten des Landgerichts Hannover, 4.1.1943; ebd.
27
Da seine Biografie in der Ausstellung dokumentiert ist, wird hier nur kurz auf seine Entnazifizierung eingegangen.
28
s. Literaturliste im Anhang.
29
Auf Willi Harzmann wird hier nur kurz eingegangen, da seine Biografie in der Ausstellung dokumentiert ist.
30
Im März 1939 hatte Hitler völkerrechtswidrig die „Rest-Tschechei“ (die deutschen, polnischen und ungarischen Siedlungsgebiete waren bereits abgetrennt und den jeweiligen Staaten angegliedert worden) als „Protektorat Böhmen und Mähren“ (zu dem auch
Brünn gehörte) direkt dem Deutschen Reich angegliedert und einem dem deutschen Einfluss ausgelieferten „Schutzstaat“ Slowakei errichtet.
31
Mit der Direktive Nr. 24 des Alliierten Kontrollrats sollten Nationalsozialisten und Personen, die den Bestrebungen der Alliierten feindlich gegenüberstehen, aus Ämtern und verantwortlichen Stellungen entfernt werden. Das hatte zur Folge, dass ca. 90
Prozent des Justizpersonals ihre Anstellung verloren. In Bremen fanden die Amerikaner nur zwei Juristen, die ihren Richtlinien
genügten.
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